Von Charlotte Zorell
Als ich gestern spazieren ging, traf ich einen Pinguin. Ich war sehr erstaunt. Der Pinguin stand unter der Markise eines geschlossenen Kiosks, neben ihm auf dem von Kaugummiflecken übersäten Asphalt lag eine ölige Kartonbox und mehrere Plastikgabeln. Der Pinguin sah elend aus. Die weißen Stellen seines Fracks waren dreckverschmiert. Als ich näher kam, sah ich, dass der Pinguin weinte. Das erschütterte mich am meisten.
„Brauchen Sie ein Taschentuch?“, murmelte ich.
„Es geht schon“, schnaufte der Pinguin. Über seinen Schnabel liefen Tränen und tropften auf den klebrigen Boden. Es war wirklich ein sehr trauriges Bild. Ich war unschlüssig, ob ich weitergehen sollte oder nicht. Ein wenig verlegen standen wir nebeneinander.
„Möchten Sie, dass ich eine Weile bei Ihnen bleibe?“, nuschelte ich.
„Ja bitte“, röhrte der Pinguin. „Vielen Dank.“
„Wo wohnen Sie denn?“, fragte ich und dachte mir im selben Moment: dumme Frage.
Der Pinguin blinzelte mich an. Ich blinzelte zurück. Dann sagte ich: „Dumme Frage.“
Der Pinguin schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht“, sagte er, „ich weiß gar nicht, wo ich wohne.“ Dann heulte er laut auf. „Das ist schrecklich!“, schluchzte er, „ich weiß ja gar nicht, wo ich zuhause bin!“
„Wenn Sie möchten, können Sie mit zu mir kommen“, beeilte ich mich zu sagen.
„Danke, aber es geht schon“, schnarrte der Pinguin. „Bitte machen Sie sich keine Umstände wegen mir.“
„Schon gut“, sagte ich. „Ich habe heute nichts mehr vor. Deshalb bin ich alleine spazieren. Sonst würde ich vermutlich nur vor dem Fernseher oder auf Instagram festhängen.“
„Wohnen Sie alleine?“, fragte der Pinguin.
„Ja“, sagte ich.
„Sind Sie einsam?“, fragte der Pinguin. „Bitte entschuldigen Sie die indiskrete Frage.“
„Das ist schon in Ordnung“, sagte ich. „Smalltalk mag ich ohnehin nicht.“ Dann zögerte ich. „Ich bin seit kurzem alleine, ja. Einsam, naja, ich weiß nicht.“ Ich zögerte wieder. „Ich wurde vor kurzem verlassen“, gestand ich dann. „Ich habe Liebeskummer. Sehr großen Herzschmerz.“
„Aaaah!“, heulte der Pinguin auf. „Das habe ich auch!“ Die Tränen schossen nur so aus seinen dunklen Augen. Der Pinguin sah aus wie ein zerflossenes Aquarell. Ein Schauern lief durch seinen Leib. Die kleinen, unergiebigen, aus dem Pinguin-Torso herausragenden Flügel erzitterten in einem Schub von Verzweiflung. „Ich habe ganz fürchterliches Herzweh! Ach, am liebsten würde ich mir das Herz aus der Brust reißen, gegen die Wand schmeißen und dann auf dem Herzschmerz herumtrampeln!“
„Aber beruhigen Sie sich doch, Herr…Pinguin“, stotterte ich unbeholfen. Ich versuchte, eine Hand auszustrecken, um den glatten Pinguinkopf zu tätscheln. Der Pinguin warf den Schnabel zurück. „Ich möchte sterben!“, schrie er. „Ich habe keine Hoffnung mehr!“
„Ja, es ist schrecklich!“, sagte ich, „Sie können nicht essen und Sie können nicht schlafen und Sie glauben, es wird nie vorüber gehen!“
„Ganz genau!“, weinte der Pinguin.
„Aber es geht doch vorüber“, sagte ich. „Es ist doch in der Weltgeschichte immer vorüber gegangen.“
„Es ist nur“, heulte der Pinguin laut und voll Inbrunst, „Pinguine bleiben doch ihr Leben lang zusammen! Verstehen Sie? Pinguine bleiben doch ihr Leben lang zusammen! Das ist nun einmal so. Das ist die Natur. Wie kann es sein, dass mir so etwas passiert, wenn es gegen das Gesetz der Natur geht? Das ist so peinlich! Ich schäme mich.“
„Ach wo, Sie müssen sich doch nicht schämen“, sagte ich. Eine lange Pause entstand, der Pinguin weinte kullernde Tränen, ich fühlte mich ganz und gar unnütz. Ich hatte noch nie einen Pinguin getröstet. Wenn ich es mir recht überlegte, tröstete ich allgemein ganz selten jemanden. Es waren ja auch nur so wenige da, die man trösten konnte, und ganz oft war man anderweitig beschäftigt, mit seiner eigenen Zerstörung, mit seinen eigenen Wunden, die man sich beeilte zu schließen, um ganz rasch und effizient weiterleben zu können, mit glatten Gesichtszügen, die nichts verrieten. Die große, sehr reelle, sehr kindliche Trauer des Pinguins verunsicherte mich. Manchmal hatte ich das Gefühl, als würden meine Augen nur imstande sein, nach innen zu weinen. Ich weinte mich alleine in den Schlaf und hoffte, dass mich irgendwer anrief und fragte, wie es mir ging. Aber mein Handy blieb stumm oder spielte bittere Musik und die Melancholie fraß mich auf.
„Bitte“, riss ich mich aus meinen eigenen Gedanken, „wer sagt denn, dass das für jeden Pinguin gilt? Wo steht denn das geschrieben? Vielleicht ist das auch nur eine unwahre Legende.“
Mit trüben Augen starrte mich der Pinguin auch. „Wie meinen Sie das?“, hickste er. „Ein Pinguin trifft einen anderen Pinguin und dann machen sie ein Pinguinbaby und dann bleiben sie ihr Leben lang zusammen, wissen Sie das nicht?“
„Naja, vielleicht ist das ein Irrtum“, sagte ich schulterzuckend. „Natürlich tut es weh. Ich hätte auch nie gedacht…naja, dass ich jetzt immer noch oder wieder alleine bin. Aber so ist es nun mal. Manchmal scheitert es eben. Ob jetzt an den großen oder den kleinen Dingen, das ist unwichtig.“
Schluckauf vibrierte im gewölbten Pinguinbauch. Eine Weile schwieg er. Dann hickste er: „Aber das ist doch der Lauf des Lebens.“
„Ein Menschenleben ist einem Pinguinleben gar nicht so unähnlich“, sagte ich.
„Bleiben Menschen nicht ihr Leben lang zusammen?“
Eine Weile schwieg ich. Dann sagte ich: „Nicht unbedingt.“
Wir standen nah beisammen, der Verkehr rauschte an uns vorbei, der Autolärm ein hässlich-erstickender, es wirbelte uns den Dreck der Welt um die Köpfe. Die vorüber eilenden Menschen sahen ergraut und müde aus. Überall Zerrissenes, im Wind wirbelnde Plastikfetzen, Wolkenschnipsel, die den Himmel langsam verdunkelten, es sah nach Regen aus.
„Rauchen Sie?“, fragte ich schließlich.
Der Pinguin schüttelte den Kopf. „Ich eigentlich auch nicht“, sagte ich, „ich blase nur so gern Trübsal.“
„Es sieht nach Regen aus“, sagte ich, in den Himmel sehend. Schon jetzt war die Stadt eine schwere, unheilvolle, vermüllte Masse. Wie konnte diese Welt Gesetze hervor bringen. Es war ganz und gar verfehlt.
„Es liegt an mir“, sagte der Pinguin. Er starrte auf seine kleinen, unbeholfenen Füße. „Es ist meine Schuld.“ Er klang sehr resigniert. Dann hob er den Kopf. „Ich mag diese Art von Pinguinen gar nicht, diese Art, die ich mögen sollte“, sagte er mit erstickter Stimme. „Können Sie sich das vorstellen?“
„Durchaus“, sagte ich.
„Es ist schrecklich“, sagte er gedämpft. „Ich habe alles kaputt gemacht.“
„Ein Menschenleben ist einem Pinguinleben gar nicht so unähnlich“, wiederholte ich.
„Ist das bei Menschen auch so?“, fragte er.
„Durchaus“, sagte ich. „Bei Menschen ist eigentlich alles so. Menschen sind alles. Das macht es auch sehr schwierig, aber auch sehr schön. Eigentlich weiß man nie so genau mit Menschen. Sie sind immer für eine Überraschung gut. Es gibt viele böse Überraschungen, aber auch viele sehr schöne. Die Natur wird vom Menschen eigentlich ständig überrumpelt. Oder auch umgekehrt.“
„Das ist sehr weise“, sagte der Pinguin. „Haben Sie sich das gerade ausgedacht?“
„Ach“, sagte ich seufzend, „ich suche auch nur nach einer Erklärung für das Große Ganze. So wie alle anderen auch.“
„Ich habe Angst“, sagte der Pinguin. Ein Windstoß trug den Geruch von Unwetter mit sich. Irgendwo weinte ein Kind. Das Weinen von Kindern rührte mich immer sehr. Es klang dem Pinguin-Weinen gar nicht unähnlich. Es war ja wirklich erstaunlich, dass aus Kindern so vieles und alles werden konnte, dachte ich bei mir. Sogar ein Pinguin.
„Ja, das ist leider so“, sagte ich. „Mehr kann ich da auch nicht sagen, außer, dass Angst zum Leben gehört, weil es ja auch Angst vor dem Leben ist, in gewisser Weise.“ Ich überlegte. „Ich weiß noch nicht, wie ich mit der Angst Schluss mache. Vielleicht bin ich doch einsam, wenn ich es mir so recht überlege. Ich habe schon sehr lange nicht mehr so viel mit jemandem gesprochen.“
„Das ist doch gut“, sagte der Pinguin mit hellerer Stimme. „Zumindest das habe ich nicht vermasselt.“
„Sie haben gar nichts vermasselt“, sagte ich. „Sie wissen nur ein wenig mehr, wer Sie sind.“ Das Pinguinmärchen würde ich auf jeden Fall von meiner Liste der unerschütterlichen Normen streichen, schwor ich mir. Die Liste der Schein-Prinzipien, die ich auflösen wollte, wurde immer länger.
„Möchten Sie etwas essen gehen?“, fragte ich.
„Sehr gern“, sagte der Pinguin. „Ich watschele dann einfach hinter ihnen her, ja? Ich bin langsam bei Fuß.“
„Das macht mir nichts“, sagte ich lächelnd. „Ich auch.“
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