Von Beat Meyenhofer
– [Leute, heute um 15 Uhr alle bei Tommy für unser erstes Camp in diesem Jahr!], schrieb Kerry seinen Freunden auf WhatsApp. Sie waren eine kleine Gruppe junger weisser Amerikaner, gut aussehend, alle blond bis auf einen, der typische Nachwuchs wohlhabender Familien aus dem Mittleren Westen. Einige von ihnen galten als ausgesprochene Modefreaks. Archer zum Beispiel hatte sich neulich seine schwarze Mähne kurzerhand bleichen und noch ein paar Silberplättchen einflechten lassen.
– „Hab’s auf teenvogue.com gesehen, was soll‘s?“, liess er trocken seine verblüfften Kameraden wissen. Archer gab gerne den Ton an, liebte die kurzen Ansagen. Wenn jemand nicht mitkam, konnte er ja fragen. Nur, wer würde das schon tun? Genau dies bestätigte ihm seine Überlegenheit.
Mittlerweile waren die Oberstufenschüler bereit, auf ihre Motorräder zu steigen, um in ein nahegelegenes Wäldchen zu fahren. Jedes Mal, wenn Kerry aufsass, ächzte seine Maschine, denn er war von klein auf fettleibig und so fuhr er stets alleine. Dafür diente sein Motorrad als Lastesel für ihre Ausrüstung. Wie immer zeigte sich Tom von seiner besten Seite. Ständig versuchte er sich in der Rolle des Sonnyboys, womit er die Nerven seiner Freunde strapazierte. In Archer sah er seinen grossen Rivalen, den galt es auszustechen. So klopfte er mit einladender Geste seinen Soziussitz für die süsse Olivia sauber. Sie war die Zuckerpuppe der Truppe, extrem attraktiv, gleichzeitig aber etwas einfach gestrickt. Die Jungs meinten, bessere Zensuren sähe sie wohl kaum je, bloss würden sie ihr bei dieser Figur auch nie fehlen. Karen sah nicht halb so gut aus wie Olivia, holte hingegen regelmässig gute Noten ab. Dann stellte eine unglückliche Liebschaft Karens Leben auf den Kopf. Ihre Noten sausten in den Keller und ihr Gewicht hob ab zum Mond. Sie verlor komplett die Kontrolle, stopfte alles Essbare in sich rein. Sie ging wie ein Pfannkuchen auseinander. Je mehr die dicke Karen beim anderen Geschlecht um Aufmerksamkeit buhlte, desto weniger stiessen ihre Bemühungen auf Interesse. Schon bald hatte sie alle möglichen Schlankheitsdiäten durch und fühlte sich immer gestresster. Also warf sie das Handtuch und beschloss, ihr Defizit mit übertriebener Fürsorge für die Gruppe zu kompensieren. Das Leben konnte echt mühsam sein, für beide Seiten!
Als Karen bei Sven, dem Benjamin der Truppe, aufsitzen wollte, wurde Sheila richtig laut. Spitze Worte flogen nach allen Seiten und sie weigerte sich strikt, mit Archer zu fahren. Sie wollte auf jeden Fall auf Svens Sattel steigen, denn bei ihm fühlte sie sich viel sicherer. Einmal mehr gab Karen nach und liess ihr diese überraschende Szene ohne ein Wimpernzucken durchgehen. Archer tat als ob. Dafür huschte ein Leuchten über Svens Gesicht: Könnte es sein, dass Sheila ein Auge auf ihn geworfen hatte? Dieser Gedankenblitz liess ihm rote Ohren wachsen. Als Jüngster musste er ständig auf der Hut sein und um seine Position kämpfen. Die Stärkeren sicherten sich mit Leichtigkeit ihre Privilegien, wogegen er oft leer ausging – zum Teufel auch! So kostete er diesen raren Moment des Triumphs aus und schob seinen Hintern ein paar Zentimeter weiter zurück als üblich, um sich möglichst eng an Sheilas Schoss zu schmiegen. Dann endlich fuhren sie los.
– „Hey Leute, da ist der Bach, da unten ist unser Platz!“, rief Karen mit fester Stimme, was die anderen mit freudigem Gejohle quittierten. Mit geübten Handgriffen schlugen die Jungs das Zelt auf. Es war drückend heiss. Die Luft war so feucht, dass das Blätterdach über ihren Köpfen viel intensiver roch als sonst. Kerry warf allen eine gekühlte Cola zu und die Jugendlichen streckten sich auf dem weichen, braunen Boden aus. Wunderbar, Natur pur! Diese Verschnaufpause dauerte viel zu kurz, denn schon explodierte die Stimmungskanone Karen:
– „Leute, ich brauch ’ne Abkühlung! Wer von euch springt mit mir ins Wasser, na?“ Ihre Kameraden streckten sich, durch die Schwüle noch etwas benommen. Dann aber flogen die Hosen wie Oberteile ausgelassen zu Boden und alle sprangen unter Freudengeschrei ins kühle Nass. Sie planschten herum wie die Kinder; schon bald war eine Wasserschlacht im Gange – diesem Freundeskreis anzugehören, war schlicht grossartig!
Jung sein macht hungrig. Bald hatten Archer und Kerry ein prasselndes Feuer entfacht. Friedlich sassen alle darum herum, beobachteten die züngelnden Flammen und zogen sich gelegentlich eine Nase voll Rauch rein. Nur so zum Spass, behauptete Kerry. Während die Mädchen die Tupperware-Schalen vorbereiteten, wachten die Jungs über die Steaks, die über der Glut brutzelten. Ein wahres Festmahl.
– „Hey Arch, mir ist schon klar, dass wir heute Abend nirgendwohin mehr fahren müssen; hör dennoch auf, so viel in dich rein zu kippen! Du weisst genau, dass du es nicht unter Kontrolle hast“, mischte Tom sich ein.
– „Ist mir völlig entgangen, dass du mein Alter wärst“, schoss dieser eiskalt zurück. Im Bruchteil einer Sekunde war die Spannung mit Händen zu greifen. Wieder war es Karen, der es gelang, die dicke Luft schnell wegzuwischen:
– „Mal easy alle, entspannt euch! Habt ihr bemerkt, wie es immer dunkler wird? Ich denke mir, dies ist der perfekte Moment für unsere kleine Geheimnisrunde. Wenn ihr wollt, lege ich schon mal los.“ So erfuhr der Kreis, wie ihre Eltern sie vergangenen Sommer auf eine Rundreise durch Frankreich mitgenommen hatten, auf der sie sich leider unzählige Male übergeben musste. Ihre bescheidenen Französischkenntnisse habe sie partout nicht auf die Reihe gekriegt, sondern sich dauernd darin verheddert. In einem Provinzstädtchen habe sie einen feschen Typen getroffen, der sie angelächelt und immer wieder „baiser, un baiser…?“ gesagt habe. Die korrekte Bedeutung habe sie bis heute nicht herausgefunden. Sie seufzte, keiner lachte.
– „Genau, Missverständnisse sind wie Springminen. Die können an jeder Ecke aufpoppen!“, meinte Sven, der sich ungeduldig als nächster in der Runde vordrängelte.
– „Jetzt halt mal den Ball flach, Kleiner“, warf Kerry ein. „Ihre Eltern werden sie wohl kaum in ein militärisches Trainingslager gebracht haben.“
Sven steckte es weg, denn er wollte auf keinen Fall seinen Einsatz riskieren. Er konnte keinen Augenblick mehr länger warten, seine gruseligen Erfahrungen mit zwei heimtückischen Skorpionen loszuwerden. Ausführlich beschrieb er den Campingausflug mit seinem Vater an einen einsamen See, wo die Viecher mitten in der Nacht seinen Schlafsack hochgekrochen kamen. Alles sei stockdunkel gewesen, ihre beiden Taschenlampen fast hinüber. Da habe er gerade noch… – Die Mädels hielten es keine Sekunde länger aus. Sie kreischten und sprangen wie wild ums Feuer. Derweil sich „Shorty“ mit einem genüsslichen Grinsen an einen Baum lehnte.
– „Das kann ich toppen“, trompetete Tom, „hört gut zu!“ In seinem Abenteuer tischte er drei giftige, langbeinige Spinnen und eine Reihe aggressiver Fledermäuse auf. Er beteuerte, er sei in jener Höhle mehrmals gebissen worden. Er behauptete steif und fest, dass er heute nicht hier sitzen würde, hätte ihn sein Vater nicht im letzten Moment ins Krankenhaus gebracht. Sein linkes Bein sei schon ganz steif gewesen, auch hätte er kaum mehr ein klares Wort sprechen können. Kleinlaut schob er nach, da die eiskalte Angst im Nacken gespürt zu haben.
– „Nun kommt mal wieder runter, alle miteinander“, rief Sheila, „und lasst mich euch eine Geschichte erzählen, die sich ganz in der Nähe zugetragen hat und erst noch hundertpro wahr ist.“
– „Was soll das denn heissen, Sheila? Auch meine Story ist hundertpro wahr!“, wehrte sich Spider Man, währendem er mit einem ärgerlichen Schluckauf kämpfte, den er sich mit einem zu grossen Schluck Bier eingehandelt hatte.
– “Easy, Tommy, is’ schon okay. Also meine Geschichte geschah im letzten Winter an einem späten Nachmittag. Ein total cooler Kerl stand allein da hinten bei den leeren Sportplätzen. Ein paar letzte Sonnenstrahlen fielen auf die Spielfelder. Da war nichts mehr los. Bissig kalt war‘s. Ich schielte immer mal wieder kurz rüber. Der Typ machte mega Eindruck auf mich. Ich konnte es nicht erwarten, dass er zu mir aufschliessen und mich anquatschten würde. Er sah einfach umwerfend aus: seine Lippen, das pechschwarze Haar, seine lässigen Bewegungen – alles liess mich schmelzen. Zuvor hatte er kein besonderes Interesse an mir gezeigt, aber an jenem Tag war das anders.“
– „Und was machtest du? Wie reagierte er denn? Nun red schon!“, unterbrach Olivia.
– „Easy, Liv, dazu komme ich gleich. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und hängte mich lässig in seinen Talk rein. Auch schenkte ich ihm ein paar verführerische Blicke und sparte nicht mit Komplimenten über sein gutes Aussehen, seine modische Kleidung, seinen tollen Haarschnitt. Dabei entging mir nicht, wie sich seine Augen weiteten, als ich ein Wort zu seinen eng anliegenden Jeans fallen liess.“
– “Komm schon, Sheila, nun übertreib mal nicht”, protestierte Tom.
– „Lass sie erzählen, Mann, das ist irre spannend!“, schnitt ihm Karen das Wort ab, damit ihre ältere Freundin fortfahren konnte:
– „Ein argloser Kuss tut nicht weh, oder? Girls, wenn ihr bloss ein einziges Mal seine samtenen Lippen gespürt hättet! Vorsichtig umschloss er meine klammen Finger und taute sie mit seinem heissen Atem auf. Darauf streichelte er zärtlich mein Gesicht, rubbelte meinen Oberkörper, wobei er dabei versuchte, seine Hände unter meine Fleecejacke zu kriegen.“
– „Das ist einfach nicht zu fassen! Und ausgerechnet du willst uns immer glauben machen, wie schlau du doch seist?“, hielt Olivia dagegen.
– „Schau Liv, als endlich mein Traumprinz vor mir stand, wie kannst du da von mir erwarten, dass ich diese Chance nicht packen würde? Er war so lieb zu mir, sagte sogar, er könne es nicht mehr länger mitansehen, wie ich schlotterte. Also öffnete ich vorsichtig meine Jacke. Alles fühlte sich gut an! Auf einmal begann er stockend zu atmen, worauf ich ihn ermahnte, dass Küsse und Petting ok wären, alles andere dagegen nicht. Er nickte, warf mir einen versichernden Blick zu, und wir hatten weiter unseren Spass. Was für ein überwältigendes Gefühl, seine starken Hände auf meinem Körper, seinen heissen Atem in meinem Gesicht! Mädels, ich bin sicher, ihr könnt euch vorstellen, was ich meine!“
– „Ja, schon…! Aber die Risiken…?!“, spuckte Karen geradezu aus.
– „Okay, die Risiken…“, gab die Hasardeurin kleinlaut zu. „Bloss ist das Leben ein Risiko in sich selbst, sagen alle. Ich entschied mich, den jungen Hengst mit innigen Umarmungen runter zu bringen. Es funktionierte, glaubt mir. Doch plötzlich spürte ich ein merkwürdiges Stechen im Unterleib. – Oh mein Gott, er war in mir drin!! Wie war das möglich?? Verfluchte Scheisse! Er hatte mich vollkommen überrumpelt und pumpte wild. Ich versuchte, mich herauszuwinden, kam aber nicht los. Darauf begann ich laut um Hilfe zu schreien, aber es war ja niemand da. Als… – …als er endlich fertig war, drehte er sich einfach um und ging. – –
– „Oh mein Gott, was machtest du dann?“, wimmerte Olivia verzweifelt.
– „Du hättest ihm kräftig zwischen die Beine treten sollen“, meinte Sven.
Sheila fühlte sich leer, war aber dennoch froh, ihre engsten Freunde in ihr Geheimnis eingeweiht zu haben. Sie musste sich erst wieder fangen. Endlich murmelte sie vor sich hin:
– „Was ich dann gemacht habe? – Nun, nichts hab ich gemacht, bin da gestanden und hab gewartet…“
– Olivia sprang zu ihr rüber und hakte nach: „Sheila, bitte! Hast du es deinen Eltern gesagt? Bist du ins Krankenhaus gegangen, oder hast du es der Polizei gemeldet? Raus damit jetzt! WAS in aller Welt hast du da gemacht?“, rief sie.
– „Wie hat er denn ausgesehen?“, fragte Karen ruhiger. „Wer war es? Kennen wir ihn etwa?“
– „Wer es war…?“, murmelte die missbrauchte junge Frau kaum hörbar. “Ich kann mich einzig an seine sanften Lippen erinnern, sein schwarzes Haar, die Liebe, die er… – – ..Mal ganz ehrlich, welchen Sinn hätte es gehabt, meinen Eltern davon zu erzählen?“, fand das Opfer langsam seine Stimme wieder. „Ach, unsere Eltern! Mindestens tausendmal am Tag liegen sie uns in den Ohren mit ihrem „Ich hab dich lieb!“ – aber sie meinen es nicht wirklich. Sie kümmern sich lieber um ihren eigenen Kram, mehr ist da nicht. Da habe ich es vorgezogen, es mit euch zu teilen, hier am Lagerfeuer…“ – –
Mit leeren Blicken starrten die anderen in die Dunkelheit und vermieden jeden Blickkontakt. Tom hatte noch immer mit einem Ständer, der ihm seinen Schritt unangenehm ausbeulte:
– „Verflucht, immer dasselbe mit diesen Tussis: erst machen sie uns an, nur um uns gleich wieder fallen zu lassen!“, platzte er heraus.
– „Wie kannst du es wagen!“, unterbrach ihn Karen puterrot vor Wut. „Das ist absolut inakzeptabel, halt sofort die Klappe!“
– „Ach, hör bloss auf damit!“, blaffte Tom zurück, „Was, wenn sie sich das alles nur ausgedacht hat? Sheila, gib‘s doch zu, alles erfunden, nicht wahr?“
Die ganze Zeit über sassen Kerry und Archer etwas abseits und schwiegen. Plötzlich stand der Anführer auf, ging zum Lagerfeuer und fing an, ziellos in der Glut herumzustochern. Dabei tat er so, als sei er in einem ganz anderen Film, gar nicht richtig da. „Was führt sie im Schild? Warum ausgerechnet jetzt, verdammt?” waren nur zwei der bangen Fragen, die sein junges Gemüt plagten.
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