Das Sofa

Von Matthias Kümpel

Er saß auf dem weißen Sofa im Wohnzimmer, nippte an seinem Whiskey und sah hinaus in den Garten. „Zweihundert Quadratmeter Familienglück“ hatte sein Vater auf der Kommunionfeier gesagt: eine Rutsche, eine Schaukel, ein Sandkasten, ein Fußballtor, ein paar Bälle. Gleich würden seine beiden Söhne nach Hause kommen und nach einem leisen „Hallo Papi“ in ihren Zimmern verschwinden. Seine Frau würde wahrscheinlich nur einen kurzen Blick auf sein Glas werfen. Er sah auf die Uhr, es war kurz nach fünf.
Er lehnte sich zurück und spürte das kühle Leder des Sofas in seinem Nacken. Eine seltsame Schwere drückte ihn hinunter, tiefer hinein in das kalte Sofa. Wie tief konnte man in einem Sofa versinken? Er griff nach seinem Whiskey, hatte mit jedem Schluck das Gefühl, er müsse seine Hand ein wenig weiter, ein wenig höher nach dem Glas ausstrecken. Konnte man in einem Sofa ertrinken? Er setzte sich auf, hielt sich an der Tischkante fest, schloss die Augen und führte das Glas blind an seinen Mund.
Sein Telefon klingelte. Das Klingeln kam aus dem Sofa unter ihm, über ihm, er wusste es nicht, wollte es nicht wissen, wollte seine Augen nicht öffnen, noch nicht. War das seine Stimme? Mit wem sprach er? Er bemerkte, dass er seinen Mund öffnete und wieder schloss, doch das Sofa verschluckte alle Worte, jeden Laut. Er würde in diesem verdammten Sofa ertrinken! Er mußte irgendwie wieder an die Oberfläche gelangen aber jede Bewegung fühlte sich zäh an, gelähmt, erstarrte in dieser Kälte.
Da war eine Hand, ein Griff, jemand versuchte ihn am Handgelenk zu fassen, ihn festzuhalten! Er kannte diesen Geruch. Alles geschah in Zeitlupe, seine Arme, seine Zunge, atmen, er musste atmen! „Lächeln und Atmen, dann wird alles gut!“, das hatte er doch auf dieser Fortbildung gelernt.

Ich spüre den Schweiß auf meiner Haut, höre den Radiowecker oben aus unserem Schlafzimmer, wache auf zu den ersten Zeilen von „The Sound of Silence“. Der Garten liegt im Dunkeln, im Haus ist es still, ich höre nur ein Flüstern, mein Flüstern: „Es ist nichts passiert“.
Ich stehe auf und betrachte mein Spiegelbild im Glas der Terrassentür. Meine Nase blutet, ich weine. „Es ist nichts passiert“, nein, „es ist nichts passiert“. Meine Füße tragen mich in die Küche: niemand da. Ich werde oben nachschauen. Ich weiß, dass es keinen Sinn macht oben nachzuschauen, aber ich werde oben nachschauen. Im Flur ist es kalt, die Kellertür steht halb offen. Oben ist niemand. „Es ist nichts passiert“, das weiß ich, „es ist nichts passiert“.
Als ich die Treppe wieder hinuntersteige höre ich ihr Handy klingeln. Das Geräusch kommt aus dem Keller. Im Keller brauche ich nicht nachzusehen, das weiß ich, „es ist nichts passiert“. Ich schließe die Tür und lächle und atme.

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@ 2023 Matthias Kümpel
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