Der verspätete Osterhase

Von Oliver Fahn

Dass der Osterhase einige Tage nach Ostern ihre Bankfiliale aufsuchte, fanden die noch von den Feiertagen geräderten Mitarbeiter der Sparkasse amüsant. Die verkleidete Person, die bei der Schaltermitarbeiterin Iris in der Schlange stand, blickte durch den Mund des Kostüms. Einen Korb mit Schokolade, Marzipan und mitunter auch tatsächlich von Hühnern gelegten Eiern, führte der Hase oder die Häsin mit. Ein verkleideter Mensch aus Fleisch und Blut, der augenscheinlich nicht ungeduldiger darauf spekulierte, von der Angestellten Iris in seiner Angelegenheit abgefertigt zu werden, wie andere anstehende Kunden auch, rückte zusehends an sie heran.

Ein kurzer Moment verstärkten Lichteinfalls ließ Barthaare erkennen. Seine Karte habe er vergessen, teilte er Iris mit, als er dicht vor ihr stand. Ob sie nicht ein paar Eier nehmen wolle. Für sich, für ihre Kolleginnen und Kollegen. Hineingreifen sollte Iris in das auf grünem Kunstgras gebettete Allerlei. Die Leckereien habe er eigens mitgebracht, um, wenn auch ein bisschen verspätet, ganz besonders frohe Ostern zu wünschen. Sollte Iris die Hasenshow in der bayerischen Provinz spanisch vorkommen? Was sie an die Absichten des Mannes glauben ließ? Er sprach in gezügeltem Dialekt. Und doch klang seine Stimme nicht ansatzweise gekünstelt oder in irgendeiner Weise verstellt.

Natürlich verlangte der Anstand von Iris, dass sie nahm, wenn man ihr anbot, von allem ein bisschen, von nichts zu viel, eben jeweils ein Exemplar von jeder Kreation, die der Korb beinhaltete. Danach sagte der Mann, er müsse selbst in den Korb fassen, nachsehen, ob alles seine Richtigkeit habe, am rechten Fleck läge, gegebenenfalls zurechtrücken, hernach hinausgehen und die Sorten nachfüllen, wenn sie sich dem Ende neigten.

Iris hörte dem kostümierten Mann zu. Der schien sich in der Rolle des Erklärers zu gefallen. Daneben wühlte er, kramte in dem künstlichen Gras, griff tiefer als zuvor Iris, öffnete eine Art zweiten Boden und zückte unvermittelt, wie sie bei ihrer späteren Vernehmung schilderte, eine Waffe. Sobald er den Lauf in seinen eigenen aufgerissenen Mund hielt, schloss Iris ihre Augen. Blutüberströmt, wie er auf den Fliesen des Geldinstitutes gelegen haben musste, hatte sie sich bis zuletzt strikt geweigert, den niedergestreckten Osterhasen anzublicken.

Iris hatte den Mann, von dem man ihr auf der Wache ein Bild zeigte, zwar nicht gekannt, doch es machte die Runde, er habe einen Abschiedsbrief in seinem Nachtkästchen hinterlassen, in dem er seinen Auftritt vorab angekündigt hatte.

Seine Frau hatte ihn verlassen, seine Freundin die Affäre mit ihm endgültig aufgekündigt. Aus dem Brief gingen jene Zerwürfnisse hervor und sein final unabwendbarer Wunsch, ein Urteil zu fällen, ein aufsehenerregendes.

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© 2023 Oliver Fahn
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Oliver Fahn, *1980, Pfaffenhofen an der Ilm, verfasst regelmäßig Kurzgeschichten für Kulturmagazine und Anthologien. Darüber hinaus hat Fahn gemeinsam mit Polina Jäger drei Bücher veröffentlicht: „Wohin die Fährten führen“, „Absturz“ und „Lebewohl“.
Kontakt unter: oliver.fahn@gmx.de