Echo

Von Matthias Kümpel

Müde bin ich, geh zur Ruh
schließe beide Äuglein zu.
Vater lass die Augen Dein,
über meinem Bette sein.

EINS
Ich zuckte zusammen, spürte das Klopfen noch bevor ich es hörte. Mein ganzer Körper schien zu vibrieren. Ich öffnete die Augen: ich lag in meinem Bett. Das Klopfen wurde lauter mit jedem Mal, mit jedem Schlag, als hämmerte jemand mit – war es nur in meinem Kopf? Oder kam es hier aus dem Haus, von unten? Ich setzte mich auf, horchte, wartete auf einen klaren Gedanken. Nein, es war viel zu laut um von irgendwo anders herzukommen, es war in meinem Kopf, direkt in meinem Kopf! Ich ließ mich wieder zurück in mein Bett sinken und schloss die Augen, Schlag um Schlag blieb ich liegen, blieb ich einfach liegen.
Als ich wieder aufwachte war es still. Das Hämmern in meinem Kopf war verschwunden und diese Stille begleitete mich durch den gesamten Tag. Kein Geräusch drang zu mir durch. Erst am Abend, als ich einen Spaziergang durch die Felder rund um unser Dorf machte, kehrten die ersten Töne zurück: Autos auf der nahen Landstraße, ein leise gesummtes Lied hinter einem offenen Fenster, der Ruf einer Krähe und die Glocke der Kirche im Tal. Ich setzte mich auf eine Bank am Rande des Weges und mein Blick wanderte über eine Wiese hinab zu einem Wald. Ich schaute der Dämmerung zu, wie sie langsam aus den Bäumen kroch, lehnte mich schließlich zurück und schloss die Augen.
Plötzlich war es wieder da. Es kam aus dem Wald. Dann noch ein Schlag, regelmäßig jetzt, alle paar Sekunden. Es war nicht das Schlagen einer Axt, eher das eines Hammers gegen Holz. Waren es diese Schläge, die mir in der Nacht den Schlaf geraubt hatten? Aber was hatte sie aus dem Wald bis in mein Schlafzimmer getragen? Ich starrte auf die Bäume, doch mir fiel es schwer den Waldrand zu fokussieren. Mit jedem Schlag geriet er in Bewegung. Oder war ich es, der sich bewegte? Im Takt der Schläge?
Dann wieder Stille. Ich rieb mir die Augen, stand auf und beschloss nach Hause zu gehen, da sah ich für einen kurzen Augenblick eine Gestalt zwischen den Bäumen. Jemanden, den ich kannte. Hatte er zu mir herübergeblickt? Doch die Gestalt war sofort wieder verschwunden und bald war ich mir schon nicht mehr sicher, ob ich überhaupt jemanden gesehen hatte.

ZWEI
Er stand, die Füße schulterbreit, den Stiel mit beiden Händen fest umfasst. Er holte aus zu einem Schlag, aber erst als der schwere Hammer sein Ziel traf, wurde ihm bewusst was er tat, als wachte er plötzlich auf, aus einem tiefen Schlaf. Schlag um Schlag trieb er den Pfahl ein Stück weiter in den Boden. Und mit jedem Hieb waren seine Arme weniger in der Lage den Rückstoß abzufedern. Sie zitterten, sein ganzer Körper vibrierte, und erst als das Kreuz fest im Boden saß, ließ er den Hammer sinken, stützte sich auf dessen Stiel und starrte auf sein Werk. Er stand auf einer kleinen Lichtung, in die noch etwas vom letzten Licht des Tages sickerte. Der Wald ringsherum lag schon im Dunkeln. Nach einer Weile schulterte er den Hammer und folgte einem kleinen, kaum noch erkennbaren Pfad.
Als er den Waldrand erreichte, blieb er stehen, zögerte, trat noch nicht ganz hinaus auf die Wiese, die sich vor ihm erstreckte. Sie führte eine leichte Anhöhe hinauf zu einem Feldweg, und dort saß jemand auf einer Bank. Die Gestalt kam ihm bekannt vor. Er blieb im Schutz der Bäume und beobachtete sie, als sie plötzlich aufstand und direkt zu ihm hinunterschaute. Er trat einen Schritt zurück, zurück ins Dunkel des Waldes, doch die Gestalt hatte sich schon wieder abgewandt und ging Richtung Dorf davon. Hatte sie ihn – hatten sie sich gesehen? Er spürte wie sich seine Gesichtsmuskeln spannten. Er umfasste den Hammer mit beiden Händen, trug ihn vor seiner Brust und folgte mit großen entschlossenen Schritten der Gestalt den Hügel hinauf. Diese war kaum noch zu erkennen in der heraufziehenden Dunkelheit, und doch hatte er das Gefühl, er bräuchte nur seine Hand auszustrecken dann könnte er sie berühren, ihre Schulter greifen. Er spürte den Schweiß auf seiner Haut, seinen Atem, lauter und lauter mit jedem Schritt.

DREI
Ich schreckte hoch und saß aufrecht in meinem Bett. Hatte mich jemand gerufen? „Las mich hier raus!“ Ich kannte die Stimme, und dieses Hämmern, mir mittlerweile so vertraut, dass ich es zunächst gar nicht bemerkt hatte. Seit Tagen begleitete es mich, verfolgte es mich, kroch in mein Ohr, schlich sich in meine Träume und meine Tage. Hatte ich wirklich eine Stimme gehört oder machte mich dieser Lärm in meinem Kopf langsam verrückt? „Mach die Türe auf! Mach auf!“ – Da war sie, die Stimme. Sie kam von unten. Sie kam aus dem Keller. Und ich wusste auch woher ich diese Stimme kannte. „Bitte, Bitte!“ – flüsterte, flehte sie.
Ich stieg langsam aus meinem Bett, zog meine Hausschuhe an und ging die Treppe hinunter ins Erdgeschoß. Als ich unten angekommen war, blieb ich vor der Kellertür stehen. Sie stand offen, die Stimme war verschwunden. Im Haus war es still. Ich ging in die Küche. Draußen rauschte der Regen und schlug mit seinen Tropfen gegen das Küchenfenster. Ich beschloss mir einen Kaffee zu kochen.
Meine Hände zitterten. Die Heizung würde erst in einer Stunde angehen. Ich hörte der Kaffeemaschine zu und meinen Fingerspitzen, die langsam aber bestimmt auf das Linoleum des Küchentischs eintrommelten. Ich schaute zum Fenster. Die Dunkelheit hatte es in einen Spiegel verwandelt. Ich fühlte mich nicht so alt wie das Wesen, das mich dort durch das Fenster anstarrte. Wir sahen uns direkt in die Augen, beobachteten uns, belauerten uns. Wer würde sich als erster bewegen? Die Nacht hatte uns hier gemeinsam eingesperrt und es würde noch etwas dauern bis sie die Welt da draußen wieder freigab. Bis dahin waren wir allein. Als ich den frisch gebrühten Kaffee roch, stand ich auf und goss mir eine Tasse ein. Dann setzte ich mich wieder und wartete im leisen Surren der Neonröhre auf den Sonnenaufgang.
Es war kalt an diesem ersten Novembermorgen. Ich zog mir die Kapuze über den Kopf als ich das letzte Haus des Dorfes hinter mir ließ. Eine Krähe flog so dicht über mich hinweg, dass ich den Schlag ihrer Flügel hören konnte. An der Bank verließ ich den Feldweg und trat auf die Wiese, ging Richtung Wald, zu der Stelle an der am Vortag die Gestalt erschienen war. Das knöchelhohe Gras war bedeckt mit Raureif. Jeder Schritt entlockte dem matten Weiß ein leises Knistern und meine Füße hinterließen darin eine deutlich sichtbare Spur. Die Fichten standen hier dicht und ihre Äste hingen tief hinab. Ich trat ein in das Halbdunkel und spürte sofort die Stille.
Eine Weile folgte ich einem kleinen Pfad. Das Bett aus herabgefallenen Nadeln schluckte meine Tritte. Ich hatte das Gefühl mich hier auszukennen, obwohl ich mich nicht erinnern konnte diesen Wald schonmal betreten zu haben. Nach einiger Zeit stieß ich auf eine Lichtung. Sie war nicht größer als zwei oder drei Meter an jeder Seite. In ihrer Mitte stand, neben einer alten Eibe, ein frisch eingeschlagenes Kreuz. Ganz langsam, als schliefe dort etwas das ich nicht aufschrecken durfte, näherte ich mich.
Auf dem Kreuz ein Name und ein Datum. Und noch während ich darüber nachdachte was für ein Tag heute war, warum dort mein Name, wer dieses Kreuz mit meinem Namen – noch während ich dies alles dachte, sah ich die Bäume an mir vorbei gleiten. Zweige schlugen gegen mein Gesicht, meine Füße rannten. Sie rannten ohne zu wissen wohin. Ich konnte längst keinen Pfad mehr erkennen. Sie rannten und rannten und jeder Schritte hallte in meinem Kopf. Ich weiß nicht wie lange ich gerannt war, bevor ich stehenblieb und mich umsah. In mir spürte ich das schnelle Pochen meines Herzens, meinen lauten Atmen, kein Geräusch außer meinem Atem, kein Wind, kein Tier, außer mir. „Zu still für einen Wald“ hörte ich mich murmeln, während ich mich wieder umwandte, „viel zu still für einen Wald!“, da erblickte ich die Treppe.
Ich stürmte los, jagte die Stufen hinauf, stieß nach einigen Schritten auf die Tür. Sie war verschlossen. Ich schlug mit beiden Händen auf sie ein, hämmerte mit aller Kraft: „Lass mich hier raus! Mach die Türe auf! Mach auf! Bitte, bitte!“

Müden Herzen sende Ruh,
nasse Augen schließe zu.
Lass den Mond am Himmel stehn
und die stille Welt besehn.
(Nachtgebet, Luise Hensel, 1816)

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