Von Anna B.
Vor 40 Jahren haben wir geglaubt, über Alter und Krankheit würden wir uns nie unterhalten. Die Gespräche unserer alten Verwandten und deren Freundeskreis über Ärzte, diverse Untersuchungen, Erfolge und Misserfolge gingen uns auf die Nerven. Heute hat uns selbst das Alter eingeholt und wir führen öfters genau solche Gespräche. Unser Wissen über Onkologie, Urologie, Kardiologie, Pneumologie, Virologie, Neurologie, etc. ist in seltsame Höhen gestiegen ohne jemals eine medizinische Vorlesung besucht zu haben. Alles Wissen kommt aus dem WEB. Wir treffen uns monatlich, um über Themen wie Krieg in der Ukraine, Kampf um eine ökologische Gesellschaft, Dialektik der Natur, weltweite Faschisierung der Gesellschaft, etc., etc. zu debattieren oder einem Vortrag zuzuhören, aber begonnen wird mit „Wie geht es dir/euch?“ Und dann werden eifrig Geschichten über Wehwehchen, Arztbesuche, Operationen und Sterbefälle ausgetauscht. Wir sind halt alle davon irgendwie betroffen und haben das Bedürfnis, uns bemitleiden oder trösten zu lassen oder auch Beachtung für unsere Disziplin, Ausdauer, Widerstandskraft und Lebenswillen zu
erhaschen.
Manchmal rede ich mit meinem Alter. Das hört sich dann z.B. so an:
ICH: Du bist ekelhaft, dauernd stellst du mir nach und sitzt mir im Nacken. Schickst mich zu Ärzten und sogar in Operationssäle. Grausam!
Alter: Ich bin seit deiner Geburt dein treuester Begleiter, jede Minute deines Lebens gehe ich hinter dir her. Du kannst mich nicht wegschicken, egal ob du mich magst oder nicht.
ICH: Ja ich weiß, es fällt mir halt nur erst seit einigen Jahren auf und ich kann mich schwer an deine Treue gewöhnen. Ich liebe Treue und bin selbst ein treues Wesen, aber mit dir habe ich so meine Schwierigkeiten.
Alter: Das kann ich gut verstehen. Aber denk doch einmal nach, ob ich nicht auch zu etwas gut bin.
ICH (empört): wozu sollst du zu was gut sein, wenn du mir immer wieder beweist, dass meine Gelenke abgenützt sind, meine Haut verwelkt, mein Herz und meine Lunge mühsamer arbeiten, meine Muskeln schwächeln, mein Gedächtnis lückenhaft wird. Was soll daran gut sein?
Alter: In deinen ersten Jahrzehnten bis zur Blüte deiner Jahre war ich ein meist gern gesehener, aber unbemerkter Geselle. Du bist mit mir gewachsen, wurdest ansehnlich und begehrt, hast Erfahrung bei Liebe und Sex aufgesaugt, Wissen und Bewusstsein über das und das entwickelt. Das sind alles Schätze, die ich mitgetragen habe. Okay, der Höhepunkt deines Daseins ist überschritten, du gehst mit mir jetzt ganz bewusst und spürbar abwärts. Denk doch nach, was du auf diesem Weg noch erleben kannst, bist du nicht neugierig? Könnte dieser Gang nicht auch spannend sein?
ICH: Du bist ja doch ein lieber Freund und baust mich auf. Oder eher eine Freundin, vielleicht ist das Alter weiblich? Wenn ich mir anschaue, was ich alles noch kann und mache, geht es mir eigentlich nicht so schlecht mit dir und mir. Ich glaube ich sollte versuchen, mich mit dir zu versöhnen.
Solche Gespräche helfen, regen zu neuen Gedanken an. Die Tratschereien über Ärzte, Behandlungen, etc. fallen eine Zeitlang kürzer aus. Das Alter begleitet mich meist still und geduldig. Ich versuche es wie eine geliebte Partnerin / einen geliebten Partner zu nehmen wie es ist. Es gelingt nicht immer, manchmal schauen die Gespräche mit ihm auch ganz anders aus. Dann fallen Worte wie „du gemeiner Hund“ bis zu „Arschloch“. Bei diesen Gesprächen ist das Alter männlich! Ich entschuldige mich, er/sie/es schweigt und ich lache!
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© 2023 Anna B.
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