Von Michael Wiedorn
Die weiß-blaue Straßenbahn fährt unter einem grauen Winterhimmel die Schellingstraße nach Norden. Während meiner Münchenaufenthalte verbrachte ich den größten Teil des Tages im Schlafzimmer der Wohnung meiner Mutter und las und las und ließ mich in die Trägheit fallen. Ein kleines Kind lässt sich in die sanften Arme seiner Mutter fallen. In den letzten Jahren vor ihrem Tode fuhr ich auch Ende Oktober nach München zu ihrem Geburtstag. Weder am Himmel noch in mir schien die Sonne, sondern dunkle, graue Wolken zogen über die kahlen Bäume und Sträucher. Nach einer langen Bahnfahrt kam ich im Dunkeln auf dem Hauptbahnhof an. Durch die unterirdischen Ebenen des Hauptbahnhofs irrte ich immer die selben Wege hin und her, bis ich die U-Bahn Richtung Feldmoching fand. Ich fuhr mit der U-Bahn bis zum Hohenzollernplatz. Nachdem ich ausgestiegen war, kam ich immer beim falschen Ausgang aus dem U-Bahn-Labyrinth ans Tageslicht Schwabings und lief dann die ausdruckslosen, sterilen Hausmauern entlang, bog eine Straße ein, am Hotel Hotello vorbei, die Zittelstraße rein. Ich öffnete das nach innen schwingende Eisengittertürchen zum Wohnblock, in dessen Erdgeschoß die Wohnung meiner Mutter lag. Nach vielen Monaten suchte ich wieder den Schlüssel um die Haustüre zu öffnen. Es hat sich nichts geändert. Eine verglaste Haustüre. Links die Briefkästen, rechts die Steintreppe zu den oberen Stockwerken. Geradeaus der Lift. Nach vielen Monaten war ich wieder hier. Wenn ich im Winter ankam, fühlte ich die nur halb verhohlene Freude, die nächsten Wochen und Monate im bequemen Sumpf meiner Faulheit zu versinken. Hier hielt ich mich meistens vom Januar bis zum März auf. Viele Tiere ziehen sich im Winter in eine Höhle zurück um zu schlafen. Diese Monate leben sie garnicht richtig, sondern lassen sich in Träume versinken. Die Stimmung in der Wohnung war immer gedämpft bis traurig. Der stille Wohnort eines Menschen, der nichts mehr vom Leben erwarten kann. Ein Wartezimmer zum Altersheim. Ein Wartezimmer zum Friedhof. Die Wohnung lag im Erdgeschoss und tagsüber fiel der Blick auf eine Grünfläche und auf Wohnblocks aus den frühen Sechziger Jahren. Der Anblick eines nüchternen Krankenhauses oder eines Pflegeheimes. Meine Mutter war immer sehr stolz auf ihre Nüchternheit. Ein breiter, gepflasterter Weg führte durch den Rasen zu der exakt gleichen Haustüre wie die Unsere. Ganz selten sah ich Leute auf diesem Weg. Mitten im Rasen ragte eine Eiche weit in die Wolken hinauf. Im Schlafzimmer blickte ich manchmal vom Buch aufwärts den riesigen Baum hoch und sah den Krähen, die in den Himmel flogen, nach. Der grau-weiße Himmel dehnte sich bis in die fernsten Weiten aus. Die Krähen und die Wolken zogen so weit hoch oben, dass sie von den Städten und Ländern tief unter ihnen nichts wahrnahmen. Meine Wohnung in Berlin-Kreuzberg, die ich den überwiegenden Teil des Jahres bewohnte, wurde im Winter mühevoll mit Kohlen beheizt. In der knackigen Januar- und Februarkälte, wenn die Fensterscheiben unter Eisblumen vergraben waren, hätte ich zweimal zehn Stück Kohle in den Ofen schieben und mit Streichhölzern anzünden müssen. Das Appartement meiner Mutter wurde mit Zentralheizung geheizt. Die Zentralheizung birgt unter seinen gewaltigen, unappetitlich warmen Titten das nackte, allein nicht lebensfähige Baby, das geil an den Nippeln die warme Milch saugt. Ich werde nie in die Welt hinaustreten, sondern ich werde mich immer tiefer in die Bauchhöhle hineinbohren.
Meine Mutter saß in ihre Leere und in ihren zusammengeschnürten Ichpanzer vergraben den ganzen lieben Tag vor dem ständig laufenden Fernseher, dessen Sendungen sie immer weniger wahrnahm und verstand. Was lief durch ihre Hirnwindungen? Wahrscheinlich immer wirrere Erinnerungsfetzen aus ihrem verflossenen Leben. Aus ihrer Jugend.
Ich saß alleine im Schlafzimmer auf einem österreichischem Empiresessel in Bücher vertieft. Ich lebte in München völlig vereinsamt und ereignislos wie ein todkranker Greis. Ich war in die Traumbilder meiner Lektüre eingesperrt. Kinder leben in Träume und Märchen weggesperrt. Die wie Pralinen süßen Küsse von Elfen und Feen verschließen für immer die Lippen des Kindes. Eine liebevolle Hand drückt das Köpfchen des Kleinen in den giftgrünen Sumpf, bis es für immer verschwindet.
Bei der Ankunft aus Berlin schloss ich öfters möglichst lautlos die Wohnungstüre auf. Ich horchte, bevor ich den Schlüssel ins Schloss steckte, ob der Fernseher laut aus dem Inneren der Wohnung dröhnte. Das Schloss gab nach und ich sah vom Flur aus, dass meine Gastgeberin wie immer träge und gleichgültig vor dem Fernseher saß. Ich blickte vom Türstock aus auf meine Mutter, die entweder unbeteiligt auf den Bildschirm schaute oder irgendwo anders hin. Ich wusste nicht, ob sie innerlich völlig leer von Gedanken und Gefühlen war oder in Erinnerungen versunken war. Sie war da, aber wie eine Hülle, die nur eine hohle Abwesenheit umkleidete. Lautlos bewegte ich mich in die Küche, um in den Eisschrank zu blicken, was zum Essen da war. Meistens war der Eisschrank leer. Im Flur zog ich ohne Licht zu machen die Schuhe aus und ging auf Socken ins Schlafzimmer und sah mich hier gezwungen doch die Deckenbeleuchtung anzuschalten, um im Kleiderschrank nach meinem Schlafanzug zu suchen und mich umzuziehen. Als wäre ich nie weggewesen, erschien ich umgezogen im Wohnzimmer um der alten Frau gegenüberzutreten. Ich erwartete jedesmal, dass die Demente nicht merkt, dass ich die letzten Monate abwesend war und nur eben aus dem Zimmer trat, als wäre ich schon lange da. Sie taumelte in den Nebeln ihres Selbst und mir schien, als wüsste sie nicht welchen Monat und welche Tageszeit wir haben. Sie fiel nie darauf rein, beziehungsweise verschwand sie nie in das Ahnenalter, in dem Gegenwart und Vergangenheit restlos ineinander verschwimmen. Sie sah es als meine Marotte an, dass ich, bevor ich sie begrüßte, heimlich ins Schlafzimmer schlich um mich umzuziehen. Gehen wir noch in ein Restaurant in der Nachbarschaft? – frug ich sie. Sie musste sich natürlich richtig anziehen. Einen Schweinebraten mit Kartoffelknödeln. Sie zog ihr schlampiges Hauskleid aus und zog ein sauberes Kleid und einen warmen Mantel an. Sie legte immer großen Wert darauf ihre Lippen mit Lippenstift purpurn anzumalen. Sie zog sich mit viel Mühe ihre Winterstiefel an. Ihre Füße waren immer feuerrot und mit Wasser angeschwollen. An einigen Stellen waren sie sogar bläulich-violett! Wir waren jetzt fertig und schlossen die Türe ab. Sie sah zu und rüttelte nochmals zur Sicherheit an der Türe. Fremde könnten in das Heim eindringen und es mit ihrer Fremde verseuchen.
Die Gaststätte war nicht weit, aber meine Mutter trippelte so langsam, dass der Fußweg länger dauerte, als die ganze Bahnfahrt von Berlin nach München. Auch Schnecken erreichen ihr Ziel. Die Langsamkeit meiner Begleiterin war nicht nur durch das Alter bedingt. Langsamkeit gehörte, seit dem ich auf der Welt bin, zu ihrem Wesen. Ihre Zeit floss nicht, sondern verklumpte zu einem zähen Brei. Das eine Jahr unterschied sich nicht vom vergangenen Jahr. 1980 unterschied sich nicht wesentlich von 2015 oder 1970. Sie ist zwischen 1964 und etwa 1970 erstarrt. Nur die Altersfäulnis schritt voran. Irgendwann wird der Faden reißen und sie wird nie wieder vom Beweglichen und von irgendwelchen Verwandlungen bedroht. Im Herbst und Winter war der Weg zur Gastwirtschaft entweder vom Laub oder von Schnee oder Eis rutschig. Ich mied es meine Mutter am Arm zu führen. Ich mied jede allzu enge Berührung. Ich lief voran, blieb stehen und blickte zu ihr zurück und wartete auf sie. Ich legte großen Wert auf Abstand zu ihrem Körper.
Nach überstandenen Kämpfen und Mühen erreichten wir das Restaurant. Ein klinisch weiß gestrichener Raum mit dunklen Holzmöbeln. Das Publikum bestand aus arrivierter, karrierebewusster, reifer Jugend bis etwa vierzig. Gehobener Mittelstand, der sich überwiegend über Geldanlagen oder den Kauf von teuren Konsumartikeln unterhält. Kühle, professionell freundliche und unscheinbar hübsche Kellnerinnen mit gefrorenem Lächeln für die zahlenden Gäste. Wir bestellten und warteten dann. Wir wussten nicht, was miteinander sprechen. Es war im verflossenen Jahr nichts von Bedeutung geschehen. Mein Gegenüber sah sich als betont sachliche und nüchterne Geschäftsfrau, die sich am liebsten über Geldanlagen oder Einkäufe unterhält. Wir hatten nichts zu sagen außer Floskeln oder Plattitüden. Ich nahm die nicht zu Ende gelesene Lektüre aus meiner Jackentasche und versank bis zur Ankunft des heiß ersehnten Schweinebratens in den Träumen der Literatur. Die Atmosphäre und die Leute im Lokal langweilten mich. Die anbiedernde, aber eiskalte Freundlichkeit und Sachlichkeit einer Bankfiliale. Meine Tischgenossin versank beleidigt in sich selbst und zog eifrig und sog an ihrer Zigarette. Nach dem Essen ging es den selben Weg zurück nach Hause.
Ich schlief auf einer zerschlissenen Matratze auf dem Teppich im Wohnzimmer, von der aus ich bequem fernsehen konnte. Nachts versank ich in den Blutspuren zwischen vermoderten Mauern Brooklyns. Ich saß in Luxuslimousinen neben hohen Tieren des CIA oder des KGB. Ein gefährlicher Serienmörder trieb sein Wesen in den finsteren Straßen Sohos. Die Wohnung meiner Mutter lag im Erdgeschoß und die Biedermeiermöbel im Wohnzimmer flackerten im Helldunkelgeflimmer des Fernsehers. Ein bösartiger Fremder schlich sich in die Wohnung und wartete in einer verborgenen Ecke mit dem Messer auf mich. Der Eiffelturm im Frühling flackerte in Schwarz-weiß. Eine samtäugige Fee im Diorkleid schlenderte durch barocke Säulengänge.
Als Kind saß ich mit meiner Mutter und einer Freundin im Café Anast im Hofgarten. Die gelben, klassizistischen Kolonnaden um den Hofgarten bargen elegante Boutiquen und teure Antiquitätenläden. Stundenlang quälte mich die tödlichste Langeweile unter den Kristalllüstern in neorokokommoden Modesalons. Goldglänzende Seidentapeten. Meine Mutter schmiegte sich in Nerzmäntel, in Leopardenmäntel. Die geschmeidige Kraft des Leoparden wurde mit Kugeln erlegt. Das Raubtier wurde geopfert um schwächlichen Frauenkörpern das Aussehen und die Kraft der Raubkatzen zu verleihen. Die samtäugige Schöne schmiegt sich in die Arme Alain Delons.
Bis tief in die Nacht sah ich fern bis die Müdigkeit meine Augen zudrückte. Ich machte dann den Fernseher aus und fiel in das mir fremde, aber doch heimische Dunkel weit unter dem Esstisch auf der Matratze auf dem Buchara, den mein Urgroßvater aus dem zaristischen Usbekistan nach Deutschland mitgebracht hatte. Ich schlief ein und Wüstenstaub verhüllte hoch aufragende Minarette. Wenn ich plötzlich erwachte, war ich in der ersten Nacht nach meiner Ankunft aus Berlin ganz verwirrt. Ich schlug die Augen auf. Wo bin ich? Ganz tief drunten im Dunklen.
Am Morgen erwachte ich. Durch die Ritzen der Rollläden sickerte manchmal schon soviel Licht, dass ich ganz undeutlich die Umrisse der Möbel erkannte und erst in der Küche um den Kaffeekocher mit Wasser zu füllen Licht machen musste. Wenn ich schon um sieben oder acht Uhr aufwachte und aufstand, war es im Januar noch so dunkel, dass ich mich von der Matratze bis zum Lichtschalter direkt neben der Zimmertüre durch das tiefe Schwarz der Nacht kämpfen musste. Vielleicht bin ich garnicht in der mir vertrauten Wohnung aufgewacht sondern in einem fremden, mir feindlichen Raum? Vielleicht stehe ich in einer riesigen, finsteren Halle? Ein Blinder ist hilflos der Wut der Gegenstände ausgesetzt. Das unsichtbare Türholz wird mir hasserfüllt gegen das Nasenbein schlagen. Mitten in der Nacht hat sich der Fußboden aufgelöst und ich stürze tief in die Keller und noch weiter in die Unendlichkeit des Weltalls. Ein Raumschiff fällt mitten während der Fahrt auseinander und die Astronauten fallen und fallen. Es gibt keinen Boden.
Ich drückte auf den Lichtschalter und es war hell. Sofort eilte ich in die Küche und nahm den Kaffeekocher. Am Waschbecken ließ ich den ersten Schwall Wasser in den Gully fließen, damit das kalkige Wasser abfloss. Ich drehte den Hahn auf heiß und ließ das Wasser in die Kanne fließen. Die weißen Kalkfladen werden sich nicht in meinen Adern und meinen Hirnwindungen ablagern. Von Kalk besetzte und verstopfte Adern hindern das Blut am Fließen. Der Kalk setzt sich im Hirn fest und die Welt färbt sich hellgrau ein und der Gedankenfluss fängt an zu stocken und wird bröckelig. Die Motorik wird sperrig und immer langsamer. Die Gesichtszüge verlöschen und die Person erstarrt zu einer unförmigen Kalksäule. Wenn die Kanne mit Wasser gefüllt war, drückte ich auf den Knopf, damit das Wasser zu kochen anfängt. Ein leuchtend rotes Licht blinkte auf. Ich ließ die Jalousie vor dem Küchenfenster hochgehen und das tiefe Dunkelblau der winterlichen Morgendämmerung färbte den Himmel über München. Jemand verließ das Haus gegenüber und lief auf dem verschneiten Weg zum Fahrradständer, an dem unzählige nebeneinander gestellte Fahrräder auf ihre Benutzung warteten. Aus der sonst baumlosen Grünfläche erhob sich das im Morgengrauen klobige Schwarz einer riesigen Eiche, deren viele Äste sich weit oben in den Wolken verzweigten. Das tiefe Indigoblau des Himmels. Aus einer anderen Wohnung strahlte gelb das elektrische Licht. Zu dieser Tageszeit bereiteten sich die meisten Menschen für den Arbeitsweg vor. Ich werde heute zu Hause im Warmen bleiben oder erst später am Nachmittag das Heim verlassen. Am frühen Morgen ist der kalte Wind noch schärfer und kälter. Die Busse und Straßenbahnen sind überfüllt mit grämlichen und mürrischen Fressen. Weit oben flog ein Schwarm Vögel. Ich wartete auf das Kochen des Wassers. In den Trichter der Porzellankanne gab ich sechs Teelöffel Dallmayerkaffee. Ich muss erwachen. Das torfbraune, lösliche Kaffeepulver versprach mich zu erwecken. Aufwachen! Ein schreiend rotes Licht brannte in meine Träume. Der Kaffeekocher begann zu brummen. Das Wasser sprudelte heiß. In Geysiren brodelt siedend heiß das Wasser aus der Erde. Tiere und Menschen würden qualvoll verbrennen. Ich drückte auf den Knopf und das Brodeln des Wassers wurde schwächer. Der Mensch rächt sich an der Natur für seine immer wieder erlittene Ohnmacht, in dem er sie für seine niederen Zwecke in Dienst nimmt. Das ruhig gestellte, aber noch siedende Wasser schüttete ich in den Trichter über die erdigen Kaffeebrocken und der heiß dampfende Sumpf stieg in die Höhe. Der würzige Duft von Dallmayerkaffee.
Als Kind lief ich unter den Gewölben der Dallmayerverkaufsräume in Begleitung meiner Mutter um eine Weihnachtsgans zu erstehen. Es roch nach geröstetem Kaffee, nach frischem, rohem Fleisch, nach Gewürzen. Fleisch hing von den Decken und lag auf den Theken. Ein leicht scharfer Geruch regte den Appetit an.
Aus dem Schlafzimmer rief die Stimme der Wohnungsinhaberin, ob sie aufstehen soll und uns Kaffee machen soll. Die gute Mutter versorgt ihr liebes Kleines, das hilflos und untätig auf Hilfe wartet. Ich sagte ihr, dass sie ruhig weiter schlafen soll. Es ist noch tiefe Nacht – sagte ich. Vor dem Fenster ist alles noch in undurchdringliches Schwarz gehüllt – eine kalte Winternacht – behauptete ich. Ich wollte die nächsten ein oder zwei Stunden allein bleiben. Allein mit meiner Bahnlektüre, die ich noch nicht fertig gelesen habe. Der Winter 2007 war ein Dostojewskiwinter. Der Neurenaissanceturm des Bayrischen Nationalmuseums verband sich mit den „Weißen Nächten“. Der Spätherbst und Winter 2007/2008 war ein Sloterdijkwinter. Ich saß im Keller unseres unrenovierten Fürstenrieder Reihenhauses und las dort über „Weltfremdheit“. Die weißen Betonwände. Vor den Fenstern war es stockduster und wehten die Winde. Unser damals unbewohntes Haus wurde damals totalsaniert. 2015 war ein Umberto-Ecco-Winter. Die die Schellingstraße fahrende Straßenbahn verband sich mit den Geheimnissen des Tempel-Ordens. Bei diesigem Winterlicht las ich von den Protokollen von Zion und dem Friedhof von Prag. Ich goss jetzt am Morgen in der Küche Kaffee in eine Tasse und trug sie ins Wohnzimmer um sie auf eine Kachel neben der Matratze zu stellen. Meine Mutter lag unterdessen im Dunkel und ließ sich in die weißen Daunen des Schlafes abtauchen. Manchmal stand sie kurz nach 9 Uhr auf und bisweilen etwas später, selten lag sie bis tief nach Mittag im Bett. Was konnte sie besseres machen mit dem sich unendlich hinziehenden Tag, als möglichst lange zu träumen und zu schlafen. Wach wartete sie und wartete und erwartete nichts. Das Tageslicht draußen wurde immer heller. Ich saß im Schneidersitz auf der Matratze und las. Durch den durchsichtigen Vorhang blickte ich auf die cremefarbenen Mauern des gegenüberliegenden Wohnblocks. Es begann der graue Alltag eines Krankenhauses oder eines Pflegeheimes. Nach 9 Uhr rief die brüchige Stimme: „Wie spät ist es?“ Ich hörte, wie etwas gegen Holz tappte und das Licht neben ihrem Nachttischchen anknipste. Meine verträumte Einsamkeit war beendet. Das Schlafzimmer, in dem meine Mutter in der Nacht geschlafen hatte, war tagsüber mein Aufenthaltsraum. Am Boden lag ein gelb-blauer chinesischer Teppich. Ein Bücherregal, rechts und links davon zwei blaubezogene Empiresessel. Auf dem Sessel vor dem Fenster werde ich ab jetzt sitzen und lesen. Das Bett, in dem meine Mutter nachts schlief, stand an der Wand, die an die Küche grenzt. Beherrscht wurde das Zimmer von einem großen, ehemals weißen, im Laufe der Zeit vergilbten Kleiderschrank. Über dem Bett hing ein Bild wohl von 1900. Ein fetter, nackter Faun saß in einer sattgrünen Frühlingslandschaft. Durch die Auwälder schlängelten sich zahlreiche Bäche und Rinnsale. Alles war feucht und fruchtbar. Weiden und Sträucher. Der Faun saß an einem Bach und flötete. Bockshörner auf der Stirne zeigten ihn als Teufel. Ein nacktes, schläfrig passives Mädchen streckte sich lüstern neben ihm aus. Sie rührte sich nicht. Sie hielt die Augen geschlossen. Leichenblass war die Haut über ihrem schlanken Bauch und ihren üppigen Titten. Ein hämisches Grinsen lag auf der Fratze des Satyr.
Auf der gegenüberliegenden Wand zwischen Bücherregal und Kleiderschrank hing mit vergoldetem Rahmen eingefasst ein kleines, schmallippiges Mädchen von etwa vier Jahren in einem weißen Spitzenkleidchen aus dem späten Biedermeier. Goldene Löckchen. In der linken Hand hielt sie eine grüngekleidete Puppe. Das Kind hatte schon sein eigenes Kindchen. Beide tauchten aus dem vergilbten Weiß des Papiers auf, als würden sie aus der Eis- und Schneewüste des Todes in die Gegenwart des Biedermeiers eintreten.
Ich räumte mein Lager – die Matratze mit Bettwäsche – aus dem Wohnzimmer ins Schlafzimmer hinüber. Meine Mutter hatte ihr Tageskleid angezogen und holte ihren Aschenbecher aus der Küche, um im Wohnzimmer zu rauchen. Sie rief zu mir: „Meine Minna sieht mich nicht! Meine Minna kennt mich nicht!“ Ich mied jede engere Annäherung an sie. Ich mied und fürchtete jede Nähe zu ihrem alltäglichen, immer selben Alltagstrott. Sie konnte ihren Leerlauf nicht alleine durchstehen und versuchte immer wieder mich in ihr Vakuum reinzuziehen. Wir hatten jetzt die Zimmer gewechselt. Sie saß alleine im Wohnzimmer auf einem Stuhl am Esstisch. Ich saß alleine im Schlafzimmer auf einem Sessel am Fenster. Vom Fenster aus überblickte ich die öde Grünfläche und den gegenüberliegenden Wohnblock. Ganz am Rande sah ich noch auf die Straße. Meistens tauchte ich in meiner Lektüre ab. Es war jetzt Vormittag und das Dunkel von Nacht und Morgendämmerung war endgültig verschwunden. Das hellgraue Licht eines Vormittages. Manchmal brach die Sonne durch die dichte Wolkenmauer.
Am ersten Tag nach meiner Ankunft durfte ich mich nicht in meine Verträumtheit fallen lassen. Es war der letzte, der allerletzte Termin um die Papiere für die Steuererklärung beim Steuerberater abzugeben. Ich musste noch zu Plus am Hohenzollernplatz oder anderswo um Essen einzukaufen. Meistens hatte ich, bevor meine Mutter aufgestanden war, die nötigen Papiere zusammengesucht und in eine Plastiktüte gesteckt. Im Brutwasser durfte ich tauchen und schwimmen und träumen. Der Embryo schwimmt nackt mit dem Daumen im saugenden Mund umhegt von warmem Nass. Fische haben Saugnäpfe. Jahresabrechnungen von Hausverwaltungen, Handwerksrechnungen, Krankenkassenbescheinigungen und so weiter. Ich rief beim Steuerberater an und erklärte, dass ich die Papiere für die Steuererklärung vorbeibringen würde. Bis 17 Uhr wäre jemand da, ansonsten könnte ich den Briefkasten verwenden. Kurz nach Heiligdreikönig ist der Himmel vergrämt. Am Nachmittag werde ich die Belgradstraße hinauflaufen. Beige und graue Hausmauern. Porsches und Volvos werden am Straßenrand im Schneematsch warten oder auf dem freigeräumten Asphalt fahren. Die Straßenbahn wird gelangweilt über die nördliche Leopoldstraße klingeln. Gelangweilte Fahrgäste werden gelangweilt auf die Straße glotzen. Es gibt einfach nichts zu sehen, dass die Menschen aus der Schläfrigkeit reißen könnte. Ich werde an Restaurants vorbeikommen. Italienisch, afghanisch, chinesisch. Ein schäferhundgroßer, bunter Porzellanlöwe mit gefletschten Porzellanzähnen wird die Passanten zu Chop Suey und Glasnudeln einladen. Alles ist weder traurig noch heiter. Ein nie endenwollender Alltagstrott mit Endlosschleife. Nach dem Gespräch mit der Sekretärin des Steuerberaters verzog ich mich ins Badezimmer. Meine Mutter sog an ihrer Zigarette und sah mir enttäuscht nach. Sie war während meines Besuches genauso einsam wie ohne mich. Die Geräusche fremden Lebens drangen aus dem immer laufenden Fernseher und überdröhnten die sonst alles betäubende Stille. Wann gibt der Fernseher den Geist auf und alles ist still? Die Möbel im Zimmer starren die Insassin stumm an und ihr Körper verholzt zu einem weiteren Möbelstück. Ich putzte mir die Zähne und mein Gesicht. Das Badezimmer war voll mit verschiedenen Waschlotions. Ich ließ das Badewasser ein und schüttete Fichtengrün in das aufschäumende Wasser, das langsam, viel zu langsam anstieg. Das Wasser verfärbte sich türkisgrün. Es roch wie ein Fichtenwald. Die Städte und Straßen und Äcker sind auf den Leichen versunkener Wälder gewachsen. Nirgendwo erreichte die Sonne den feuchten Erdboden. Tief unten auf dem Grund sah man die Hand vor den Augen nicht. In Moor und Moose aufgelöst. Das Wasser in der Badewanne ist knapp unter den Wannenrand angestiegen. Ich war begierig ins Warme einzutauchen. Im Wasser zu ertrinken soll fast so qualvoll sein wie zu verbrennen. Die Lunge wird überschwemmt. Das Wasser dampfte. Ich zog mich aus, hielt ganz vorsichtig meinen Fuß ins warme fast heiße Nass. Ich setzte mich mit dem aufgerichteten Oberkörper auf den Wannenboden. Es war zu heiß um sich bequem auszustrecken. Ich ließ etwas kaltes Wasser ein. Das kalte Glänzen des Wasserhahnes erinnerte mich an Operationsbesteck. Ein scharfes Skalpell schneidet dem Patienten die Bauchdecke auf. Jetzt war die Temperatur immer noch sehr warm, aber angenehm. Ich schloss den Hahn zu und lehnte mich zurück. Ich ruhte im ruhigen, warmen Feuchten wie eine Kröte im Tümpel. Mein Blick glitt die blassblauen Kacheln hoch. Auf den hellblauen Flächen konzentrierte sich an einigen Stellen das Blau zu etwas dunkleren Klumpen. In manchen Wassern schweben Erdklumpen. Alle Zimmertüren waren weit geöffnet. Im Bad brauchte ich meistens kein elektrisches Licht, weil das Tageslicht aus den anderen Räumen das Bad erhellte. Ich hörte Stimmen. In der Wohnung ertönten fast nie lebende Stimmen von atmenden, gegenwärtigen Lebewesen. Das nervöse, hysterische Flackern der nie endenden Fernsehbilder bildete das abwesende Leben ab. In der Wohnung liegt eine noch nicht gefundene Leiche. Die Stimmen in der Glotze waren laut und klar verständlich. Eine vermutlich junge Frau erklärte wohl wahrscheinlich irgendeinem Kriminalkommissar ihre Beziehung zu irgendeinem Dr. Berger. Liegt seine Leiche hier im Wohnzimmer? Statt auf das Gesicht der Frau schaute ich auf die neben der Wanne stehende Kloschüssel. Das Weiß des Porzellans war etwas angegilbt. Die Klobrille hatte im Laufe der Jahrzehnte ihr Weiß verloren und war jetzt von einem schmutzigen Gelb. Der Klodeckel hatte sich schon vor einigen Jahren von der Brille gelöst und stand jetzt lose vor dem Spülkasten. Beim Scheißen musste man immer aufpassen, dass der Deckel auf den Boden kracht. Das Haus war kein richtiger Altbau, aber wurde schon Anfang der Sechziger Jahre gebaut und hatte schon deutliche Verschleißerscheinungen. An der Seite der Wanne war ein abzunehmender Deckel, unter dem es ins Unterirdische der Wanne ging. Ein lichtloser, düsterer Bauch voller Rohre und nasser Spinnweben. Wann erscheinen die Ratten? Ich sah jetzt, dass sich zwei Kacheln sich von der Wand zu lösen begannen. Im tiefsten Dschungel steht eine vor vielen Jahren aufgegebene Villa. Die Bäume wachsen schon durch das Dach. Im Badezimmer haben sich viele Fliesen von den Mauern gelöst und liegen zerbrochen auf dem mit schwarzen Pfützen verschmutzten Boden. Ins Bad ist tief grünes, fichtengrünes, dick brackiges Wasser eingelassen. Welches, vereinsamte Ungeheuer nimmt hier sein Bad? Die Titelmusik eines Fernsehkrimis erklang. Die Geräusche von Autoreifen quietschten. Die Stimme einer Schauspielerin, die eine Nutte mimte, schrie entsetzt. Das Tageslicht bekam jetzt eine sonnige Tönung. Ich stieg aus dem Bad, ließ das Wasser aus, trocknete mich ab und ging in die Küche um mir eine Toblerone zu holen. Ich öffnete die gelbe, längliche Schachtel, zupfte das Silberpapier ab und das dunkle Braun der Schokolade erschien. Meine Mutter mochte es nicht, wenn ich mich an ihrem Vorrat an Toblerone vergriff. Sie fürchtete sich vor dem Tag, an dem sie den Küchenkasten öffnet und es ist keine einzige Toblerone vorhanden. Der glorreiche Moment am Tag, in dem sie zum Küchenkasten ging, ihn erwartungsvoll und lüstern öffnete, die Schokolade herausnahm, sie aus ihrer Verschalung und Umhüllung befreite und sie dann mit dem Messer in winzige, leicht verdauliche Stückchen schnitt, war der Höhepunkt des Tages. Der Glanz und Sonnenschein im grauen Einerlei des Tages. Ein kleines Kind bekommt von seiner Mami zur Belohnung, weil es so brav war, einen leckeren Schokoriegel. Sich etwas Gutes leisten. An den Vormittagen trug ich immer wieder meine leere Kaffeetasse ins Wohnzimmer, in dem meine Mutter saß und die Kaffeekanne auf einer Kachel stand, um mir Kaffee einzugießen. Meine Konkurrentin nahm schnell bei meinem Eintritt die Kanne an sich um sich selbst einzuschenken, aus panischer Angst, dass ich den ganzen Kaffee auf einen Schlag wegtrinke. Wie schnell sind die guten Dinge des Lebens aufgezehrt und sie geht wieder leer aus. Es mangelt an allem und es wird der Tag kommen, an dem nichts mehr nachwächst. Mutter Natur trocknet zu einer Steinwüste aus. Die sonst Milch spendenden Busen zerfallen zu Staub. Nachdem sich meine Mitbewohnerin sich eingeschenkt hatte, führte sie den befeuchteten Finger unter den Ausgussschnabel um den rinnenden Kaffeetropfen aufzufangen und führte dann den Finger zum Mund um ihn abzulecken. Nichts darf verloren gehen! Kein Bröselchen und kein Tropfen! Wie schnell ist das traute Heim verdreckt und versumpft! Überall auf den Tischen, auf den Teppichen triefende Fettflecken und Saftflecken und Fleischflecken. Fleischig fette Schmeißfliegen werden sich auf unser schwitzendes Menschenfleisch setzen und werden Viren und Bakterien übertragen. In der Küche wird sich der Abfall häufen und der Gestank wird scharf und schneidend sein. Die Grünanlagen vor dem Fenster werden sich in fiebernde Sümpfe verwandeln.
Als sie sich eingeschenkt hatte, übernahm ich die Kanne und goss mir Kaffee ein. Auf dem Bildschirm erzählte eine aschblonde Frau mit Kassengestell über die erfolgreiche Integration von behinderten Jugendlichen in eine Gesamtschule in Aschaffenburg. Draußen fiel Schneeregen vom dunklen Winterhimmel und der Asphalt glänzte feucht. Leichte, fast durchsichtige Flocken lösten sich auf der Rasenfläche in Wasser auf. Am ersten Tag nach meiner Ankunft aus meiner kalten, mit Kohle beheizbaren, aber meist ungeheizten Wohnung in Berlin, liefen mir beim Gedanken an meinen eisigen und nassen Gang zum Steuerberater die kalten Schauer den Rücken runter. An den anderen Tagen nahm ich mir mit viel Genuss vor, die warmen Zimmer nicht zu verlassen. Ich sollte mir ein Etui kaufen, in das ich mich hineinschmiege. Ich werde essen und fressen und meine Lektüre wird mich zum Kind schrumpfen lassen, das durch Märchenwälder und Zauberberge irrt. Ich werde mich im warmen Etui, im warmen Schneckenhaus strecken und meine Fantasie wird den ganzen Erdball erobern und alles verschlingen.
Mit der gefüllten Kaffeetasse ging ich langsam und vorsichtig in das Schlafzimmer zurück, weit fort von Mutter und Gesamtschulen und irgendwelchen Integrationen. Ich stellte die Tasse neben den Sessel auf eine Kachel auf dem Fußboden, um weder Teppich noch das Parkett zu beflecken. Das Schneetreiben nahm noch zu. Vielleicht wird der Schnee liegenbleiben und wenn ich zum Steuerberater gehe, werde ich mich durch die Schneemassen kämpfen müssen. Ich wollte gegen nichts kämpfen. Ich mochte nichts, was mir Widerstand leisten könnte. Ich las im Buch weiter. Im Duell wird der Titelheld des Romanes im Herzen getroffen. Er sackt zusammen und der verschneite Wald und die zugewehten Felder in der Ferne verschwimmen im sich verdichtenden Dunkel des hereinbrechenden Todes. Ich saß gefahrlos und bequem auf dem Sessel am Fenster. Es hat endlich zu schneien aufgehört. Ich legte das Buch zur Seite und stand auf. Die Pflicht des Sohnes einer wohlhabenden Steuerzahlerin, der man auf Grund ihres hohen Alters nachsah, dass sie den Gang in die klirrend kalte oder vielleicht nur etwas kühlere Außenwelt mied, rief. Die Pflicht rief und brüllte mit der harten Stimme von Vater Staat. Ich vermied beim Anziehen jedes laute Geräusch. Erst vollständig bekleidet wollte ich mich von meiner Mutter verabschieden. Spätestens im Flur, der das Schlafzimmer mit dem Wohnzimmer verband, in dem ich mir die schweren Winterstiefel anzog, hätte das Gerumpel die Hausherrin aus dem Dämmerzustand rausgerissen und sie hätte aufgeregt gefragt, was los sei oder sie hätte ihre Zigarette brennend auf den Rand des Aschenbechers gelegt, wäre vom Stuhl aufgesprungen und hätte ihren Mörder mit dem Brecheisen in der Hand erwartet. Fremde stehen schon in der Wohnung und du weißt nichts davon. Du wechselst nur das Zimmer und stehst plötzlich in leer ausgeräumten Zimmern. Die antiken Möbel und die Orientteppiche haben sich in Luft aufgelöst. Hat es sie jemals gegeben? Meine immer Verschmähte hörte die harte Ledersohle meiner Winterstiefel und fürchtete, dass ich sie nach nur einer Nacht schon wieder verlasse und für lange wieder raus in den Kampf des Lebens marschiere. „Bist du das? – Wo willst du hin?“ – frug sie mich erschrocken. „Ich muss doch zum Steuerberater und danach noch Essen einkaufen“ – erwiderte ich. Ihr Gesicht entspannte sich. Ich werde ihr erhalten bleiben. Viele Wochen noch. Vielleicht Monate. Vielleicht wird man uns gemeinsam beerdigen. Kinder gehören in den Bauch!
Unsere Schuhe standen immer auf alten Zeitungen, damit der Straßendreck nicht unsere Fließen beschmutzt. Ich gab ihr einen sanften Kuss auf die Lippen. Sie war so sanft und traurig. Ich fühlte mich wieder als das Kind, das ich früher war und dem ich immer aus dem Wege ging. Erst in den letzten Jahren vor ihrem Tod und meiner eigenen schwindenden Jugend wagte ich diesen Kuss, wagte ich diese Kindlichkeit. Sie stand häufig da, als würde ich abreisen und nie mehr wiederkommen. Die Wohnungsinhaberin stand auch da um aufzupassen, dass ich wirklich den Schlüssel sorgfältig zweimal im Schloss umdrehe. Der Eindringling. Beim Öffnen der Türe drang die Kälte aus dem Treppenhaus. Das Weiß der kalten Wände im Treppenhaus. Das Weiß der Schneewände. Ich ließ die Türe ins Schloss fallen und drehte brav zweimal den Schlüssel im Schloss um. Rechts von der Wohnungstüre hing die Klappe für die Müllentsorgung. Man zog die metallene Klappe herab, schüttete den Inhalt der Mülltüte in den Metallbehälter, dann schloss man die Klappe und der Abfall fiel durch die Rohre in die Mülltonne, die im Keller stand. Die Klappe war für den Abfalltüteninhalt meistens zu klein und man musste mehrmals das lärmende Metall betätigen. Es klapperte und klapperte mehrmals durch das ganze Haus. Die Wände im Treppenhaus waren nicht mit einfacher Farbe gestrichen, sondern sie glänzten leicht und waren mit unzähligen Pickeln übersät. Weiter rechts von der Klappe waren die Eingangstüren zu zwei anderen Wohnungen. Die braunen Türen waren mit künstlicher Baumrindenmusterung versehen. Ich ging nach links Richtung Fahrstuhl, dann nach rechts an den Briefkästen vorbei zum Hauseingang, durch deren Glasflächen man auf die selben Grünanlagen wie auf der anderen Seite blickte. Gelbe Wohnblocks von der immer gleichbleibenden Nüchternheit. Ich öffnete mit dem anderen Schlüssel, der mit einem anderen Schlüssel, dessen Funktion ich nicht kannte, an einem Ring hing. Es war kalt, aber nicht so kalt wie ich in der Zentralheizungswärme befürchtet hatte. Ich war im Freien, draußen. In der Hand hielt ich die Plastiktüte mit den Papieren für die Steuererklärung. In der Plastiktüte hatte ich noch eine zweite Plastiktüte um später beim Esseneinkauf keine neue Tüte kaufen zu müssen. Ich überquerte das Rondell, an dem die Autos wenden mussten – die Straße, in der meine Mutter wohnte, war eine Sackgasse – an den Mülltonnen vorbei zu einer starken Eiche. Die Wohnung im Erdgeschoß des Hauses, an dem ich vorbei musste, war immer noch unvermietet. Ein großes Schild eines Immobilienmaklers bot eine schöne, zentralgelegene Praxiswohnung an. Ich sah die weiße Fassung der Fenster und blickte auf die weiß gestrichene Decke. Diese Räume standen schon seit Jahren leer. Der Aufenthalt in schon seit vielen Jahren leer stehenden Zimmern, in denen schon seit Jahren kein Leben stattfand, ist immer beklemmend. Seit Jahren gleiten hier nur die wachsenden und schwindenden Schatten. Ein altes Ehepaar um die Siebzig begegnete mir. Beider Augen waren mit dicken Brillengläsern vor der Außenwelt beschützt. Dicke Wintermäntel mit Schal und dicken Wollmützen umhüllten ihr schwindendes Fleisch. Ich kam an der strammen Eiche vorbei. Ein kräftiger Stamm, der die Weiten des Himmels mit den Würmern und Larven der Erde verband. Eine weiß gestrichene Holzbank umschloss die Rundungen des Baumes. Ich saß oft auf ihr und las. Vielleicht breitete sich hier vor vielen Jahrhunderten ein Eichenwald aus. Ein Schwarm Raben flog in die Wolken auf. Die Gebäude der Belgradstraße, auf die ich zuging, waren matt gelb. Was hätte mir hier in die Augen stechen können? An der Litfasssäule hingen Plakate. Ausstellungen in der Stuckvilla, im Haus der Kunst, eine Motorradmesse und noch viel Anderes. Das Kieser-Sportstudio klirrte mit seinen Hanteln. Eine Unterführung unter einem Haus mit dem Zugang zu einer Tiefgarage führte in ein tieferes Dunkel. Der Boden, auf dem ich ging, war nur eine dünne Hülle über ein weit verzweigtes, unterirdisches System von Gängen, Garagen und Kellern. Wann soll diese Hülle einbrechen? Krieg und Erdbeben. Ich fühlte mich auf diesem Boden sicher. Meine Füße fühlten Bodenhaftung. Auf der einen Seite des Durchganges zwischen Zittelstraße und Belgradstraße lag eine Boutique, in die fast nie Kunden kamen. Eine graue Brandmauer. Die Straßenbahn klingelte und fuhr behaglich vorwärts. Ich kam an vielen Hauseingängen vorbei, durch deren Glasscheiben ich die Lifttüren und die weißen, beigen, flaschengrünen Korridormauern erblickte. Große, geleckt sanierte Gründerzeithäuser in milden Farben, durch deren große Fenster, die in viele, kleine Felder aufgeteilt waren, blickte ich auf Kristalllüster in kultivierten, hochkultivierten Altbauappartements. Ein Kinderspielplatz zwischen Kastanienbäumen. Auf einer grün gestrichenen Bank saß eine vermummte Mutter, die ihre Kinder beim Spielen beobachtete. Gegen die Unbilden des Lebens behütete. Ich setzte mich auf eine andere Bank und las in meinem Buch. Die Kinder waren ebenfalls mit Wollmütze und gefütterter Jacke und dickem Schal verpackt und spielten auf den Turngeräten. Sie waren im Vorschulalter. Der Junge stieg von der Schaukel herunter, lief auf mich zu, blieb vor mir stehen und beobachtete mich beim Lesen. „Was machst du da?“ – fragte er mich und lächelte mir zu. „Ich kann schon Fußball spielen“ – erklärte er mir stolz. Seine kindliche Zuneigung erfüllte mich mit Stolz. „Benjamin – was machst du da? Komm schleunigst her!“ Die Mutter blickte von der anderen Bank her ganz nervös auf ihren Sohn und würdigte mich keines Blickes. Der Junge drehte sich wortlos um und lief auf seine Beschützerin zu, die auch noch ihre Tochter zu sich rief. Sie stand abrupt von der Bank auf, nahm ihre beiden Kinder an der Hand und verließ entschlossen den Spielplatz.
Ich klappte mein Buch zu und verließ ebenfalls den Spielplatz. Solange ich nicht meine Papiere abgegeben hatte, hatte ich keine Ruhe. Außerdem fror ich. Ich ging weiter Richtung Nordosten. Ich musste über die Münchner Freiheit hinaus. Richtung Feilitzschstraße. Die Häuser wurden kleiner. Viele Einfamilienhäuser mit Garten. Eine leicht verwahrloste Reihenhaussiedlung aus dem Dritten Reich. Links ein Sportplatz. Ich ging rechts zur Leopoldstraße. Hier war die sie noch nicht die Amüsiermeile, die sie weiter stadteinwärts ist. Weiße Matratzen im kühlen Licht einer Bettengroßhandlung. In der Mitte der Straße fuhr eine Straßenbahn. Diese weltberühmte Straße war hier so alltäglich und gesichtslos, wie ich mir irgendeine Ausfallstraße etwa von Gelsenkirchen vorstelle.
In einer Seitenstraße auf der anderen Seite der Straße betrat ich das mehrstöckige Haus, in dem der Steuerberater sein Bureau hatte. Schwarz glänzende Treppen und weiß leuchtende Mauern. Selbst im heißesten Sommer dürfte das Treppenhaus klirrend kalt sein. Ein Stürzender schlägt sich an der Härte des Steines den Schädel ein und verblutet wie Schlachtvieh. Ich klingelte an mein Ziel angelangt und eine schlecht gelaunt blickende Frau in mittleren Jahren öffnete. Ich nannte mein Anliegen und übergab ihr das Paket oder der Steuerberater war gerade da und sie bat mich im Flur zu warten. Nach einiger Zeit bat mich dann der Steuerberater mit schwerer Zunge – als wäre er etwas angetrunken – zu sich herein. Wir gaben uns die Hand. Ein großer, klobiger Mann um die Sechzig mit grobem Bauerngesicht und dichtem, grauem Haar bot mir in schwerem Bayrisch Platz an. An der Wand ein von Glas beschütztes Poster. Marilyn Monroe von Andy Warhol. Ein Mann, der mit der Zeit geht und die schönen Frauen liebt. Abgesehen von schönen Grüßen an die Frau Mama und wie geht es denn der Frau Mama sprachen wir nie etwas Privates miteinander. Wer war ich denn für ihn? Einer, der nichts im Leben erreicht hatte. Ein Nichts. Ein überdimensionaler Säugling, der noch versorgt werden muss. Ich war fast in seinem Alter. Meine Mutter war lebenslänglich in ihre Kindheit eingesperrt. Sie war aber eine Frau. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Der Steuerberater blickte auf die Plus- oder Karstadtplastiktüte mit den Unterlagen und brummte „Unsere Gesammelten Werke“ und nahm die Papiere heraus. Er wird sich durch den Dschungel unserer Einnahmen und Ausgaben kämpfen. Er hat Großunternehmer und Millionäre und vielleicht sogar Milliardäre aus der Münchner Schickeria als Klienten, die im Leben etwas aufgebaut haben, die ihre Unterlagen fachmännisch geordnet vorlegen. „Ich werde alles bei gegebener Zeit durcharbeiten“ – lallte er. Wir standen auf, reichten uns die Hände und ich verließ das Bureau.
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© 2023 Michael Wiedorn (Text & Bild)
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