Von Michael Wiedorn
Heimlich versuchte ich einen Teller Erdbeeren aus dem Eisschrank zu holen. Meine Mutter sollte davon nichts wissen. Ich stellte einen Stuhl vor den Schrank, öffnete die Schranktüre, bestieg den Stuhl und nahm ganz vorsichtig – allzu zaghaft – den Teller in beide vor Unruhe leicht zitternden Hände. Etwas glitschte an meinen Händen vorbei. Ein ohrenbetäubendes Klirren und die Beeren lagen inmitten von Scherben. Es blieb mir gar keine Zeit zu überlegen, wie ich mein Verbrechen ungeschehen machen oder verstecken könnte, denn ich hörte, wie sich die Schlafzimmertüre öffnete und meine Mutter an der Küchentüre stand und auf den zerbrochenen Teller blickte. Sie lächelte fröhlich, als würde sie sich über die Zerstörung des Geschirres freuen. Warum nicht gleich noch die Tassen und Gläser und Schüsseln gegen die Fliesen knallen? Ich starrte sie verwirrt an. Meine Freundin kam leicht tänzelnd auf mich zu und fixierte mich grinsend mit den Augen und lächelte und war jetzt keine erwachsene Frau, sondern ein kleines Mädchen, das sich immer näher heranschlich, in die Hocke ging und mich weiter wortlos angrinste, nur kurz blickte sie auf die Trümmer und stand wieder langsam auf. Die Augen heimtückisch auf mich gerichtet. Als sie stand, streichelte mir ihre Hand die Haare – zärtlich und liebevoll. Ich war erleichtert und wollte sie umarmen. Plötzlich verwandelte sich ihr Gesicht in eine hasserfüllte Fratze und sie schlug mir mit voller Wucht in die Fresse. Meine Backen brannten vor Schmerz, als wäre ich gegen eine Betonmauer geknallt. Die eben noch so Sanfte schlug noch ein zweites Mal zu.
Sie nahm mich zärtlich in die Arme. Ihr Antlitz war schön. Von sanfter Liebe erfüllt. Alle Liebe der Welt leuchtete aus ihren Augen. Ich hatte Angst. „Mein armer Kleiner“ – flüsterte sie und kitzelte mich am Bauch, dass ich schallend lachen musste. Ihr fielen ihre schönen, langen Haare ins Gesicht. Ihre rot geschminkten Lippen waren Erdbeeren. Ich konnte ihnen nicht widerstehen und näherte mich ihnen um sie zu küssen. Sie schob mich rüde zur Seite. Den ganzen Tag über lag sie in Bademantel und Schlüpfer vor der Glotze und wartete. Der Fernseher lief ohne Ton. Die Zimmer waren immer abgedunkelt. Die Rollläden ganz oder halb herabgelassen. Meine Mutter nahm mich freundschaftlich am Hinterkopf und zog mich an ihre nackten Brüste. Meine Lippen tasteten an ihren Nippeln. Auf einmal musste ich würgen. Sie drückte mich entschlossen an sich. Ich fühlte etwas. Die mich verschluckende Nähe eines schwitzenden und atmenden Körpers. Ein Schwamm will meine Haut und meine Blutgefäße durchsetzen. Die Angst nicht mehr ich selbst zu bleiben, ergriff mich. Die Gefühle drohten mich zu überwältigen. Die letzte Mahlzeit kam mir die Speiseröhre hoch. Ich rülpste laut. Sie riss mich zutiefst beleidigt an den Haaren. Sie hätte mir am liebsten die Augäpfel aus den Höhlen gerissen. Am liebsten hätte sie mir die Kopfhaut abgezogen und meinen enthäuteten Schädel ausbluten lassen. Sie hasste mich. Ihr war klar, wie sehr es mich vor ihr ekelte. Sie schlug wütend meinen Kopf gegen ihre weichen, glitschigen Brüste und flüsterte vor Erregung fast unhörbar: „ Seine Mutter muss man lieben.“
Schlagartig ließ sie mich los, erhob sich, blieb reglos vor mir stehen und starrte und glotzte mir so entgeistert zwischen die Beine, als wäre mir dort ein Totenkopf gewachsen. Das Starre und Harte. „Da habe ich ja eine kleine Nutte aufgezogen“ – rief sie mit vor Zorn weißem Gesicht. Abrupt drehte sie sich um, verließ die Küche und verschwand in das Schlafzimmer. Ich war nicht mehr ihr Sohn. Die Türe wurde fest verschlossen und sie drückte noch einmal gegen die Türe, ob sie wirklich zu ist.
Ich stand da und verstand nichts. Verlassen lagen die Erdbeeren zwischen den Scherben. Es stank in der Küche.
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© 2023 Michael Wiedorn
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