Von Henning Brüns
Die Mischpoke ist kein Warensortiment. Sagte schon? Ich komm‘ nicht drauf. Der Karl für den Fall, dass Friedrich mit einer Erkältung im Bett lag. Lang ist es her. Ihr Kapital ist auch nicht mehr. Es war einmal. Und darum geht es ja. In den heutigen Zeiten kann man nicht vorsichtig genug rechnen. Eben schien noch die Sonne und plötzlich scheint es zu regnen. Die Natur siecht dahin und auch die Kosten fressen einen auf. Sagen die Prozessbeteiligten. Nur das Sterben selbst scheint natürlich und folgerichtig kostenlos zu bleiben. Die Kriege können ein Lied davon singen. Vielleicht wurde ich deshalb eingeladen. Jemand hatte sich verrechnet. So geht das aber nicht. Aber was weiß ich denn? Zumal nicht Algebra den Ausschlag gab für mein Erscheinen. Sondern das Karzinom am Hals des alten Patriarchen. Der Brief an mich verschwieg es nicht. Im Übrigen hatte er, das möchte ich betonen, das Leiden gemeinsam mit einem anderen Typ seines Menschenschlags. Wie hieß er gleich? Er stammte von etwas weiter weg. Nördlich des 38. Breitengrads lag seine Heimat. Noch so ein Ausdruck den niemand richtig kapiert. Kim Il Sung war sein Name. Usurpator von Beruf und wie Karl Theodor ein egomanischer Familienmensch. Verwandt waren sie dennoch nicht. So der Tatbestand. Am Tage vor dem Fest der Liebe.
Der letzte seiner Atemzüge kam wie gerufen. Die Glocken läuteten. Der Gottesdienst war vorbei. Die Versammelten hatten Vaters Leiden satt. Und nun auch das. Mittendrin erschien meine ausgehungerte Wenigkeit am Horizont. Populär wie ein Stuhlgang bei Diarrhö. Der letzte Nachkomme des alten Bock. Was treibt er unter uns der Lump? Diese oder ähnlich warme Worte platzierten mich ans Ende der Tabelle. Doch der letzte Platz war mir nicht ein Achselzucken wert. Ich verdrückte mich wie zu früheren Zeiten in die Küche. Zur guten Hilda und ihrer hinkenden Gehilfin. Ihren Namen habe ich vergessen. Obschon ihre süßen Desserts stets superb waren. Da haben wir es wieder. Im Nachhinein bleibt das Gute und Schöne oft fahrlässig anonym. Licht lässt sich nicht konservieren. Glück verschwindet im Nichts der nichtigen Strahlenwelt. Dagegen die Schatten halten die Stellung. Manifest wie Monolithen im Vergessen. Lesen Fährten wie Bluthunde in finstersten Gedankengängen. Auch wenn es schmerzt, ich kann nicht anders, möchte meinen Beitrag leisten. In einer heiteren Erzählung wie dieser müsste meine Trostlosigkeit mühelos zu verkraften sein.
Unwillkommen seit der Empfängnis war mir kein leichtes Los beschieden. Doch verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will mir keine Träne nachweinen. Um zu mir selbst zu finden, war lange Zeit mir jeder Weg zu weit. Irgendwann war ich dann… Sie kennen das sicher. Soweit kam ich aber nicht. Sie sehen, das führt zu nichts. „Über sieben Brücken musst du gehen“ war ein beliebter Song. Damals. Ich konnte ihn nicht ausstehen. Wäre die Schnulze ein Schulze, hätte ich ihr den Hals umgedreht. Wer frei von Schuld ist, der werfe den ersten Stein. Ganz frei nach einem gewissen Herrn aus Nazaret. Schon eher ein Satz nach meinem Geschmack. Am 1. Mai in Kreuzberg war ich dabei. Die Kraftwagen in Flammen sprachen für sich. Aber mit mir sprachen sie nicht. Ungerührt im Hauseingang stand ich nicht allein, eine schwangere Frau bekam es mit der Angst zu tun. Als wäre der Aufmarsch der auf Krawall gebürsteten Knüppelträger nicht genug der Pein, überlisteten auf der Stelle dutzende Pflastersteine die ehrwürdige Schwerkraft. Was folgte, ist kein Ruhmesblatt. Eine chemische Reaktion zum Schutze der Grundwerte zerstreute die Menschenmenge. Tränengas machte sich statt ihrer auf der Straße breit. An den Fenstern im Altbau gegenüber sah ich betagte Damen verwundert durch die Gardinen schauen. Was werden sie gedacht haben? Hat dieser Nebel etwas zu bedeuten?
Steht wieder ein Untergang vor der Tür?Karl regt sich in mir. Wie ein eingefleischter Leibeigener. Habe ich seinen Genius noch nicht befriedigend verspottet? Seine Nachhaltigkeit scheint mir unterbewertet. Bei Geldanlagen unbedingt auf die Langfristigkeit achten. Ich weise auf die steigenden (Un)Kosten hin. Doch lassen wir das. Reisen wir weiter zurück in der Zeit und suchen den Punkt, an dem die Nadel meinen Faden verlor.
„Matschbirne“ war ein stehender Terminus in meiner Kindheit. Die um Jahre jüngeren Zwillinge,
Repräsentanten der legitimen Linie, lachten ihn lustvoll aufs Tapet, sobald sie meiner angesichtig wurden. Mit jedem Tag, der damals am Horizont zerbrach, verhärtete sich ihre unartige Übelkeit. Hör nicht hin, Kleiner. Hilda meinte es gut mit mir. Doch das Gutmütige ignorierte ich. Ich ergötzte mich am Ekel vor mir selbst und spie ihn flüssig auf den kostspieligsten Teppich, der in der Eile aufzutreiben war. Wer an der Wahrheit sich labt, darf für die Lüge nicht mit Rabatten rechnen. Wieder Karl? Oder doch Friedrich? Wahrscheinlich letzterer. Ist Engels eigentlich der Plural von Engel? Nicht ungeschickt im Tölpeln, war ich im Floskeln ebenfalls keine Null. Zu mehr reicht es nicht, lautete das einhellige Urteil. Leider hirnverbrannt das Kind. Wir opfern es rechtzeitig. Das ist unsere Pflicht. Mit einem Augenzwinkern war alles dazugehörige rasch getan. Ausgehalten von Überweisungen, die den massiven Teuerungsausgleich nicht unberücksichtigt ließen, verschwand ich im Niemandsland einer künstlerischen Existenz.
Was bedeutete, niemand zählte die Jahre bis ich in den Schützengraben zurückkehrte. Es waren mehr als gedacht, und weit weniger als erhofft. Es ginge langsam zu Ende. Hieß es. In dem besagten Brief. Kranke Sätze, die mein Gewissen aufschüttelten. Zuvor quälte allein sein Dasein. Über Wochen hatte er üble Laune verströmend wie ein Kadaver in meinem Papierkorb gelegen. Ungeöffnet im Übrigen und in guter Gesellschaft. Das neueste Einschreiben vom Vermieter geduldet sich weiterhin vorbildlich zwischen lauter ungeduldig zerrissenen Dichtungsversuchen. „Ob es mir möglich wäre? Der Vater hätte gefragt.“ Nach mir? Ich solle kommen? Vertraut schallte das einvernehmliche Duett der Zwillinge, ihr wenig zimperliches, in meinen Adern gerinnendes Lachen.
Verknotet in den Wolken saß er in einem Rollstuhl, als ich seinen Raum betrat. Wer war dieser verhärmte Kerl? Doch kein Bild von einem Mann, der mein kindisches Gefühl verdiente. Eher ein Knäuel aus Gedärmen. Eingeschrumpft blickte er aus der Wäsche, die frisch gestärkt seine verfleckte Haut verhängte, als würde sie allein seinen haltlosen Knochenbau in der Vertikale tragen. Zwei teigige Funzeln blinzelten im Fett der erloschenen Jahre. In seinem Schädel war nichts länger der Mühe wert. Früher oder später nistet der Schwamm sich bei jedem ein. Karl hat recht. Sogar schlichteste Geisteskräfte haben mit nachlassenden Preisen im Ausverkauf zu rechnen. Stillschweigen bedeutet sodann nur mehr reines Glück. Gönnen wir uns doch ein gemeinsames Stück! Wenige Schritte sollten genügen. Im Arm seine kalte, knochige Hand. Er grunzte sogar dies und das. Ich hielt die Luft an. Nicht sonderlich rosig roch es aus seinem Munde. Lassen wir lieber andere für uns sprechen, dachte ich und steuerte zurück. Befremdlich ging es zu auf der flimmernden Bühne neben dem Bett, in dem er Erholung suchte. Noch nie Gehörtes kam zu Wort. Immer mehr Raubtiere machten im Wahnsinn des rasant wachsenden Elektroverkehrs fette Beute. Im Amazonas? drohte das Wasser damit, knapp zu werden. Die deutschen Wälder dagegen vermeldeten, sie würden auswandern. In eine der letzten Volksherrschaften auf Erden. Nach Grönland oder Feuerland? Unter uns gesagt, wer kennt sich heute noch aus? Befriedigt nickte Vater gleichgültig ein, ein Speichelfaden seilte sich von seinem Munde ab. Woran wir hängen, sollten wir in Ehren halten.
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© 2023 Henning Brüns
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