Erlöst

Von Lena Kelm

Während eines sonntäglichen Mittagessens bei Tante Lotte in Berlin erlebte ich eine Situation, die sich genauso in mein Gedächtnis einprägte wie die mit der Mettschrippe.
Der Sonntag begann wunderbar, ohne Mettschrippe zum Frühstück. Ich hatte die Peinlichkeit der Situation noch nicht ganz überwunden.
Die Julisonne sendete freundlich ihre Strahlen vom blauen Himmel in Tante Lottes Garten vor dem Haus. Tante Lotte deckte den Tisch unter den schattenspendenden alten Kirschbaum. Ich war begeistert. Noch nie aß ich unter einem Baum, wie auch in der Steppe? Für mich war ein echter Kirschbaum voll reifer Kirschen, der erste in meinem Leben, märchenhaftes Erlebnis. Kirschen kannte ich ausschließlich im Kompottglas aus einem Geschäft.
Wer sich noch mehr freute, waren die Spatzen. Die frechen Invasoren besetzten den alten Baum von der Krone bis zu den unteren Ästen. Plötzlich plumpste etwas mit voller Wucht auf meine Glasschale mit Salat. Mit der Gabel in der Hand zuckte ich erschrocken zusammen. Tante Lotte lachte laut los: „Der hat dich erlöst!“ Mir stieg Röte ins Gesicht. Tante Lotte, die mich genau beobachtete, hatte bemerkt, dass der von ihr liebevoll zubereitete Salat nicht gut bei mir ankam. Woher sollte sie wissen, dass ich nie in meinem Leben Blattsalat sah und mir das süß-saure Dressing fremd war? Ich stotterte entschuldigend: „Ich habe ein wenig davon gegessen, Tante Lotte. Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht, pflegten meine Eltern zu sagen. Nimm es bitte nicht persönlich, alles andere schmeckt köstlich.“
Tante Lotte, von meinen Deutschkenntnissen beeindruckt, nahm meine Entschuldigung an. Vor unserem Treffen befürchtete die Tante Schwierigkeiten in unserer Verständigung.
Am letzten Tag meines Aufenthalts in Berlin unternahm Tante Lotte erneut den Versuch, etwas typisch Deutsches für mich zu kochen. Sie schmorte Fleisch und ich saß in der Küche und unterhielt mich mit ihr. Als Tante Lotte ein Glas mit eingemachten Birnen aus dem eigenen Garten öffnete und es in den Schmortopf ausleerte, weiteten sich meine Augen vor Entsetzen. Stolz erklärte sie: „Es gibt heute das altpreußische Essen Himmel und Erde. Mein Magen signalisierte krampfhaft: Oh, oh, das kann heiter werden!
So kam es auch. Ich aß zwar stoisch ein paar Stücke Fleisch, aber die Birnen in der Fleischsauce waren am schwierigsten herunterzukriegen. Tante Lotte nahm es mir nicht übel. Mit dem alten Sprichwort war alles gesagt.
Heute würde sie sich freuen, meine liebe Tante Lotte. Ich esse gerne Blattsalat, Fleisch mit Pflaumen, ab und zu mit Quitten, aber leider keine Mettschrippen. Ich kriege das rohe Fleisch einfach nicht herunter. Bei den vielen Vegetariern und Veganern heutzutage beleidige ich die Berliner damit nicht. Tante Lotte würde sich wundern, wie viele vegetarische Aufstriche es gibt, die fleischähnlich schmecken.

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© 2023 Lena Kelm
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Unbekanntes Berlin

Von Lena Kelm

Bestimmt hat jeder Berliner im Laufe des Lebens irgendwann die Entdeckung gemacht: Berlin gibt es überall auf der Welt. Kleinere und größere Orte unter dem Namen. Die Namensvetter unserer Hauptstadt. In der heutigen Ära der medialen Informanten wie Google Wikipedia und Co kein Wunder.
Mich hat auf die Idee, über Berlin zu schreiben, ein kleiner Beitrag im Tagesspiegel gebracht. Die Reporter haben sich vorgenommen, auf die Entdeckungsreise der Berlins der Welt zu gehe. Einmal geht es um Berlin in Australien, ein Ort, der irgendwann von Bewohnern allmählich verlassen wurde wegen der extremen Hitze bis 50 Grad Plus. In dem kleinen Berlin in Vermont herrscht im Winter „saukaltes“ Wetter. Hier liegt der Schnee einige Meter hoch. Als ich diese Zeilen las, überkam mich das Deja-Vu – Gefühl.
In dem Berlin, das ich kannte, gab es beides: im Sommer bis 40 Grad, im Winter Schneeberge und Temperaturen bis 40 Minus. Der Unterschied besteht darin, dass dieser Ort auf keiner Weltkarte wie Google zu finden war oder ist. Es ist das nordkasachische Berlin. Es war auch kein selbständiger Ort, sondern ein Ortsteil von Maikain einer Arbeitersiedlung „städtischen Typus“ – offizielle administrative Bezeichnung. Es gab in dieser Siedlung, in der ich meine Kindheit und Jugend erlebte, noch einen Ortsteil, der Shanghai hieß. Die zwei Ortsteile hatten kein ausgeprägtes Zentrum, sie teilte eine Straßenkreuzung. Die Siedlung, die bis Ende der 40er-Anfang der 50er ein Aul – kasachisches Dorf war, bekam den Status der Arbeitersiedlung mit dem Zuwachs der Bewohnerzahl durch zwangsumsiedelte Tschetschenen, Juden und Deutsche, sowie meine Eltern.
Die Zuwanderer standen unter Kommandantur-Aufsicht bis 1956 und viele wurden wie mein Vater aus dem Gulag hierher transportiert. Übrigens war Maikain bis 1953 eine Gulag-Abteilung. Auch nach 1956 durfte niemand in die Heimat zurück. Dadurch geriet Maikain in seine besten Jahre. Es boomten der Wohnbau, die Wirtschaft, das gesellschaftliche Leben. Viele Neuankömmlinge bezogen die erst von ihnen erbauten Wohnungen. Unter anderem mein Vater. Er lehnte den Bau eines privaten Hauses kategorisch ab. Und begründete das mit dem Verlust seiner zwei Häuser mit ganzem Hab und Gut durch Enteignung infolge der Revolution 1917 und den zweiten Weltkrieg. Vater sagte wörtlich: “Für diese Räuberregierung baue ich nie wieder.“ Die Aussage war natürlich für die Ohren der Familie gedacht.
Ein großer Teil der fleißigen Deutschen, besonders die von der Wolga stammenden Schwaben, wie mein Vater sie nannte, bauten trotzdem. So entstand der Ortsteil Berlin. Der sich von Shanghai und dem zentralen Teil um die Straßenkreuzung, in dem wir lebten, unterschied sich von Berlin gravierend. In Berlin wohnten nur Deutsche, die deutsch sprachen, aber ich glaube, die Russen nannten den Teil Berlin auch noch aus einem anderen Grund. Der Namen war ihnen durch die Eroberung 1945 bekannt. Shanghai nannte man, weil die Augen der Kasachen der den Chinesen ähnelten. Deutsche sahen eher wie Russen aus.
Aber Berlin war das krasse Gegenteil von Shanghai und dem russischen Zentrum. Hier standen die Einfamilienhäuser in Reih und Glied die Straße entlang. Schon die Einhaltung dieser Ordnung beäugten die Anderen ungläubig. Das Äußere: der gestrichene Zaun, getünchte Fassade, gestrichene Fensterläden, gefegter Hof, kiesausgelegter Gehweg erschienen fast exotisch. Dann fielen die Spitzengardinen und Blumen auf den Fensterbrettern, Typisch deutsch, hieß es. Und war es auch Dieses Berlin entstand dank Nachkommen der Deutschen, die vor 200 Jahren die Zarin Ekaterina nach Russland einlud. Danke der weitergegebenen Tugenden wie Fleiß und Ordnung. Heute gibt es das Berlin nicht mehr. Die Einwohner kehrten zu ihren Wurzeln zurück.

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© 2023 Lena Kelm
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Füße

Von Regine Wendt

Meine Freundin Martina ist zu Besuch. Seitdem ich diesen Riesenfernseher habe, sehen wir uns gelegentlich zusammen einen Film an, machen es uns dabei gemütlich. Heute -Pulp Fiction- von Quentin Tarantino. Sie hat ihn ausgesucht wegen der Füße.
Nach einigem Zögern erklärt sie mir warum.

Ich beschäftige mich mit Füßen. Mit Schuhen und auch mit Strümpfen. Es hat mich richtig gepackt. Es sind besondere Füße. Sie sind schmal und mädchenhaft. So weiß schauen sie aus den Sandalen, manchmal mit einem Bändchen geschmückt. Nackt, ohne Strümpfe gefallen sie mir besonders, lackierte Fußnägel sind nicht wichtig aber auch wieder schön.

Ich schaue auf Martinas Füße, jeder Zeh hat eine andere Farbe. Gefällt mir.

Martina fährt fort, wobei ihre kräftige Stimme einen leisen zarten Klang annimmt.
Ich empfinde die Füße wie zwei Kleinode. Sogar unschuldig kommen sie daher. Im Bus, in der U-Bahn, auf der Straße. In ihrer Nacktheit sehen sie verletzlich aus. Mal ist eine große blassrosa Blume auf der Sandale, mal sogar ein Kettchen um den Spann. Die Beine wiederum stehen auf High Heels, rasiert, glatt, wie Säulen, so lang, bis es nicht mehr weiter geht. Den Abschluss bilden dieses Jahr Höschen. Diese Mode ist auffallend nur für junge Mädchen und Frauen. Doch mehr reizen mich die schmalen Füße , als diese fast nackten Beine.

Martina schweigt und ich bitte sie, weiter zu erzählen.

Sie blickt mich ruhig an, sie weiß um unsere Vertrautheit.

Ich überlege, warum ich zu dieser plötzlichen Obsession komme. Sicher ist es eine erotische Anziehungskraft, die sich irgendwann einmal ausgebildet hat. Ich kann mich nicht direkt erinnern. Schuhgeschäfte mit besonderen Schuhen zogen mich schon immer an. Extravagante Modelle mit hohen spitzen Hacken, gar in rot, sind das Optimum. Obwohl ich flache Schuhe, die den natürlichen Gang, der für mich mit Würde verbunden ist, bevorzuge.

Martina nippt an Ihrem roten Wein, ich bin ganz ruhig und unterbreche sie nicht.

Wenn ich sage Schuhgeschäfte, kennst du ja meine Vorliebe für Strumpfboutiken, die nur noch wenig hier zu finden sind. Diese Strümpfe, die ich dort entdecke, besitze ich, trage sie unter meinen langen Hosen, und freue mich über sie. Nicht jeden Tag, nur manchmal.

Willst du weiter hören? Jetzt wird es heikel.

Zugegeben ich bin ein wenig neugierig.

Du weißt, das ich seit einiger Zeit begeisterter Fotoamateur bin. Mit wahrer Leidenschaft fotografiere ich meine Füße. Ich habe eine kindliche Freude an ihnen. Lege sie mit schwarzen Strümpfen auf farbige Unterlagen, dekoriere sie mit Rosenblättern. Helle Nylons ergeben einen silbrigen Schimmer, und nackte Füße mit einem weißen Schleier bedeckt, das Ganze in sepia, machen sie unschuldig, zart, ja zärtlich. Die Schuhe, die ich nicht besitze würde ich gern neben die Füße stellen, das ergibt dann einen etwas frivolen Touch.

Sie hält inne und sieht mich etwas forschend an.

Mit rauer Stimme sagt sie- Wenn ich Lust habe, gestalte ich die Fotos auch mit zerrissenen Strümpfen, beschmiere die Füße mit Lippenstift. Ganz irre ist ein kleiner Schnitt, richtiges Blut ist durch nichts zu übertreffen. Manchmal bemale ich die Füße, entwerfe schöne Zeichnungen, schlinge eine Perlenkette um sie, das gefällt mir.

Eine lange Pause entsteht. Draußen regnet es schon seit Tagen, hier drinnen sind wir beide in einem Kokon der Vertrautheit versponnen.

Wie gesagt, – Martinas Stimme klingt gelöst, fast fröhlich- noch ist die ganze Angelegenheit ein Produkt der Fantasie. Ich liebe meine Füße und brauche keinen Masseur und will niemand massieren. Noch stehen sie für sich allein, sind scheu und ängstlich, sich auf eine besondere Weise ins Leben zu wagen. Sie beflügeln meine Vorstellungen bis hin zu kühneren Träumen. Noch sind sie nur mein.

Nun ist Martina schon längst zuhause. Ich sehe mir den Film von Quentin Tarantino noch mal aufmerksam an. Meine Zehennägel sind wie immer grün. Ich habe sieben verschiedene grüne Nuancen im Schrank, vielleicht sollte ich jeden Zeh in einem anderen Grün lackieren? Ach, Sorgen hat der Mensch.

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© 2023 Regine Wendt
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Beide Pachamamas

Von Pawel Markiewicz

Der Duft mehliger Äpfel bei Oma bestrickte jeden schlechthin. Meine Großmutter war die erste große Pachamama für unsere Familie und meine Träume. Sie pflegte einen zaubervollen Obstgarten, in dem viele Sorten von Apfelbäumen über den Lenz aufblühten und Früchte im Spätsommer oder im Frühherbst trugen. Und die Ontologie der Äpfel war der Pachamama und deren Freunden Insekten zuvörderst bekannt – sie schimmerte auch in dem Zauber der Thaddeus’ Scheune, des Onkels, der einen Pachamama-Altar zu Hause hat. Von den alten Äpfeln blieb noch ein Antonowkaapfel-Baum nebst meinem Hause. Meine Mutter ist die zweite Pachamama, die aus den Äpfeln leckere schmackhafte Kuchen zuzubereiten vermag, binnen Sommers bis in die Herbstmitte. Der Duft von allerhand Kuchen verzaubert meine Seele voll Apfelzaubereien. Ich mag in der Schwermut von den Äpfeln einfach schwelgen, insbesondere im Silentium jeden Morgenrots. Die Pachamamas stelle ich mir vor, als kluge Frauen mit einem Apfel in der Hand. Es gibt also die Generation von den Pachamamas, verzaubert vom dem Apfelduft. Der Apfel ist ein Symbol für die Herrschaft jener beiden, die auch träumerische Erlkönige-Betörer als verträumte Untertanen umfasst, die in den beiden Eichen neben der Scheune gerne verweilen. Die pittoresken obigen Pachamamas sind ebenfalls junonische Dichterinnen und Philosophinnen so wie
eine Pachamamas des Altertums.

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© 2023 Pawel Markiewicz
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Bierdeckel unter die Füße

Von Lena Kelm

Der frühe Morgen schenkt vor der angesagten Hitze des Tages angenehm kühle Luft. Ich fühle mich wohl. Die frische Morgenluft sorgt für einen freien Kopf. Die Sorgen des bevorstehenden Tages scheinen von den kaum vernehmbaren Windböen wie weggeblasen. Bin ich nun ein wetterempfindlicher Mensch?
Mein Grübeln über den Wettereinfluss auf meinen Charakter wird an dieser Stelle unterbrochen. Auf dem leeren Gehweg taucht ein kleiner Mann in BSR-Montur, großer Schutz-Brille, noch größeren Kopfhörern und einem elektrischen Laubläser auf, das er in dem Moment einschaltet. Er beginnt mit dem Schlauch den Müll einzusaugen. Das Geräusch ist ohrenbetäubend. Ich wünsche mir auch Kopfhörer. Beruhige mich bei dem Gedanken, ich verlasse in ein paar Metern diese Straße. Worüber ich mich mehr aufrege, das ist viel Lärm um Nichts. Das Gerät zieht zwar einige Kippen, Blätter und kleinere Papierfetzen ein, den größeren Müll, darunter Pappbecher, bläst er wie ein winziger Tornado an die Gehwegränder, wo schon anderer angehäufter Müll liegt. Die meisten Kippen bleiben zwischen den Pflastersteinen stecken. Sisyphusarbeit. Ich denke sehnsüchtig an den guten alten Hausmeister mit dem gründlichen Besen, den es nicht mehr gibt.
In der Einkaufsstraße fällt mir ein adrett gekleideter Mann, mittlerer Statur, mit akkuratem ergrautem Kurzhaarschnitt auf. Sein blütenweißes Hemd, schwarze Hose und Lackschuhe passen zu ihm. Er hält anstatt eines Besens eine Greifzange. Das beeindruckt mich. Ein tüchtiger, pflichtbewusster Inhaber eines der vielen kleinen Universalwarenläden dieser Straße sorgt für Sauberkeit vor seinem Geschäft. Konzentriert greift er nach Kippen, Papierfetzen. Aber – ich traue meinen Augen nicht – wirft er diese auf die Straße und nicht in den Mülleimer. Er fegt sozusagen vor eigener Tür. Was geht ihn der Müll auf der Straße an? Ich bin enttäuscht, fühle mich hilflos und zu feige, ihn zu ermahnen.
Um die Ecke begegnet mir eine schöne junge Blondine im Mini-Röckchen. Sie hat wohl die erste Portion Nikotin inhaliert, beiläufig wirft sie ihre Kippe auf den Gehweg und tritt sie freundlicher Weise aus. Die modischen Sandalen sind ihr dafür nicht zu schade. Das macht auch kaum einer. Lobenswerter hätte ich es gefunden, wenn sie die paar Schritte zum orangen Hängeeimer der BSR getan hätte. Sie würde ihre Schuhe schonen und müsste sich nicht einmal bücken. Meine Ermahnung, Umweltverschmutzung zu vermeiden, schlucke ich herunter, um eine unvorhersehbare Reaktion zu vermeiden. Habe schon aggressive Ausfälle erlebt. Mir fällt ein Gespräch mit einem Migranten ein, der meinte, Deutsche nerven, belehren, ohne gefragt zu werden wie man zu parken oder wie laut man zu sprechen hat.
Passiere die Straße weiter. Meine Stimmung ist etwas gekippt, ich versuche die Morgenluft tief ein- und auszuatmen. Das soll gegen Aufregung, Stress helfen. Ich merke, die Menschen erwachen allmählich. Eine Frau mit schwarzem Kopftuch kommt mir entgegen. Sie nähert sich mir und sagt plötzlich laut, offensichtlich erregt: „Legt mir Deckel unter die Füße!“ Erst da registriere ich den entgegenkommenden Passanten, der die eben geöffnete Bierflasche zum Mund führt. Ein paar Schritte weiter entdecke ich den Bierdeckel und umgehe ihn, wie es wohl hunderte Menschen nach mir an diesem Tag machen werden. Eventuell tritt einer rauf. Habe auch schon Kinder damit auf dem Gehweg Fußball spielen gesehen.
Für heute Morgen reicht es mir an Zufällen, die keine Zufälle mehr sind, sondern Gepflogenheiten, die die frische Morgenluft und die Umwelt verunreinigen.

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© 2022 Lena Kelm
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Lustige Pommes

Von Lena Kelm

Ein heißer Sommertag. Mittagszeit. Nach langer Zeit befinde ich mich wieder einmal auf dem kleinen Wochenmarkt. Menschen und Hunde lechzen nach einem Lüftchen, suchen Schatten unter den Schirmen der Stände, die meisten kaufen Wasser oder Wassermelonen. Es sind weniger Menschen als sonst üblich da. Nur vor dem Verkaufswagen mit der roten Aufschrift CURRY-ECK steht eine Schlange unter sengender Sonne. In meinem Bezirk gibt es meines Wissens keinen Curry-Wurst-Stand mehr wie einst. Der Appetit auf die beliebte Rarität erklärt den Andrang trotz der Hitze.
Ohne lange zu überlegen, stelle ich mich an. Nein, auf die einzigartige Wurst-Spezialität verzichte ich, bin längst zu einer Fast-Vegetarierin mutiert, konsumiere selten Fleisch aus gesundheitlichen Gründen. Vermisse es auch nicht. Dafür erlaube ich mir ab und zu die andere Sünde: Pommes. Hier sind sie gut. So gut wie die zwei Verkäuferinnen und die Köchin in einem. Seit vielen Jahren stehen sie hier und altern mit dem Wohnwagen. Flink wie ehe und je. An ihrer Arbeit merkt man ihre geschätzten Anfang Sechzig nicht.
Heute erledigt nur eine die Zubereitung und den Verkauf. Trotzdem schafft sie es, dass die Wartezeit nicht zu lang ist. Stets in Aktion hat sie für jeden ein freundliches Wort, einen flotten Berliner Spruch bereit. Die Pommes kommen ins Netz und Fett, die Würste auf dem Rost werden umgedreht, fertig geschnitten, Curry, Sauce ‘rauf, Pommes ‘raus, Majo dazu, eine Gabel und alles wird nach Wunsch in Folie verpackt. Wie oft werden diese Bewegungen in den sechs Stunden auf den Beinen wiederholt! Ich bewundere die Frau.
In dem Moment nähert sich dem Stand schlurfenden Schrittes ein Mann in viel zu warmer Kleidung, nämlich in Trainingssachen. Mit einer Currywurst. Mir fällt auf, die hat er hier vor gefühlten zehn Minuten ergattert. Er fragt die Verkäuferin: „Haben Sie meine Frau Jana mit dem braunen Hund gesehen?“ – „Nein“, antwortet sie irritiert. Der Mann entfernt sich. Die Verkäuferin lächelt: „Die Menschen glauben wohl, ich wäre hier eingezogen.“ Ich muss lachen, ebenso die anderen Liebhaber der Curry-Wurst, ganz bestimmt Fans dieser Verkäuferin.
Meine Pommes sind fertig. Mit wenig Salz, ohne Majo, wohlbemerkt mit dem Lach-Vitamin.

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© 2022 Lena Kelm
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Neuköllner Schnauze

Von Lena Kelm

Zwei, drei Tage vor Weihnachten. Im Supermarkt winden sich um die Regale Schlangen von Kunden mit voll beladenen Einkaufswagen. Warenberge, Unmengen Weihnachtmänner, Lebkuchen, Gänsekeulen, Rotkohl, Cola und andere Durstlöscher.
Die Leute drängeln an den Packtischen, um ein Plätzchen zu ergattern. Anders geht es nicht, in den Gängen stößt und schubst einer den anderen. Rücksicht ist nicht geboten.
Plötzlich fällt mir ein auf dem Tisch sitzender etwa sechsjähriger Junge auf, dessen Vater Tragetaschen prall füllt. Höflich frage ich den jungen Mann türkischer Abstammung, ob der Sohn den Platz frei machen könnte. Der Vater, ohne den Kopf zu heben und mich anzusehen, sagt: „Hier ist Sitzplatz!“ Und mit der Hand deutet er auf die Wand: „Siehst du nicht?“ Wohlwissend, dass ich veräppelt werde, blicke ich in diese Richtung. „Nein, sehe ich nicht“, widerspreche ich. Da legt der Frechdachs höhnisch noch eins drauf: „Warst du nicht in der Schule?“ Und packt seelenruhig weiter. Der Sohn sieht mich mit seinen braunen Kulleraugen belustigt an.

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Brief. Liebeserklärung an das Buch to go

Von Lena Kelm

Nachdem ich mir Dein neues Zuhause angesehen habe, überkam mich das Bedürfnis, Dir zu schreiben.
Deine Idee, aus gutem Alten Neues zu schaffen, finde ich Klasse. Der Standort stimmt: nicht zu übersehen für vorbeiziehende Passanten. Das Design passt hervorragend, es erweckt Neugier.
In Zeiten, in denen man Weisheiten kaum aus Büchern, eher von Medien mit kurzen „Halbwertzeiten“ bezieht, in denen Gefühle immer weniger eine Rolle spielen, ist Dein Versuch, die Menschen für Dich zu gewinnen, aus meiner Sicht gelungen. Es besteht zumindest die Hoffnung, der Mensch erkennt, dass Du nicht ersetzbar bist. Für mich bist Du unentbehrlich!
Ohne Dich wäre meine Gefühlswelt arm. Lust, Grausamkeit, Intimität, Schande, Groll habe ich durch Dich erfahren sowie Liebe, Treue, Trauer. Auch Humor, Karikaturen und viele intelligente Gedanken, durch die ich das Leben in all‘ seinen Facetten kennenlernte. Manchmal war es nur ein Spruch, ein Satz aus einer Aphorismen- Sammlung.
Du kannst unterhaltsam, frivol, leicht, schwer, spannend sein, in Dir begegne ich mir selbst und verwandele mich. Dank Dir bin ich immer in Bewegung.
Du hast mein Wissen erweitert, meine Träume leben lassen, auf Reisen in weite Länder mitgenommen, Böses vom Guten zu unterscheiden gelehrt. Ich habe dank Dir atemberaubende Abenteuer gewagt.
Dafür danke ich Dir von Herzen!

Bis zum nächsten Mal, liebe Grüße,
Deine treue Freundin

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Ich mache weiter

Von Marcus Nickel

Als ich mit der Schriftstellerei begann, wollte ich Prosaist werden, knackige Kurzgeschichten und irgendwann mal wuchtige Romane schreiben. Es dauerte aber nur wenige Monate bis ich merkte, dass mir die erzählende Literatur nicht lag. Mir fehlte die Geduld, um Details auszuarbeiten. Ich zweifelte auch, ob ich überhaupt ein Talent für Literatur und Kunst hatte. Trotz aller Zweifel, die ich bis heute habe, machte ich weiter. Mein Interesse war ungebrochen und ich hatte durchaus Spaß daran, an Ideenskizzen zu arbeiten. Der Schwerpunkt verlagerte sich allerdings in Richtung Lyrik. Und von da an wurde aus dem lediglich vorhandenen Spaß mit der Zeit eine große Leidenschaft.
Mit den Jahren fand ich den für mich richtigen Weg hinaus aus Düsternis und Melancholie hinein in den Humor und die Heiterkeit, ohne jedoch den Ernst zu verlieren. Hin und wieder geht es bei mir durchaus finster zu, aber fast immer mit einem Minimumhauch an schwarzem Humor, zumindest mit genug Gewitztheit, um etwas Farbe im Grau aufblitzen zu lassen.
Ich mache weiter, ich dichte weiter, obwohl mir schon mehr als einmal nahe gelegt wurde, das Schreiben ganz zu lassen. Es fehle an der künstlerischen Anstrengung, um meine Texte Literatur werden zu lassen oder meine Gedichte würden Lebensfremdheit erkennen lassen. Einmal sagte man mir, ich solle nicht mehr versuchen, etwas zu veröffentlichen, sondern veranlassen, dass erst nach meinem Tod meine Arbeiten publiziert würden. Ich hörte auf nichts von all dem und machte weiter, wie ich es für richtig hielt und halte. Trotz aller Zweifel, trotz gelegentlichen Fehlschlägen und einigen Fehltritten, mache ich weiter. Ich mache weiter.

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© 2022 Marcus Nickel
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1978

Von Peter Lexa

1978 – ein magisches Jahr für mich:
Dreißigster Geburtstag, Lösung aus meiner ersten Ehe, der Beginn der Beziehung zu meiner späteren zweiten Ehefrau, deren Kampf um den Krampf ihrer ersten Ehe und meine Beihilfe dazu als Liebhaber;
ein Jubiläum: „Zehn Jahre 1968“. Beginn des exzessiven Alkoholmissbrauchs verbunden mit dem Konsum anderer Drogen, schlussendlich:
Mein erster gelungener Kopfstand ohne abstützen bei aufziehendem Gewitter am Strand der Alten Donau in Wien.

So begann mein Tag-, besser gesagt, Nachtwerk als Lyriker in bester Tradition aller gescheiterten Existenzen: Sex, drugs and rock’n roll… und Schlaflosigkeit!

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© 2022 Peter Lexa
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