177 B5

Von Olaf Urban-Rühmeier

Am Mittwoch begegnete Jan seinem Doppelgänger. Er hatte ihn lange nicht gesehen. Er war älter geworden, aber Jan erkannte ihn beim genauen Hinsehen. Es ging ihm nicht gut.

Jan war an diesem Mittwoch 36 Jahre alt. Er wirkte auf seine Umgebung immer noch jugendlich. Er hörte oft, dass er auch leicht zehn Jahre jünger sein könnte. Gelegentlich dachte er, was ist so schlecht daran, 36 zu sein? Bin ich eine stehengebliebene Uhr und das Kompliment ist gar keins?

Ein Doktortitel in Soziologie gab ihm etwas Halt. Er hatte seine Arbeit über Identitätsgrenzen von Systemen verfasst, kein Smalltalk-Thema. Gelegentlich starrte er auf die gedruckte Ausgabe seiner Arbeit, im Regal über seinem Schreibtisch und fragte sich, was das war und wer das geschrieben hatte.

Jan war seinem Doppelgänger beim Wehrdienst begegnet. Sie standen in einer Reihe nebeneinander, grün und gleich aussehend und die Vorgesetzten verwechselten sie. Sein Doppelgänger hieß Marius, aber alle nannten ihn nur mit dem Nachnamen Korte. Genau wie er etwas mehr als mittelgroß, mittelblond und schlank.

Umgeben von Rekruten aus dem Rheinland und Westfalen, Männern, die eine Berufsausbildung absolviert hatten und im Leben standen, wirkten sie noch ähnlicher. Korte und Jan entstammten der norddeutschen Tiefebene, hatten gerade ihr Abitur abgelegt und standen am Anfang. Einmal hatten sie aus einer Laune heraus ihre Feldjacken getauscht, so dass jeder mit dem Namensschild des anderen herumlief. Das klappte. Aber das große Gewicht, das jeden in seinen eigenen einsamen Teich zog, war stärker. Es blieb eine Episode, in der ein gegenseitiges Erkennen aufblitzte.

Einige Monate später trafen sie sich auf einer Wehrübung wieder. Jan hatte ein Studium und Korte eine Banklehre begonnen. Die Wehrübung war ein Rückfall in eine Phase der Unmündigkeit. Diese unangenehme Erfahrung verband sie stärker. Wie die zweite Spritze, die einer Impfung erst zur gewünschten Wirkung hilft.

Korte besuchte Jan später an seinem Studienort. Sie gingen in die Mensa und Jan zeigte Korte die Plätze seines neuen Alltags. Abends besuchten sie eine Studentenkneipe. Über die Fragen, die Jan wirklich umtrieben, redeten sie nicht. Wozu war das Studium gut und würde es später einmal ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen? Und: Wie konnte man eine Freundin finden? Als Korte am Sonntagabend in seinen Golf stieg, verabredeten sie, es bald zu wiederholen.

Das passierte nicht. Sie schrieben sich noch gelegentlich, bis auch das einschlief. Jan konnte Kortes Weg auf Social Media verfolgen. Korte studierte später BWL, wurde Unternehmensberater.

Später sah Jan ihn noch einmal. Es war auf einer Tagung, bei der es um den Austausch von Wissenschaft und Wirtschaft ging. Jan hatte Korte auf der Teilnehmerliste gefunden und bald ausfindig gemacht. Es entstand kein Blickkontakt und Korte erkannte ihn nicht. Der Tag ging vorbei, ohne dass sie miteinander gesprochen hätten.

Die Fragen, die er damals nicht gestellt hatte, blieben weiter unbeantwortet. Bis auf die nach seinem Berufsleben: Er war ein Soziologe geworden, ohne Leidenschaft. Als er eines Abends Max Weber las, wurde ihm klar, dass er keine Wahrheit suchte. Die Einsicht traf ihn kaum. Er glaubte schon lange nicht mehr an etwas Endgültiges, Feststehendes.

Was er suchte, war der Moment der Inspiration. Früher als Kind war es ein Gefühl an den Schläfen, das etwas wie einen Strom und großes Behagen bei ihm ausgelöst hatte. Er suchte starke Eindrücke, die jenseits des reinen Denkens lagen.

Jan traf Korte, als er in einem Zug im Bordbistro saß. Ein Klappern hatte ihn aufblicken lassen. Am Eingang des Waggons stand ein Mann. Er hielt sich fest, weil der Zug schaukelte. Er wirkte angestrengt und atmete schwer. Der Mann fand den freien Platz an Jans Tisch und ging darauf zu, ließ sich nieder. „Darf ich?“ Jan nickte.

„Wir kennen uns“, sagte der Mann. Jan erkannte Korte. Gealtert, mit grauen Strähnen und etwas mager. „Korte?“ fragte er. Der nickte und lächelte schwach. „Ich habe dich schon auf dem Bahnhof erkannt, aber du hast mich nicht gesehen. Aber wenn wir im gleichen Bordrestaurant sitzen, dachte ich, kann ich auch gleich zu dir kommen.“

„Ich bin körperlich sehr eingeschränkt. Die Pandemie. Meine Lunge ist beeinträchtigt. Meine Frau und mich hatte es erwischt.“ Der Zug war draußen auf freier Strecke zum Stehen gekommen. Jan sah direkt vor dem Fenster ein Schild mit der Zahl 177 und darunter dem Kürzel B5.

„Irgendwann ging es meiner Frau so schlecht, dass sie mich bat, sie in die Stadt ins Krankenhaus zu bringen. Wir wohnten damals weit draußen. Ich bin losgefahren. Ich bin immer schneller gefahren während meine Frau hustete und röchelte. Ich bin mit hundert in die Kurven gegangen.“ Jan spürte ein tiefes Unbehagen an der Situation. Das unerwartete Wiedersehen, die Gesprächseröffnung. Das alles war viel in kurzer Zeit und er spürte, dass das noch nicht alles war.

„Dann kam der Radfahrer aus einem Feldweg. Ich glaube, er hatte sogar Licht an. Aber was nützt das, wenn du 140 fährst? Er ist vierzig Meter weit geflogen und gegen einen Alleebaum geprallt. Bis zu dem Moment hatte ich gedacht, das schlimmste, was ich erleben könnte, wäre der Tod meiner Frau. Aber es geht mehr. Von einem Moment zum anderen ist dein ganzes Leben ein anderes. Meine Frau überlebte. Der Mann auf dem Fahrrad nicht.“ Korte sah Jan aus tiefliegenden Augen an. Jan erinnerte sich, dass der Rekrut Korte einen sehr sorgsam gestutzten Schnurrbart getragen hatte.

Der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt und rollte langsam in die entgegengesetzte Richtung.

„Wenn ich eines danach gelernt habe: Es gibt nichts, was sicher ist. Ich war Unternehmensberater. Geld war nicht der Antrieb. Dabei sein, wenn etwas passiert. Wenn große Sachen entstehen. Ich habe DAX30-Unternehmen beraten, Ministerien, Wirtschaftsverbände. Der Beweger sein. Die Ursache. Schnell sein und dabei die Kontrolle behalten. Und dann hatte ich irgendwann keine Kontrolle mehr. Meine Arbeit habe ich verloren. Einen verurteilten Todesfahrer will man nicht als Partner haben. Aus und vorbei.“

Er wollte noch mehr sagen, aber dann kam eine lange Durchsage. Der Zug war zurückgerollt in den Abfahrtsbahnhof. Es gab eine Entschuldigung und eine lange Erklärung über Anschlusszüge und Umstiegsmöglichkeiten. Korte stand mühsam auf. „Meine Frau hat sich nach dem Unfall von mir getrennt. Sie hat meine Schuldgefühle nicht mehr ertragen. Ich musste wieder lernen, mich zu behaupten. Aber ich komme voran. Ich hoffe, es gelingt dir auch.“

Auf dem Bahnsteig trennten sie sich. Jan hatte noch Zeit bis zum Ersatzzug. Er schlenderte durch die Bahnhofshalle. Er blickte zum verglasten Dach, über dem Wolken hektisch trieben. Die ersten Zugvögel waren unterwegs. Er verließ das Gebäude. Von rechts hörte er ein schrilles Pfeifen.

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