Gelobt sei der Herr!

Von Michael Wiedorn

Meine Kindheitstage sind erfüllt von ratlosem Hinstarren in Zimmerecken und einsamen Spielen auf einem Bucharateppich. Dunkles, kräftiges Rot läuft aus den Fransen. Die Mongolen fielen in Turkistan ein. Die Tage laufen grau in grau ins Leere. Der graue Rosshaarteppichboden, dessen harte Haare ich grase.
Der Wecker reißt mich aus einem Traum, in den ich wie in Brutwasser eingetaucht bin. Die spitzen Zeiger stechen mit grausamer Genauigkeit die Aufstehzeit an, in der ich das Ab- und Auftauchen in Traum und Bett verlassen muss und in den im Winter noch dunklen Tag gerissen werde. Es erwartet mich der Schulweg durch verregnete Straßen und in überfüllten Bussen und Straßenbahnen. Dann die zäh klebrigen, bis in die Unendlichkeit sich hinziehenden Unterrichtsstunden. Ich sitze und sitze und lasse den Wortschwall an mir vorbeiziehen. Es klingelt für die Pause und ich fühle mich frei, auch wenn die Freiheit nur zehn Minuten dauert. Ich packe ein Privatbuch aus dem Schulranzen und tauche für zehn Minuten in die Träume vor dem Aufwachen zurück. Das traumgrüne Sumpfwasser nimmt mich wieder auf. Auf dem Grunde des Wassers empfangen mich Nixen und in der Schlacht gefallene Ritter. Gewaltigen, stahlgerüsteten Körpern fehlen die Köpfe. Es wird der Tag kommen, an dem der Sumpf mich nicht mehr freigeben wird. Dem blendend weiß getünchten Saal mit Eisenbetten fehlen die Türklinken. Ich bin in die Träume fixiert.
In den Pausen und an den Nachmittagen, wenn ich meine Schulaufgaben recht und eher schlecht oder meistens garnicht erledigt habe, nehmen mich Märchen, Sagen und Geschichtsbücher gefangen. In eine Welt, in der Könige aus Geschlechtern, die aus dem brennenden Troja entflohen sind oder aus noch älteren Zeiten von Nil und Euphrat und der Entstehung der Welt stammen, Macht über Leben und Tod haben. Der König lässt den Untergebenen köpfen und lässt den Kopf auf einen Spieß stecken. Der König lässt den Sklaven bei lebendigem Leibe bis zum Hals in der Erde begraben und der einsame Kopf wird im Sand qualvoll verhungern und verdursten. Die Macht des Vaters ist unendlich. Die Strafe des Vaters ist furchtbar. Meine Mitschüler hassen und verachten mich und meiden jede Berührung mit mir. Der Kaiser lebt in einem Schloss mit wehrhaft zackigen Zinnen und einem Kosmos riesiger Säle. Ich liebe die Knechtschaft. Ich liebe die Grausamkeit. Ich bin einsam. Im Spiegelsaal meiner Wahngebilde verliere ich mich. Fieberhaft fahnde ich nach den Regierungsperioden der Herrscher. Eine unbefleckte Empfängnis brachte mich zur Welt. Der Kaiser gibt mir einen Boden. Der erste Kaiser Europas war Augustus 31 vor Christus. Bis 1917 stand Russland unter der Knute des Kaisers. Gold, Rubinen, Smaragde der Krone funkeln. Die blutig schneidenden Brillanten glitzern. Die Krone ruht hinter Panzerglas, dem alltäglichen Zugriff entzogen, auf einem purpurnen Samtkissen. Die Krone ist ein Ding wie Klobürsten oder Zahnstocher. Die Krone ist kein Ding, sondern eine Kraft, die ganze Völker verzaubern und verbluten lässt.
Der Vater gibt dem Sohn die Kraft seines Schwertes weiter. Ein Tier gibt die Kraft der Väter an die Nachkommen weiter. In der Mitte des Labyrinthes steht ein Mann mit Stierkopf. Im Wüstensand ruhen Löwen mit Menschenköpfen. Ein Mann mit Schakalskopf steht mit einer Waage unter der Erde.
Es ist Spätsommer. Die letzten sonnenüberstrahlten Tage im September. Ich lese ein Buch über die Sumerer und die Babylonier. Im Haus meiner Mutter arbeitet der Maler und es riecht leicht käsig nach Farbe. Die Wände werden weiß gestrichen. Das flirrende Blau des südlichen Himmels und der Sand der Wüste und des Gebirges, unter dem Marduk und Gilgamesch, Ninive und Ur verborgen liegen und irgendwann zu Tage treten werden.
Die Leere lähmt mich und ich habe nie verstanden, was mich lähmt. Die Archäologen graben aus tiefen Erdschichten etwas, das die Menschen vergessen wollen.
Es wird die Menschheit vernichten.

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© 2023 Michael Wiedorn (Text & Bild)
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