Von Michael Wiedorn
Die Stadt München lag vor mir. Für Ausstellungen war es zu spät. Ich konnte überall hingehen und nichts reizte mich. München versprach nichts, was mich reizen könnte. Wie oft lief ich durch Schwabing zwischen den immer gleichen Häusern – geleckt wie auf dem Reißbrett. Immer den gleichen Gang die Leopoldstraße hinunter. Immer wieder die Ludwigstraße hinab. Die Palais, die festungsähnlichen Mauern der Staatsbibliothek, die weißen Mauern der Ludwig-Maximilian-Universität. In der Ferne die Feldherrnhalle. Ich bin immer wieder die Straßen rauf und runter gelaufen. Ziellos und gelangweilt. Immer wieder an der Uni vorbei. Die selben laublosen Bäume strecken ihre kahlen Äste in den tristen Winterhimmel. Die selben, feuchten Sitzbänke, teilweise mit Schnee bedeckt. Das Holz ist von der Feuchtigkeit eingedunkelt und voller Einschnitte und Rillen und Rinnen. Die Stadt hielt mir ihre Arme entgegen, aber ich erwartete nichts.
Ich verließ die Kanzlei, kam am Beton einer Eigentumswohnanlage vorbei. Ich erreichte die Kirche an der Münchner Freiheit. Einmal betrat ich sie und stand dann etwas ratlos in einem schmucklosen Betsaal. Tja, das habe ich jetzt auch gesehen und was nun? Ich verließ sie schnell wieder. Ich lief durch eine Unterführung. Die Betonwände waren mit Graffitis und nassen, zerrissenen Plakaten bedeckt. Meistens lag eine Matratze auf dem Steinboden. Im Winter schneidet der Wind scharf durch die Straßen und der fallende Schnee bedeckt den Schläfer mit dem ewigen Frieden. Die schutzlose Nacktheit muss unter vielen Hüllen beschützt werden. Ich muss auf dem gefrorenen Steinboden die Nacht überleben und werde die ganze Nacht kein Auge zukriegen. Der eisige Wind und der Frost beißen und fressen sich in meine innersten und tiefsten Eingeweide fest. Die Graffitis waren keine Bilder, sondern verkrüppelte Nachahmungen von Buchstaben, die nichts bedeuteten oder nur ihre Hohlheit zur Schau stellten. Auf der anderen Straßenseite sieg ich wieder an die Oberfläche. Überall Geschäfte und Boutiquen mit Klump und Krempel, deren einziger ersichtliche Zweck war, verkauft zu werden. Das Hertiehochhaus. In Reihe stehende Schuhe die Reihe um Reihe auf Käufer warten. Nutten dürfen in München sich nur in abgelegenen Straßen ganz am Stadtrand anbieten. Jacken und Mäntel und Spielzeug und Lebensmittel. An den Bushaltestellen warteten wie Würmer und Schlangen langgezogene Busse auf ihre pünktliche Abfahrt. Mürrische und ausdruckslose Fressen langweilten sich.
Bei meinen Münchenaufenthalten kaufte ich Kleidung, die ich unbedingt benötigte. Schlafanzüge, Unterhosen, Jeans, Socken – meine Mutter meinte immer, ich solle darauf achten, dass sie aus reiner Baumwolle sind, sonst bekommt man Schweißfüße. Ich lief und fuhr auf den Rolltreppen bis zum – ich glaube dritten Stock. Sauber in Zellophan eingeschweißte Unterhosen in allen Größen. Das Bild eines halbnackten Athleten mit braungebranntem Antlitz, mit weiß strahlenden Zähnen und einem Waschbrettbauch aus Stahl, auf dem jede einzelne Sehne fein ziseliert war. Ich werde mir diese magische Unterhose für teures Geld zulegen und stolz anziehen. Ich werde schlagartig spüren, wie die Schlaffheit meiner Schwächlingsschwarte sich in eine Stahlrüstung verwandelt, mein labiles Kinn wird sich schlagartig in eine Eisenschaufel verwandeln und ich werde einen Steifen haben. Ein Brecheisen wird mir zwischen den Beinen wachsen. Der Blick in den Umkleidekabinenspiegel erschreckte mich. Gelbbleiche Haut überzog einen weichen Sack aus unverdautem Fraß. Der alte Sack war von fast sahniger Weichheit. Die eingefallenen Schultern eines Langzeitpatienten. Die geröteten Augen eines Menschen, der keine frische Luft kannte. Kaufhäuser sind im Winter oft überheizt. Die Müdigkeit, die in mir wuchs, war eine Müdigkeit, die mich nicht in einen gesunden Schlaf führte. Kaufhäuser sind von der Außenwelt abgeschnittene Trauminseln, in die nie Tageslicht einbricht. Das künstliche Licht ersetzt die Sonne. Das Sonnenlicht verändert sich ständig, schwillt an und blendet die Augen, bis sie zu leeren schwarzen Augenhöhlen ausgebrannt sind. Das Sonnenlicht wird langsam immer schwächer und verlischt und überlässt die Erde der Schwärze der Nacht. Niemals darf man in der Natur frontal in die Sonne blicken. Jeder, der auf dem Boden der Sonne steht, verbrennt. Das elektrische Licht geht durch Schalter an und erlöscht wieder durch einen Fingerdruck auf einen Schalter. Unser freier Willen schafft das Licht in der Welt. Häufig finde ich im Gewirre der Gänge und Stockwerke garnicht den Weg in die grausame, kalte Außenwelt. Draußen wehte der frostige Wind und das Laub auf den Straßen vermoderte wie Leichen unter der Erde.
Mit oder ohne Ware verließ ich das Kaufhaus. Das Hertiehochhaus war ein hässliches, fensterloses Gebäude. Die Autos rauschten vorbei. Auf einer Bank saß in viele Mäntel und Decken vermummt ein alter Penner. Wieviele Tage und Nächte und Wochen hatte er hier schon verbracht? Bei Grün überquerte ich die Straße und lief zur Buchhandlung Lemkuhl. Ich suchte immer Bücher von dem Autor, den ich gerade las. Falls ich überhaupt etwas fand, waren es Bücher, die ich schon hatte. Ich blätterte in Bestsellern und Neuerscheinungen. In der Mitte des Ladens stand ein großer Konzertflügel, auf dem Bücher drapiert waren. Einige eingerahmte Fotos von irgendwelchen Autoren standen auf dem Instrument. Eine gepflegt mittelständische Atmosphäre. Eine uns allen bekannte Darstellerin einer charmanten Fernsehkommissarin mit von Schminke erstarrtem Lächeln liest demnächst aus ihren Memoiren. Ich werde nicht hingehen. Nachdem ich in zehn oder zwanzig Büchern herumgeblättert habe, verließ ich das Geschäft.
Ich bog in die Hohenzollernstraße ein. Große, weiße Betonplatten. Wartende Lieferwägen. Die Bürgersteige waren zu eng und überlaufen. Ich hasste meine Mitmenschen. Der Sinn des Mitmenschen besteht darin, mir im Weg zu stehen. Ich wollte immer als Vogel oder Flugzeug vorwärtsdüsen und unmittelbar vor meinen eiligen Füßen schlich eine Greisin am Rollator im Schneckentempo vorwärts. Wenn ich sie nicht um den Haufen rennen sollte, musste ich mich an sie anpassen. Ich verwandelte mich in sie. Ich verwandelte mich in eine kriechende Schnecke. Ich versuchte verzweifelt mit meinem winzigen, klebrigen Körper, der sich auf dem Straßenpflaster sich nur Millimeter um Millimeter vorwärtsbewegte, die zu überwindende Strecke zu bewältigen. Riesig ragten die Menschen über mir. Irgendwann wird mich eine gigantische Schuhsohle zu Matsch zertreten. Ich verwandelte mich nicht in die Alte mit ihrem Rollator und nicht in die kriechende und schleimende Schnecke, sondern in einen Vogel mit Motorantrieb. Mit dem Kopf voran trieb ich meinen schneidend spitzen Schnabel in den Rücken der Dame, die blutend und spitz aufschreiend zusammenbrach und auf der Stelle verschied. Ich breitete meine gewaltigen Flügel aus und zertrümmerte die Gebäude rechts und links der Straße. Meine Flügel räumten die Mütter mit ihren Kinderwägen und den darin quengelnden Kindern wie überflüssigen Müll zur Seite und ich hob in den Himmel ab. Ja, aber wohin? Wohin jetzt?
Ich sah das leuchtende Rot vom Plusladen. Ich musste etwas zum Essen einkaufen. Morgen werde ich nicht das Haus verlassen. Ich werde mich als Schnecke in die innerste Windung meines Häuschens einwickeln, bis die Eiswinde der harten Außenwelt nur mehr Erinnerungen an böse Träume sind. Ich werde blind im Dunkeln träumen und immer wieder neue Nahrung wird im Eisschrank nachwachsen. Plus war im Gegensatz zu den ganzen Nachbarläden spottbillig. Preise wie in Kreuzberg. Ich kaufte Brot, Salz, Tomaten, Lauch, Blumenkohl, Hühnerschenkel, Schnitzel. Ich hatte dort immer Schwierigkeiten geeigneten Brotaufstrich für mich zu finden. Darf man in Zellophan und Plastik eingeschweißte Wurst als Lebensmittel bezeichnen? Wäre es vielleicht sinnvoll das Zellophan zu verspeisen und die synthetisch präparierte Wurst wegzuschmeißen? Schlechter, billiger Käse schwitzt und fault und lässt den Magen verderben. Der Kunde öffnet sein Maul und jede Blume verdorrt auf der Stelle im Gestank. Die grauen Fettklümpchen zwischen dem lila-grauen Fleisch der Billigsalami stammt von Leichen. Ich nage an aufgeschwemmten Leichen und sie streicheln mich und ziehen an mir. Ich liebte schon immer Fleisch. Als Kind lief mir schon allein beim Anblick der kräftigen Rinder auf der Maggiverpackung das Wasser im Munde zusammen. Die Menschen sollten noch lebendiges und zappelndes Fleisch verzehren. Der Gänsebraten zu Weihnachten versucht aus der Bratenplatte wegzufliegen. Die Speisenden müssen immer wieder von den Stühlen aufspringen und dem herumfliegenden Geflügel hinterher jagen um es wieder einzufangen. Das Fleisch muss noch bluten. Die Verzehrenden schmatzen und rülpsen und röhren und blöken. Fleischesser werden zu den Tieren, die sie immer schon waren und sein wollen.
Bei meinen Münchenaufenthalten bereitete ich häufig einen großen Topf Hühnersuppe mit viel Lauch, Paprika, Zwiebeln, Blumenkohl und vielem Anderen zu. Fleisch sollte so frisch sein wie der beißende Schweißgeruch aus den Achseln. Ausdünstungen aus den rot durchbluteten Muskeln des Athleten der Unterhemdreklame. Der Maggistier verwandelt mich in einen Stier. Bepackt mit den erstandenen Lebensmitteln verließ ich den Laden. Ich fühlte mich versorgt bis zum Weltuntergang. Ich hasste es schon immer allzu viel mit mir herumzuschleppen. Vielleicht platzt eine Tüte und alles liegt im Dreck. Ich eilte, soweit ich auf dem überlaufenen und viel zu engen Bürgersteig Platz hatte, vorwärts. Ich benutzte nie den Bus. Ich hätte eine Fahrkarte kaufen müssen und hätte zu sehr meiner Bequemlichkeit nachgegeben. Als Kind hasste ich jede Bewegung. Man hätte mich als Zwölfjährigen im Kinderwagen fahren können. Ballrunde Kinder sind so träge, dass man sie eingebettet zwischen Kissen auf Sänften vorwärts bewegen muss. Eine Stadt für die Haute-Volée. Messing, Chrom, Spiegel. Eine Stadt, die nur die Kulisse für Fernsehkrimis in Grünwalder Millionärsvillen darstellt. Ein Rolls Royce hält vor dem Hotel Bayrischer Hof, vor dem Hotel Vier Jahreszeiten. Eine Stadt aus Kulissen für die Stars aus Film und Fernsehen. Die Stars gefrieren zu Schaufensterpuppen in Modellkleidchen.
Aus der Ferne grüßte schon das Haus mit dem Erker vom Elisabethplatz. Ich erblickte das Gebäude und mir wurde klar, dass ich mich im Voralpenland befinde. Ich kam an einem Frisiersalon vorbei, in dem sich junge Männer und Frauen am Freitag für das Wochenende schön machen ließen. Ein großer Selbstbedienungsladen, in dem aufstiegsorientierte, junge Leute an ihrem Laptop saßen oder in kichernder Runde an ihren Milk-Shakes nuckelten. Manchmal am späten Abend saßen nur zwei oder drei Leute einsam im gleißenden Neonlicht. Das Licht war eisiger als der Winterwind auf der Straße. Ich überquerte die Belgradstraße. Eine Straßenbahn quietschte stadteinwärts. Manchmal setzte ich mich auch bei beißender Kälte nach 20 Uhr, wenn die Bäckerei geschlossen hatte und die Angestellten das Licht noch nicht gelöscht hatten, auf die Sitzbank und las. Ich wollte nicht zu früh nach Hause zu meiner Mutter. Der überheizte Brutkasten, in dem man die Luft in Scheiben schneiden konnte. Zuhause erstarrt alles Lebende zu ranzigem Schmalz. Der Schimmel wird blühen. Ich saß in der scharfen Kälte, mein Atem klirrte als Eisblume und ich atmete das Leben ein. Ich wusste genau, dass meine Mutter gleichzeitig vor dem Fernseher saß und ihre Lebenszeit absaß wie ein Häftling seine Haftzeit. Die Angestellten der Bäckerei löschten schließlich das Licht. Ich wollte nicht untätig im Dunkel sitzen. Einfach nur vor mich hinstarren. Ich gehe jetzt nach Hause.
Das Innere der Wohnung war durch das Geflimmer des Fernsehers und die spärliche Beleuchtung im Wohnzimmer, in dem meine Mutter vor dem Apparat saß, in ein Halbdunkel getaucht. Am Kristalllüster an der Decke brannte nur eine Birne und eine ovale Milchglaslampe brannte auf der Biedermeierkommode. Auf der Mattscheibe blickte ein beleibter Herr um die Sechzig in hellblauem Hemd mit knallroter Krawatte, bewegte dabei lautlos die Lippen und hob dabei eine Akte in die Höhe. Der Ton war anscheinend ausgestellt. Ich stand reglos im Flur und sah auf das stumme Bild. Ich zog dann meine Stiefel aus, machte in der Küche Licht und verstaute die erstandenen Lebensmittel in den Eisschrank und die Küchenkästen. Gelegentlich hörte meine Gastgeberin mein Eindringen in ihr Heim und sie stand von ihrem Stuhl auf um zu sehen, ob ich genügend Futter mitgebracht habe, dass ich nicht ohne mich von ihr zu verabschieden zurück in die Fremde gefahren bin, dass ich mich in der gemütlichen Wohnung mit reichlicher Nahrung eingedeckt habe, um lange, lange nicht mehr mich in die Ferne zu verabschieden. Manchmal hörte sie den Schlüssel im Schloss, blieb auf ihrem Stuhl sitzen und rief zum ernsten Spaß: „Die Wohnung ist für Fremde gesperrt. Fremde haben hier keinen Zutritt“. Zum Spaß. Die Mutter braucht ihren Sohn eigentlich garnicht. Eines Tages kommt der Sohn heim zur Mutter und ein andrer Mann sitzt bei der Mutter. Die Mutter sieht liebevoll zu ihrem heiß geliebten Kind und steht vor einem wildfremden Kerl.
Nachdem ich das Essen untergebracht habe, ging ich ins Schlafzimmer, machte das Licht an und zog erleichtert die Straßenkleidung aus. Ich zog meinen Schlafanzug an. Die Wohnungsinhaberin wartete nie ab, bis die Abenddämmerung die Zimmer in Zwielicht tauchte, sondern zog schon bei der ersten Verdunklung des Tageslichts die Rollläden zu. Sie mochte nicht das Zwielichtige von draußen. Beim Fernsehen ließ sie das elektrische Licht an. Viele Leute ertragen keine Dunkelheit in ihrem Haus. Es muss immer irgendwo hell sein. Viele kleine Kinder, deren Eltern abends ausgehen, müssen das Licht brennen haben. Aus dunklen Ecken treten plötzlich Unbefugte.
In der Küche hingen zwei Glühbirnen in einer weißen Metallfassung. Nur die eine Birne brannte hell, die Andere blieb dunkel. Die Küche erwachte aus der Dunkelheit nur zu einer gedämpften Helligkeit. Überall breiteten sich Schatten aus. Abends machte ich keine Hühnergemüsesuppe, sondern etwas Leichteres und schneller Zuzubereitendes. Schnitzel mit Pilzen, gedünstetem Paprika und Reis. Meine Finger griffen das feuchte, weiche Fleisch. Eine rosa Masse mit vielen kleinen Fasern. Manchmal war das Rosa mit leichtem Gelbstich durchsetzt. Das Fleisch hatte noch nicht stunden- oder tagelang im Kühlfach gelegen und war noch weich und feucht. War es aus der Bauchdecke geschnitten, war es aus dem Schenkel des Tieres oder dem Rücken geschnitten? Sah meine von der Haut überzogene Muskulatur an meinem Bauch, meinem Rücken, an meinen Schenkeln genauso aus? Mit dem Messer schneide ich meine Muskeln in feine Filetstücke, würze sie mit Salz und Pfeffer. Zuvor schneide ich mir mit dem Messer in die Haut und durch die Wunden bricht das Blut wie das Wasser aus geborstenen Rohren. Ich legte die zarten Fleischscheiben in die heiße Pfanne, nachdem ich das rohe Fleisch mit Wasser aus den Leitungsrohren gereinigt und gewaschen habe. Rötliches Wasser aus den Rohren wäre wohl weniger Blut, sondern von Rost verdorbenes Wasser. Wasser und Fett bekriegen sich. Das Nasse des gewaschenen Fleisches bildete im Fett Blasen und knallte mit nervenzerrüttendem Knall. Siedendes Fett explodiert wie Sprengstoff und verbrennt meine Augäpfel. Starke Hitze, brennende Hitze tötet die Keime, die zahllosen, unsichtbaren Mächte. Ich schnitt in die Schnitzel hinein. Das Innere der Fleischscheiben war nicht mehr rot oder violett, sondern hell. Die Oberfläche war goldgelb bis bräunlich. Fleisch, Gemüse und Reis legte ich auf zwei Teller.
Ich trug die Teller einzeln ins Wohnzimmer und stellte sie auf den Esstisch vor dem Fernseher. Auf dem Tisch lagen Berge von Arzneirezepten, Rechnungen, Briefen von Behörden und die Fernsehzeitschrift, die ich zur Seite schob, damit die Teller Platz fanden. Meine Tischgenossin drückte auf die Fernbedienung um die Glotze auszumachen. „Du magst ja kein Fernsehen beim Essen“ – meinte sie es gut meinend. Ich schaltete das Gerät sofort wieder an. Es gab nichts zu reden. Ohne Fernsehen hätten wir uns nur schweigend mit dem Besteck hantierend über die Teller gebeugt und während wir das Essen verschlungen hätten, hätte uns die Stille der Wohnung verspeist. Mitarbeiter des Ordnungsamtes Amberg brüllten uns an, dass auf den Rasenflächen und dem Straßenasphalt der Stadt Amberg immer weniger Häufchen Hundescheiße aufzukehren waren. Ich interessierte mich weder für Amberg noch für Hundedreck und schaltete um. Ein Aasgeier mit weit ausgebreiteten Flügeln flog im blauen Himmel. Seine scharfen Augen schienen auf etwas tief unter ihm aufmerksam geworden zu sein. Im Sturzflug sauste er in die Tiefe. Irgendwelche Antilopen lagen reglos auf blassen Grasflächen. Ihre Gedärme quollen auf die Erde. Flügel von zahllosen Vögeln flatterten um die Kadaver. Gierige Schnäbel zogen lange Würmer oder Schlangen oder Gedärme aus dem fremden Inneren und ließen sie Stück für Stück in ihrem eigenen Inneren verschwinden.
Meine Mutter sah nicht hin, sondern kämpfte mit Gabel und Messer gegen die Beharrlichkeit des vor ihr liegenden Fleischstückes. Der Körper einer Antilope wurde durch die Gier eines Vogelschnabels unsanft verschoben. Das Tier wird wieder zum Leben erwachen und wird zurückgekehrt von den Toten, die Geier verschlingen. Das vergossene Blut vermischte sich mit der ausgetrockneten Erde der Savanne. Der mit dem Bratfett durchtränkte Lauch verfärbte die weißen Reiskörner. Ich schaltete um und ich schaltete weiter um. Fernsehmoderatoren, Polizeistationen, Kochstudios, Tannenwälder sausten in eintöniger Eile an uns vorbei. Die ganze Erdkugel zerstäubte in Tausende von faden Bildern.
Ich war mit dem Essen fertig und trug meinen Teller in die Küche. Meine Mutter arbeitete noch weiter an ihrem Futter und zerschnitt alles in Spatzenstückchen. Ich zog mich ins Schlafzimmer auf meinen Sessel mit einem Buch zurück. Ich verschloss die Zimmertüre um den Fernsehlärm auszusperren. Meine Mitbewohnerin rief noch protestierend: „Behandle die Türe vorsichtiger! Ich möchte vor meinem Tod keine neuen Türen einsetzen lassen.“ Eine der drei Glühbirnen an der Deckenbeleuchtung verlöschte nach kurzer Zeit, dann ging sie wieder an und das Licht flackerte. Das Zimmer fiel in eine leichte Dämmerung um dann wieder heilerleuchtet wieder zu strahlen. Ein Gewitter ohne Donner. Das Fell des Fauns ist dunkel. Das Gewitter wird wohl bald den Regen strömen lassen. Der schneeweiße Leib des Mädchens bleibt reglos liegen. Der Faun grinst immer noch. Er hat für eine kurze Zeit seine ihn immer quälende Unruhe befriedigt. Die Birne ging aus und das Licht im Raum ist gedämpft und die Gegenstände werfen lange, scharfe Schatten. Trotzdem fuhr ich fort zu lesen. Vom Nachbarzimmer drangen die Geräusche vom Fernseher durch die verschlossene Türe. Der Regen strömt und klatscht laut auf die Wasserfläche und die Schilfrohre. Das Fell des Satyr trief und er springt ins Wasser und verschwindet im Schlick, nur das weiße Mädchen bleibt liegen. Ein Blitz kracht vom Himmel, gefolgt von einem Donner, als wäre Krieg. Spurensucher werden den Sumpf und die Bäche nach Spuren suchen. Ich saß neben dem warmen Heizkörper und nahm einen Schluck aus der neben dem Sessel stehenden Orangensaftflasche. Im Winter braucht der Mensch Vitamin C. Eine aufgeschnittene gelb-orange Frucht prangte auf dem Flaschenetikett.
Gegen zweiundzwanzig Uhr rief eine brüchige Stimme. Zimmerwechsel. Wachablösung. Meine Mutter wollte in ihr Zimmer. Ich hörte durch das Holz der Türe Gläsergeklapper und legte das Buch zur Seite. Ich nahm die Matratze mit Bettwäsche unter den Arm, öffnete die Türe und trug alles ins Wohnzimmer. Meine Mitbewohnerin und ich liefen ohne einander anzublicken aneinander vorbei. Ich holte noch mein Buch. Dann lebte ich wieder wie in der letzten Nacht auf dem Buchara und meine Mutter versank, nachdem sie im Badezimmer fertig war, in ihrem Bett in ihrem einsamen Schlaf. Ich hatte mein ganzes Leben die Träume gesucht. Meine Mutter lag jetzt im Bett und rief mich um sich vor ihrer nächtlichen Fahrt zu verabschieden. Vielleicht kommt sie morgen nicht zurück und eine Tote liegt in ihrem Bett. Ich gab ihr den Abschiedskuss auf ihre feuchten Lippen. Sie fürchtete, dass ich sie am nächsten Morgen verlasse und sie wieder der Eintönigkeit und Verlassenheit ihres alltäglichen Tagesablaufes ausliefere. Eine Ertrinkende im Moor klammert sich am Arm ihres Retters fest, bis beide stürzen und ersaufen. Das Blau ihrer Augen leuchtete traurig. Jeder ist in seine Gestalt und seine Lebensumstände eingekerkert und kann nicht einfach wie ein Vogel aus seinem Geschick davonfliegen. Ich wandte mich von ihr ab, stand auf, löschte das Licht und überließ sie ihrem Dunkel. Ich legte mich auf die Matratze, nachdem ich im Wohnzimmer das Licht gelöscht hatte und ließ mich in die Fernsehbilder fallen.
Meine Münchenaufenthalte waren für meine Gebärerin eine Rückkehr ins Paradies, als ich als kleines Kind meine Mutter noch brauchte. Ein Kind braucht die Mutter fast mehr als Luft und Nahrung. Sie empfand Eifersucht auf die Bücher, deren Gesellschaft ich ihr vorzog.
2007/2008 war ich viele Monate durchgehend in München, in der mütterlichen Wohnung ohne die Gesellschaft und die Gespräche anderer Menschen. Ich las und las und spulte stumm in mich selbst eingesperrt meine Selbstgespräche ab. Eines abends hielt ich es nicht mehr aus, griff zum Telefon und rief einen alten Bekannten in München an, von dem ich schon viele Jahre nichts mehr gehört hatte. Ich weiß, dass er nie das geringste Interesse am Umgang mit mir hatte. Nicht das Allergeringste. Er nahm ab und wir unterhielten uns und nach langer Zeit hörte ich meine nur in meinen Hirnwindungen gespensternden Monologe von meinen Stimmbändern laut in den Raum klingen. Meine Mutter saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher und ich saß hinter zwei verschlossenen Zimmertüren auf dem Teppich und sprach in den Hörer. Ich hörte hinter den Türen die Stimme der Besorgten etwas rufen. Ich hörte den Lärm einer sich öffnenden Türe und die Stimme der Eifersüchtigen vor der noch geschlossenen Schlafzimmertüre, die sich beklagte, wie teuer es sei zu telefonieren. So ewig lange zu telefonieren. Ich sprach unverdrossen weiter in den Hörer und versuchte diese Störung zu überhören. Ich hörte den Krach einer niedergedrückten Türklinke und meine Mutter stand vor mir und wollte mich unbedingt zwingen endlich das Gespräch mit diesem Fremden zu beenden. Ein Gespräch mit der Außenwelt war unmöglich. Ich kriegte keinen einzigen Satz zu Ende. Die Störerin klagte und versuchte mit ihren Fingern auf die Telefongabel zu drücken. Nur du und ich allein auf einer Insel. In der ewigen Liebe verschmelzen unsere süßen Leiber. Ich kenne die Liebe nicht, aber den Hass. Ein weiß glühendes Brennen, das alle Körperfasern entzündet und sich nach dem großen Knall sehnt. Hass ist eine notwendige Waffe, wenn der Andere meine Grenzen nicht achtet und eine Qualle mich sich einverleiben will. Der Teppich färbt sich rot und der Hass lässt es freudig fließen, aber ich hoffe zu wissen, wer ich bin und ich spüre meine auf der Haut angebrachten Befestigungsanlagen. Sie liegt hilflos auf dem Boden und blutet aus. Ich schlage zu.
In den ersten Tagen nachdem ich in München in der Obhut des mütterlichen Heimes Zuflucht fand, wagte ich es die Nacht über durch Kneipen und Bars zu ziehen. Bierdunst im Schädel und einsames Herumstehen. Der einschläfernde Schneeregen fiel auf den Sendlinger-Tor-Platz. Der Bierdunst legte sich wie ein schwerer Pelz auf meine Wahrnehmung der kalten Straßen. Das Lachen vergnügter junger Männer und Frauen zogen an mir vorbei. Die Schneeflocken schwebten in arktischer Stille an den elektrischen Leitungsdrähten der in der Nacht selten befahrenen Straßenbahn vorbei. Die Flocken waren so still, dass ich an den Schlaf inmitten der sanften Schneelandschaft , inmitten der weißen Daunenbettwäsche dachte. Die Stille der eisigen Tundra dringt heute nacht in die Straßen der modernen Großstädte ein.
Aus der Musikbox quollen Songs von Michael Jackson. Eine Theke. Verschiedene Einzeltische mit je vier Stühlen. Die Kneipe war gut besucht, aber nicht überfüllt. Zwei Frauen in mittlerem Alter. Fast alle waren in angeregtem Gespräch vertieft. Gleich am Eingang fiel mir ein einsamer Mann in den Sechzigern auf. Er saß vor seinem halbausgetrunkenen Bier und glotzte vor sich hinbrütend auf das Thekenholz. Das Gelächter der vier jüngeren Gäste ging ihn nichts an. Er war von ihrer Heiterkeit durch einen unüberwindbaren Abgrund getrennt. Ein jüngerer, schlanker Mann saß mit schlaksig übereinander geschlagenen Beinen von einem der Tische abgewandt und hielt mit zierlichen Arm- und Fingerbewegungen seine Zigarette in der Hand. Den Arm mit der Zigarette stützte er auf die Stuhllehne und ein meckerndes Gelächter erschütterten immer wieder seinen Körper. Die Anderen lachten mit. Er führte das Gespräch. Sie lästerten über jemanden. Der Bierdunst in meinem Schädel und im Schankraum hielt mich dumpf und ich setzte mich an die Theke neben den brütenden Einsamen. Ich bestellte ein Pils. Schmalzige Töne über Love und Tenderness verzuckerten die verrauchte Luft. Das Bier stand vor mir. „Zum Wohl!“ Was soll ich hier? Ich bereute es schon so voreilig in dieser Kaschemme ein Bier bestellt zu haben. Ich lasse nichts stehen. Was ich bestellt habe, verpflichtet mich zum Verzehr und wenn ich dabei draufgehe. Die Maserung im Holz der Theke. Der innerlich leere Ring von vor Monaten und Jahren ausgesoffenem oder verschüttetem Bier. Mein Bier stand auf einem Bierdeckel von Spatenbräu. Ein Spaten auf rotem Grund. Seit 1397. Bayern ist ein altes Land, in dem die mittelalterlichen und katholischen Tradition noch lebendig ist. 600 Jahre altes Bier macht auf dem Thekenholz hässliche Flecken. Mit dem Spaten sticht der Straßenarbeiter oder der Pionier tief in die Erde hinein. Der würzige Gestank von jungem Schweiß. Das gackernde Gelächter des schlaksigen Jungen vom Nebentisch. Die Runde stimmt in sein Gelächter ein. Ich nahm einen Schluck und dann gleich einen Zweiten um endlich diesen Laden verlassen zu können. Das Glas wurde nicht leerer. Es war, als würde ein böser Zauber das Glas heimlich nachfüllen. Auch woanders werde ich nur der peinlich genaue Beobachter des Lebens der Anderen sein. Wie kann ich handeln? Wie kann ich etwas zum Rollen bringen? Kann ich auf andere einwirken? Nehmen die Anderen mich überhaupt wahr? Der Hocker, auf dem ich saß, war für die Anderen leer. Ich nahm noch einen Schluck. „Willst du noch ein Bier?“ – frug mich die Bedienung. Erleichtert verneinte ich. Durch die Fensterscheiben sah ich die herabschwebenden Schneeflocken und die düstere Straße. Hier drinnen war es schön warm und die Beleuchtung war hier warm gelblich getönt. Ich zahlte und verließ die Kneipe.
Während meiner Münchenbesuche ging ich meistens viel zu früh aus. Häufig blätterte ich bei Hugendubel am Marienplatz bis Geschäftsschluss um 20 Uhr in Büchern herum, dann entschied ich mich meistens nach Haus zu Fuß zu laufen. Das Nachtleben fängt frühestens erst nach 23 Uhr an. Ich musste die Zeit bis dahin in faden Kneipen mit gelangweilten und langweiligen anderen Gästen überbrücken. Meine Mutter hasste meine nächtlichen Ausflüge. Eines Tages rieb sie sich heftig an einem Auge. Ich fürchtete schon um ihr Augenlicht. Plötzlich riss sie sich das Auge aus der Höhle und wollte es mir in die Hand legen. „Nimm dies und in welches Drecksloch du auch gehst, behalte es bei dir! Es wird dich immer und überall behüten und mir darüber Bericht erstatten, was du draußen in der Außenwelt anstellst. Das ewige Auge der Mütter richtet und straft“. Ich empfing es, als ich danach die Wohnung verließ, warf ich es in die Müllklappe im Treppenhaus. Kinder brauchen die Kontrolle. Das Leben der Marionetten. Der Winterwind ließ mir das Gesicht und die Ohren gefrieren. Im Dunkel der Toreinfahrten könnte ich nicht erkennen, wer mich dort beobachtete. Auf dem rutschigen Straßenbelag kann ich mich nur mühselig vorwärts bewegen.
Würde ich mich freuen, wenn man mich in ein Gespräch einbeziehen würde? Ich hatte nichts zu sagen. Ich würde verlegen stottern. Ich kriege es hin, wenn ich den Anderen in der Ferne in Kneipen, an Bushaltestellen, im Kaufhausgewühle begegne und sie kurz streife. Die Leute in der Kneipe würde ich nicht wieder erkennen. Würde ich sie wieder erkennen, würde ich nicht auf den Gedanken kommen sie zu begrüßen. Die Anderen sind nur Passanten – besser gesagt Komparsen, die mir nur durch das Blickfeld rennen. Vor meine Augen hingemachte Menschengestalten, die kein von meiner Vorstellungskraft unabhängiges, eigenes Leben und keine eigene Identität haben. Außerhalb meines Blickfeldes schmelzen die Anderen dahin wie Flocken im Schneeregen. Erscheinen sie wieder vor meinem Blick schauen sie mich an, existieren sie wieder und grinsen mich an, als hätten sie sich noch nie in Luft aufgelöst. Ich töte Menschen, indem ich den Blick abwende.
Ich war jetzt sehr müde und lenkte meine Schritte zur Straßenbahn. Nachts fahren keine U-bahnen, sondern nur selten fahrende Straßenbahnen und Busse. Vergnügte Jugendliche mit Bierflaschen von Clubs und Partys schrieen und grölten. Nachdem ich am Elisabethplatz ausgestiegen bin, stand ich in der nächtlichen Stille. Die weiße Decke wuchs. Zu Hause werde ich unter der weißen Decke einschlafen. Wo tagsüber Leute eilten und ihren Geschäften nachgingen, schlief jetzt alles Leben.
Ich öffnete die Wohnungstüre. Das viele in mich geschüttete Bier machte mich dumpf und bleischwer. Ich hätte mich am liebsten noch bekleidet auf den Flurboden gelegt um auf der Stelle einzuschlafen. Ich riss mich aber zusammen und machte das Licht im Flur an, zog meine Stiefel aus. Eine zornige Stimme rief: „Du fährst morgen zurück nach Berlin! Du kannst nicht in meiner Wohnung bleiben! Ein Stricher! Ein Stricher in meiner Wohnung!“ Plötzlich durchzuckte mich ein weiß gleißender Blitz. Eine stechende Flamme durchstach mein Herz. Die Müdigkeit war schlagartig verflogen und draußen fiel kein Schnee mehr, sondern die Hitze des Krieges ließ die Fensterscheiben bersten. Aus Gebärmüttern und Busen troff das Blut. Der Hass ließ mich schreien und brüllen, dass ich nur mehr mein aufklaffendes Maul und meine zerreißenden Stimmbänder war. Klar, dass ein vollständiger Umzug nach München zu meiner Hüterin uns beide ins Unglück stürzen würde. Der Sohn, der seinen Vater besiegt, eignet sich dessen Kraft an und ist bereit selbst Vater zu werden, um dann in Zukunft vom eigenen Sohn besiegt zu werden. Anthony Perkins sitzt in Seidenbluse und im Wollrock seiner Mutter im Rollstuhl tief im Keller eines einsamen Hauses.
In einer anderen Nacht stieg ich in einer abgelegenen Straße in Sendling nahe der Isar aus der Straßenbahn. Die Straßen wurden immer stiller und dunkler. Lagerhallen, Fabriken, Werkstätten. Ich suchte einen SM-Treffpunkt, der hier irgendwo sein sollte. In mir wuchs die Furcht und berechtigte Vermutung, das ich nichts finden werde. Ein ganz versteckter Geheimort, zu dem nur Eingeweihte Zutritt erlangen. Würde ich doch den Eingang finden, würde sich nur ein kleines Gitterchen in einer verschlossenen Türe öffnen und ein klitzekleiner Ausschnitt eines riesigen Männergesichtes, dessen Rest ich nie werde sehen dürfen, wird bei meinem jämmerlichen Anblick nur wortlos und bedauernd den Kopf schütteln. Also wirklich nicht! Also bitte!
Unbeanstandet betrat ich die dunklen Hallen in einer still gelegten und umfunktionierten Fabrik. Ich trug eine amerikanische Kampfjacke, kurz geschorenes Haar. Eine markante Visage. Ich sah viel jünger aus, als ich in Wirklichkeit war. Der Anblick meines eigenen Spiegelbildes verzückte mich. An der Theke, soweit ich in der Dunkelheit erkennen konnte, saßen kräftige, junge Männer in Kampfanzügen. Ein Junge reizte die Brustwarzen seines Spezis mit Elektroschocks, bei denen das Opfer immer wieder freudig zusammenzuckte und dabei ekstatisch den Kopf nach hinten legte, seine jugendlich fülligen Lippen öffnete und leise stöhnte. Sie bemerkten mich nicht. Sie nahmen mich nicht im geringsten wahr. In einer anderen Ecke stand alleine in einem Gitterkäfig ein junger Athlet in Bomberjacke und mit klobigem, geschorenem Schädel. Er stand den Rücken an die unverputzte Mauer gelehnt und starrte mich an. Stumm winkten seine Augen mir zu. Ich spürte das Eisen in mir. Ein Prickeln durchfuhr mich.
Im Februar hatte ich langsam genug von der Wärme meines Schneckenhauses. Ich lief öfter ratlos und angeödet durch Schwabing, durch die Leopoldstraße. Am Siegestor und der Akademie der Künste vorbei. Durch die Schellingstraße, am Lenbachhaus vorbei. Ödnis und Leere zerfraßen mich. Die Ödnis der grauen Mauern unter dem grauen, kalten Himmel konnten mit der gähnenden Leere und Sinnlosigkeit in mir drin nicht im Geringsten mithalten. Lebensüberdruss durchdrang jede Sehne und Ader, dass mir war, als würde sich mein körperliches Dasein in Luft auflösen. Ich war viel zu leer für irgendwelche Traurigkeit. Ich kannte niemanden und ich kam an die Anderen nicht heran. Die Stummheit. Niemand nahm von mir Notiz. Zu Hause spukte der Gegenstand Mutter, der worauf er schaute, garnichts wahrnahm. Ich rannte unruhig an den immer selben, klobigen Gebäuden der Ludwigsstraße vorbei. Ich betrat die Universitätsbuchhandlung. Brannte mir der Kopf von Kopfschmerzen? Ich blätterte lustlos in verschiedenen Büchern herum. Alles ganz nett. Gott, wie langweilig! In meinem Schädel brannte die Leere lichterloh. Am selben Abend besuchte ich eine Diskussionsveranstaltung. Meine Backen brannten in der Hitze. Fieberschwaden umnebelten die Umwelt. Gelbe, kranke Schwaden. Die Glieder schmerzten, als hätte ich mich in einen steinalten Greis verwandelt. Am Abend kam ich zu meiner Mutter zurück und die ganze schlaflose Nacht hindurch reiste ich in die stickigen und schwülen Sümpfe einer ausgebrochenen Grippe. Fiebernde Gliedmaßen in grauer Kälte. Meine Leere hat in der Krankheit ihre Erfüllung gefunden.
Als Kind atmete ich auf, wenn der an mein Krankenbett geeilte Arzt mich krank schrieb. Ich tauchte dann tief in die mich zärtlich umschlingende Weichheit des Bettes. Ich hatte den Freibrief die nächsten Tage und vielleicht auch Wochen in Schlaf und Halbschlaf zu verträumen. Auch Pflanzen führen ein Leben. Das Schloss ist von Rosen- und Dornbüschen überwachsen und lässt keinen aus der Außenwelt rein. Ich hasste es, wenn der Arzt mir das Fiebermesser in den Arsch rammte und ich musste mehrere Minuten auf dem Rücken geduldig warten. Die Haupteigenschaft des Patienten ist die Geduld. Schrecklich war es, wenn der Arzt das Fiebermesser rauszog und fröhlich lachend verkündete, ich sei kerngesund und es bestehe kein Grund mehr gegen Frühaufstehen und dem faden Schulalltag. Frostige Schulwege durch immer die selben Straßen und fader Alltag mit Rechnen und Grammatikübungen. Erlöst war ich, wenn er nachdenklich und voller Mitteid mit mir Ärmsten den Kopf schüttelte und mit trauriger Stimme verkündete: „39°, 40°, 50°! Lange, sehr lange, strengste Bettruhe!“ Meine Mutter verzog sorgenvoll das Gesicht. Im Fieber genoss ich die unerreichbare Ferne der mit Reif und Schnee bedeckten Erde im Garten. Die im Frost steif und blattlos wartenden Bäume. In der Kopf- und Gliederschwere der Grippe verwandelten sie sich in Träume. Meine Mama verwandelte sich in eine zarte, sorgenvolle Fee. Ihre ängstlichen, feuchten Küsse. Ich drang in ihren Bauch wieder ein. Vor der Geburt schwimmt man und taucht wie ein Fisch tief im azurblauen Ozean. Immer versorgt. Früher soll ich ein Fisch gewesen sein. Im Fieber träumte ich von weiten Seereisen über das tiefe Blau des Globus, der in meinem Zimmer stand. Meine Weltkugel konnte meerblau leuchten, wenn man sie anknipste. Ich machte dabei die Zimmerbeleuchtung aus. Die Erde dreht sich in der Nacht des Weltraumes. Mein Arzt und meine ihm treu folgende Mutter traktierten mich mit Honig verrührter Milch. Mich ekelt es heute noch vor Klebrig-Süßlichem. Oft war die Milch mit einem feinen Häutchen überzogen. Mein Gaumen, meine Speiseröhre, mein Magen bäumten sich auf. Als Kind plagten und zerrissen mich Bauchschmerzen. Kleine, grausame Messerchen schnitten und zerrissen meine Eingeweide. Mein Blinddarm brach durch. Ein blutiger Wurm durchbrach die Bauchdecke und Blut überschwemmte mein ganzes Innere. Gottseidank! Ich hatte seltsamer Weise nicht die geringste Angst. Sofort musste ich ins Krankenhaus. In einer Stunde wäre es schon zu spät gewesen. Vor der Operation betäubte man mich. Meine Gefühle waren in Traum und Nebel eingewattet. Ich freute mich. Voller Freude wäre ich in den Tod eingetreten. Ein goldenes Licht brach durch den Dunst. In den nächsten Wochen lag ich in einer Lazarettbaracke des Oberföhringer Krankenhauses. Die im Zweiten Weltkrieg gebauten Baracken lagen in einem großen Park. Ich blickte auf die grauen und braunen Baumstämme und den vom Winter braunen Rasen. Kein Schrillen der Pausenglocke und keine frühmorgendliche Fahrt im überfüllten Bus. Ich las die rot-schwarzen Goldmann-Krimis von Edgar Wallace. Auf dem Umschlag die schwarz-weißen Abbildungen von entsetzt starrenden Fratzen. Geheimnisvolle Morde in den Nebeln der Themse. Der abgestorbene Park hatte sich in den Schauplatz meiner Zukunft ohne Leistungsdruck und Zahlen verzaubert.
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© 2023 Michael Wiedorn (Text & Bild)
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