Schnürl

Von Johannes Morschl

Unbefugte waren in den Wald seiner Gedanken und Gefühle eingedrungen, vermutlich irgendwelche neidischen kleinen Lichter, die sich zu kurz gekommen fühlten, oder waren es irgendwelche von einer anonymen Macht beauftragten Störenfriede? Zuerst hatte er gar nicht verstanden, was und warum da lief. Zuerst dachte er, es handelte sich bloß um eine vorübergehende betriebsbedingte Störung in seinen Gedanken und Gefühlen. Irgendetwas wäre da in ihm aus dem Lot geraten, vermutlich aus Gründen eines langsamen, beharrlich fortschreitenden körperlichen und geistigen Verfalls. Man ist ja schließlich kein flotter Jungspund mehr, dachte er. Aber dann kamen ihm Zweifel an dieser Altersverfalls-Hypothese. Er wurde sich immer sicherer, dass es sich um einen gezielten Angriff auf sein Gehirn und seine mit dem Gehirn verkabelten Gefühle handelte. Aber wer steckte hinter diesem Angriff? Wahrscheinlich irgend so ein kleines Licht, das sich einbildete, besonders originell zu sein, aber nur Quatsch mit Soße produzierte, und das sich von ihm übergangen, beiseite geschoben, nicht anerkannt fühlte, und ihm deshalb Schaden zufügen und sein inneres Betriebssystem stören wollte.

Zuerst versuchte er, dies alles in die Erde abfließen zu lassen. Er stellte sich auf einen Felsbrocken, der in der Landschaft lag, seine schwarze Strickmütze bis über die Ohren und bis zu den Augenbrauen heruntergezogen. Es war lausig kalt, der Krieg in der Ukraine war relativ nahe, nur Polen dazwischen, danach kamen gleich die mustergültig gepflügten deutschen Ackerböden. Wie er da auf dem Felsbrocken stand, hätte er ein Denkmal sein können, das Denkmal eines Verlorenen, schon zu Lebzeiten in Vergessenheit Geratenen. Aber dann erwachte in ihm Widerstand gegen dieses sich feige versteckende kleine Licht, wahrscheinlich irgend so ein von Mama verwöhntes kleines Würstchen, das in Papa einen übermächtigen Rivalen gesehen hatte, oder sich von Papa übersehen gefühlt hatte und ihn am liebsten umgebracht hätte, sich dies aber nicht getraut hatte, und das hatte nun er abbekommen, er – ein Fremder, der dem kleinen Würstchen nur vom Namen und von seinen öffentlichen Aktivitäten her bekannt sein konnte. Aber vielleicht war es gar kein kleines Würstchen…

Er war all dessen müde, eigentlich war er seines ganzen Vorhandenseins in diesem Irrenhaus Menschenwelt müde. In der Ferne sah er bereits die Aufschrift Ende aufflimmern. Der Film geht endlich dem Ende zu, dem Erlöschen für immer, dachte er. Am liebsten hätte er sich ins Bett gelegt, die Augen geschlossen, und wäre nie wieder in diesem Irrenhaus, das sich Menschenwelt nennt, aufgewacht. Der Mond, der alte Zausel, hing über den Dächern. Es war Zeit, sich den Träumen zu überlassen. Noch waren sie da, aber sie zerflossen langsam, wurden immer verschwommener, und dann… Jäh erwachte er wieder im Hier und Jetzt. Ihm war kalt. Er fühlte sich alt und verloren in seiner leiblichen Hülle. Die Welt war ihm fremder denn je geworden. Er gehörte zwar objektiv gesehen noch zu ihr, aber innerlich hatte er sich bereits von ihr verabschiedet.

Er sagte sich, zurückziehen, in die innere Emigration gehen, sich in sich selbst vergraben, ich bin nicht, also bin ich, denn ich habe noch einen Schatten, der mich bis ins Grab begleiten wird, bis in die Totenstille. Das Gedröhne der Welt wird dann meinem Schatten und mir nichts mehr anhaben können. Wir werden uns aber eingestehen müssen, für diese Welt zu sensibel gewesen zu sein, zwar kein Weichei, wir konnten so einiges einstecken und konnten auch ganz gut austeilen, wenn es sein musste, aber letztendlich waren wir zu gefühlig. Wir litten immer mit, wenn jemandem Unrecht angetan wurde.

Da betrat eine merkwürdige Figur sein inneres Szenario. Sie erinnerte von ihrer Magerkeit und den Verbiegungen ihrer Körperhaltung her an ein Fragezeichen, so als hätte sich in ihr eine Infragestellung ihrer selbst und darüber hinaus des gesamten Universums somatisiert. Das Fragezeichen sagte: „Wie langweilig. Schreibst du jetzt nur noch für Gruftis?“ Das hätte das Fragezeichen nicht sagen sollen, zumal das Fragezeichen und er sich auf ein und derselben Oberfläche befanden, auf einer Oberfläche, die mit Ampeln, Polizisten, Richtern, Hinrichtern, Hirnrichtern, Genies, Volltrotteln, und mit größenwahnsinnigen Multimilliardären, die Staatspräsidenten waren, zu deren Hobbys es gehörte, benachbarte Länder zu überfallen und denen Menschenleben scheißegal waren, bevölkert war.

Wohin haben wir uns verirrt?, fragte er sich, oder sollte man eher sagen: Wohin wurde man verirrt? Er musste unwillkürlich an die KZs der Nazis denken, an die von Unmenschen an Menschen verübte Hölle auf Erden, wobei die Unmenschen in ihrem Privatleben biedere, nichtssagende Leute waren, die ihre Hunde liebten und immer gut fütterten. Wenn der Hund ein Wehwehchen hatte, holte man sofort den Tierarzt. Da machte man sich große Sorgen um den Hund. Man wird ihn doch nicht einschläfern lassen müssen! Man liebte ihn über alles. Man gehörte selbstverständlich zur Staatspartei, zur Partei der Mörder, Henker und Folterknechte. Man folterte, henkte, erschoss und vergaste mit Zustimmung eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung. Da waren so einige biedere Bürger dabei, die im Geiste mit mordeten. Diese Mentalität hielt sich noch lange nach dem Ende der Herrschaft des braunen Verbrecherpacks. Er konnte sich noch gut an Rufe von Passanten wie „Euch sollte man alle in ein KZ sperren!“, „Euch sollte man alle vergasen!“ erinnern, als er Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre zuerst in Wien und dann in Westberlin an Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg der USA teilgenommen hatte.

Doch wenden wir uns einem angenehmeren Thema zu, sagte er sich dann. Wie steht es mit der Liebe? Heute ist Vollmond, aber noch Minusgrade draußen. – Oh, in deinen Armen, nackt Leib an Leib! All das Schwere, Bedrückende fällt ab. – Spürt ihr auch den Pulsschlag des Weltalls in euch?

Nach diesem flüchtigen zwischenzeitlichen Hoch überkam ihn wieder ein Gefühl der Verlorenheit in der Welt. Er wollte verschwinden, sich in Luft auflösen. Trauer, unendliche Trauer, und ein Gefühl von Hilflosigkeit machten sich in ihm breit. Bloß kein Leidensweg des Alters mit zunehmender körperlicher Hinfälligkeit und Verwirrung des Geistes! Und warum gerade unter die Menschen geraten?, sagte er sich. Warum nicht unter die Berggorillas oder die Störche oder die Schildkröten? Er fühlte sich auf den Hund gekommen, – kein Geld, keine Ideen, keine Freunde mehr. Er stand sozusagen im Regen, ohne Regenschirm in einem Schnürlregen. (1) Es regnete nicht einzelne Tropfen, es war auch kein feiner Nieselregen oder gar ein Regenguss, sondern es regnete in Schnürln. – Ha! Aber ja! Das ist genial!, dachte er. Endlich war ihm ein passender Künstlername für sich eingefallen: Schnürl, schlicht und einfach nur Schnürl. „Ich bin Schnürl, also bin ich. Schnürl ist ab sofort meiner neuer Künstlername! Ich werde auf Lesebühnen nur noch unter dem Namen Schnürl auftreten und meine Texte, so wie auch Briefe und amtliche Formulare nur noch mit Schnürl unterzeichnen!“ Er fühlte sich wieder im Hoch. Doch dann sagte er sich: „Wozu das alles. Das ist lächerlich und völlig sinnlos, der Größenwahn einer Eintagsfliege.“ Und schon stürzte er wieder in ein schwarzes Loch…

Szenenwechsel. Einige Zeit später. Wir, die wir Schnürl kannten, waren total erschüttert über die Nachricht von seinem plötzlichen Tod. Man geht von einem Freitod aus. Darauf wies ein merkwürdiger Brief hin, den man in seiner Wohnung gefunden hatte. In dem Brief stand nur geschrieben: „Auf Nimmerwiedersehen! Ich bin an dieser Welt verzweifelt.“ Unterzeichnet mit: „Schnürl, geb. 1947 – gest. nicht erst heute“. Seine Leiche wurde jedoch noch nicht gefunden. Jedenfalls war er spurlos verschwunden.

Unter einem Kastanienbaum steht ein überzeugter Schnürlianer, der sich auf Schnürls ziemlich überschaubares Werk spezialisiert hat. Er behauptet steif und fest, Schnürl habe nicht, wie allgemein angenommen wurde, aus Verzweiflung, in diese Welt geworfen worden zu sein, Selbstmord begangen, sondern lebe noch. Er wäre ihm im Traum erschienen, wie er sich nackt auf einem abgelegenen Strand an der Mittelmeerküste Spaniens räkelte. – Nun, im Traum mag so mancher weiterleben, könnte man zurecht einwenden. Jedenfalls beugen wir unser Haupt und trauern um Schnürl. Adieu, Schnürl! Tapfer wie der ingeniöse Hidalgo Don Quixote hast du dich so lange, wie es dir möglich war, durch die Wirren des Lebens geschlagen. Von der Rosi, also nicht von Don Quixotes klapprigen Klepper Rosinante, sondern von der echten Rosi aus Wien, die alles andere als klapprig ist, – na, du weißt schon, welche gemeint ist – , sollen wir dir ein letztes Bussi-Bussi ausrichten. Sie macht jetzt Bussi-Bussi mit dem Kummerer Ferdl aus dem 10. Hieb. (2)

1) Schnürlregen ist ein österreichischer Ausdruck für einen sozusagen in Schnüren dicht fallenden Regen. Berühmt-berüchtigt ist zum Beispiel der Salzburger Schnürlregen. Salzburg ist ohne Schnürlregen gar nicht zu denken. Sollten Sie einmal nach Salzburg fahren: Auf keinen Fall ohne Regenschirm und Regenmantel!

2) Hieb ist ein Wiener Mundartausdruck für Gemeindebezirk. Der 10. Hieb in Wien ist der 10. Wiener Gemeindebezirk Favoriten, – ein Arbeiterbezirk.

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© 2023 Johannes Morschl
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