Dramaturgie des Aufschubs

Von Kristin Vardi

Ich schaue aus dem Fenster. Fünfunddreißig Jahre. Fünfunddreißig Jahre schon. Streit ohne Worte. Diese Müdigkeit. Und keine Kraft mehr für Widerspruch. Er weiß alles. Und er weiß alles besser. Soll er denken, was er will, denke ich. Ich schaue konzentriert aus dem Fenster. Eigentlich ist er mir fremd. Ein Mitfünfziger mit einem Gesicht wie jedes andere.

Wieso saßen wir jetzt hier? Wir hatten schöne Jahre gehabt. Er war lieb, las gern, keine schlechte Partie. Ich hatte gedacht, was, wenn danach keiner mehr kommt. Ein weinrotes Auto überholt uns. Das Kennzeichen lautet W-GR. „Wo Geht’s Raus“, denke ich. Wir schweigen. Mir ist das willkommen. Die Stille ist mir jetzt angenehm.

Ich fühle, wie ich mich mit der Stille verbinde. Ich fühle mich wie ein großes Stück Schaumstoff, das den ganzen Raum unseres alten Renault Broadway ausfüllt. Ich stelle mir vor, wie ich noch weiterwachse und wachse. Und ihn so, ganz beiläufig, ersticke und zerquetsche.

Dass das möglich ist, denke ich. Da ist man fast in Rente und da begreift man, dass man gar nichts gemusst hätte. Keiner sagt einem, wie das geht mit dem Leben. Mit dem richtigen Leben. Mit der Ehe. Mit den Entscheidungen. Dinge ergeben sich. Man ergibt sich. Dinge verstetigen sich. Das war’s.

Man tut, was zu tun ist. Alles läuft nach Plan. Manchmal schmerzte mich eine kleine Einsamkeit, die bleibt halt, so ist das Leben, dachte ich. Ich muss erwachsen werden, hatte ich mir gesagt. Jetzt bin ich erwachsen, fast alt. Aber diese Stimme, diese lästigen Fragen, die wurden irgendwie nicht älter. Mit kindischer Beharrlichkeit stellen sie sich mir immer wieder in den Weg.

Ich fahr kurz ran zum Tanken, sagt er. Ja, sage ich. Er schmeißt die Tür zu. Das ist unsere Ehe. Man soll nicht zu viel vom Leben wollen. Die Kinder sind gesund. Wir verdienen gut. Das Haus ist abbezahlt, der Garten vorm Haus ist schön. Er reißt die Tür auf und wirft sich wieder in den Sitz. Das ist unsere Ehe. Gegenüber an der Zapfsäule steht ein LKW. Im Kennzeichen die Buchstaben BNO. Bin Nachts Ohnmächtig. Bitte Nur Opium. O. Oh, wer die Sehnsucht kennt! BNO, Bis Nach Oman. Ja, Oman. Bis nach Oman und zurück reicht meine Traurigkeit. Ach, bis zum Mond. In schwachen Momenten hatte ich manchmal mit dem Mond geredet. Ihm erzählt. Und er hatte zugehört.

Wir fahren immer noch auf der Autobahn. Er fährt und ich sitze daneben. Seit fünfunddreißig Jahren. Er hatte mich damals gefragt, ist hier noch frei? Ich hatte Ja gesagt. Der erste Satz enthält das Ende.

Eine Gewohnheit, ein Pakt gegen die Angst vielleicht, ein sprachloses und schattiges zuhause. Mir kommt das Lied von Marianne Faithfull in den Sinn, in the age of 37. The ballad of Lucy Jordan. Die Kinder in der Schule. Der Mann im Büro. Vor ihr liegt ein Tag der Leere, der Möglichkeiten. Sie denkt an die vielen Geliebten, die sie nie hatte. Sie versteht, dass sie nie durch Paris fahren wird, in einem Sportwagen. Mit dem lauen Abendwind im offenen Haar.

Lucie Jordan hat immer wieder die gleichen Möglichkeiten, den Tag herumzukriegen. Das Haus aufräumen, putzen. Die Blumen in den Vasen hübsch drapieren. Nackt durch die Stadt rennen und brüllen.

Ist hier noch frei?, hatte er gefragt. Und dann waren wir zu viert. Junge, Mädchen, Vater. Mutter. Kinder machen aus einem Menschen eine Mutter. Ich denke an einen Satz von Proust. Bei Melancholie könne man sich in die starken Arme der Gewohnheit retten. Der Satz hatte mich immer interessiert. Von manchen Sätzen kann man sich ein Leben lang ernähren. Und doch, die fremde Gewohnheit in meinem Leben gibt mir keinen Trost. Was wäre gewesen, wenn, frage ich mich wieder.

Fünfunddreißig Jahre lang hatte ich Höhenangst vor der Antwort gehabt. All die Jahre, eine Parade von Ähnlichkeiten. Ich werde auf ein Nummernschild aufmerksam mit den Buchstaben VER. Ist die Vorsilbe eigentlich wertend? Verschlafen, vergeudet, verschwendet, verloren, vergessen, verheiratet?

Die Schlange beißt nicht, solange man sie ansieht. Ich denke, so ist das auch mit dem Schmerz. Ein Oldtimer mit den Zeichen HF zieht vorbei. Heil und Froh, denk ich. Konnte man das in meinem Alter noch sein? Konnte ich das werden?

Elegant, erfahren, voller Leichtigkeit und Grandezza. Wie der Oldtimer. Ich spüre plötzlich ein seltsames Gefühl der Erwartung. Es ist mir, als hätte dieses Gefühl Winterschlaf in meinem Blut gehalten. Ich kurble das Fenster herunter. Es ist, als fließe Lava über Schnee. Kennzeichen deuten, wofür ist das gut? Wenn er mich fragen würde. Ich könnte es ihm sagen.

*

© 2023 Kristin Vardi
Alle Rechte vorbehalten

Kurzbiografie:

Kristin Vardi wurde in Riesa/Sachsen geboren und studierte in Leipzig, Berlin und Tel Aviv. Nach dem Abschluss des Studiums (MA) der Geschichtswissenschaft und einem Volontariat bei der Freien Presse in Chemnitz lebt und arbeitet sie heute in Wien. Sie ist Gewinnerin „Bester Stil“ und „Beste Prosa“ für ihre Kurzgeschichte Rock Button Motel im Deutschen Schriftstellerforum (DSFO). Veröffentlichungen von ihr liegen unter anderem in der deutschen Literaturzeitschrift Edit, dem deutschen Verlag Poetenladen, dem Literaturportal Bayern und der österreichischen Literaturzeitschrift „Literatur & Radieschen“ vor. Für 2023 erhielt sie ein Arbeitsstipendium vom Österreichischen Bundesministerium für Kultur für ihren Roman Bestseller.