Von Rolf Jungklaus
So lange ich zurückblicken kann, war ich immer ein glühender Verfechter der Aufklärung. So hatte ich einmal ein Gespräch mit einer Arbeitskollegin, die ich als moderne Frau, der Welt gegenüber aufgeschlossen und überaus intelligent charakterisieren möchte. Immerhin arbeiteten wir damals gemeinsam in einem weltweit agierenden Konzern, der sowohl von der Belegschaft als auch vom Markt her mit unterschiedlichsten Kulturen zu tun hatte. Sie selbst, so musste ich dann feststellen, war eine gläubige Katholikin. Im Laufe dieses Gesprächs sagte ich, wie seltsam es doch sei, dass viele Heilige der Kirche als Schutzpatronen so ziemlich genau die Funktionen der ehemaligen griechisch/römischen Götter übernommen hätten. Diese Behauptung hat sie sehr erzürnt und sie widersprach heftig. Sie war ernsthaft der Meinung, man könne zu Heiligen in Form einer Fürbitte sprechen und diese würden dann das jeweilige Anliegen bei Gott höchstpersönlich vorbringen. Mir erscheint das als eine völlig absurde Vorstellung. Daher nenne ich mich selbst auch gern einen „protestantischen Atheisten“. Später stellte ich dann noch folgende These auf: Angenommen es gäbe einen Gott, dann gibt es ihn; und zwar egal, ob man an ihn glaubt oder eben nicht. Sie antwortete, dass sie diese Behauptung nicht verstehe und das Gespräch nun auch beenden möchte. Hätte ich ihr auch noch meine Lieblingsthese vorgetragen, wäre die Situation wohl vollends eskaliert. Diese lautet übrigens wie folgt: Wenn man einen Satz aus der Bibel umdreht, erklären sich dadurch alle Fragen zu allen Religionen der Welt. Der Satz lautet „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“ (1. Mose 1.27). Viel sinnvoller erscheint mir „Und der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.“ Deshalb haben verschiedene Kulturen verschiedene Religionen und deshalb ist auch unser Gott so widersprüchlich: barmherzig und rachsüchtig, liebevoll und furchtbar, vergebend und strafend usw. usf. – genau wie bei den Menschen.
Doch dann wurde meine tiefe Überzeugung bis ins Mark erschüttert. Ich mag so Mitte Zwanzig gewesen sein, da las ich eine Novelle (oder war es ein Märchen?) von E. T. A. Hoffmann. Ich kann nicht einmal mehr sagen, wie der Titel lautete, noch wie die Geschichte zu ende ging. Sie begann jedenfalls in etwa so:
In einem kleinen Königreich merkte der alte König, dass es nun bald mit seinem Leben zu ende ginge. Und so beschloss er, dass ihm sein Sohn auf den Thron nachfolgen sollte, sobald er gestorben war. Und so geschah es dann auch. Der alte König starb und und sein Sohn wurde der neue König. Nun war letzterer aber im Gegensatz zu seinem Vater ein großer Anhänger der Aufklärung. Daher verfügte der Infant, gleich nachdem er gekrönt war, dass die Elfen und Feen den Wald zu verlassen hätten. Er ließ dem entsprechende Flugblätter anfertigen und diese rings um den Wald anschlagen. Die Verordnung sollte ab dem kommenden Montag im gesamten Reich gelten und die Frist zum Verlassen des Waldes ende in der Nacht von Sonntag auf Montag um Punkt Mitternacht.
Diese Geschichte traf mich bis ins Mark, sie stürzte mich in einen riesigen Konflikt. Selbstverständlich sollte überall auf der Welt die Aufklärung herrschen. Aber dass die Elfen und Feen die Wälder verlassen sollten konnte ich nun überhaupt nicht verstehen. Das hieße ja, ich müsste mich entscheiden: Aufklärung oder Elfen und Feen. Was für ein Dilemma! Noch jahrelang hat mich dieses Problem immer wieder einmal beschäftigt, ohne dass ich es für mich lösen konnte.
In diesen ganzen folgenden Jahren bin ich zusammen mit meinem Freund Harald viel gereist. Auf diesen Reisen haben wir auch unzählige Bauten besucht, deren Erbauer und Nutzer noch keine Ahnung von Aufklärung hatten: Kultstätten der Kelten, Germanen und Wikinger, Tempel der Ägypter, Griechen und Römer sowie eine Unmenge an Synagogen, Kirchen und Moscheen. Doch unter all diesen Orten war nur einer, der uns beiden magisch, mystisch oder wie auch immer man das nennen mag, erschien: Delphi.
Schon wenn man sich bergauf dem Tempelbezirk nähert, auf dem Weg innehält und sich umschaut, erstreckt sich vor einem eine Landschaft, die so gar nicht natürlich wirkt, sondern wie die perfekte Inszenierung einer Landschaft. Es öffnet sich ein langgezogenes, sich horizontal erstreckendes Tal, dessen Dimensionen sogar ein Cinema-Scope-Format auf der großen Leinwand sprengen würde. Dahinter dehnt sich eine Gebirgsformation aus, die nach links hin ansteigt, während sie nachts rechts abfällt und letztlich den Blick auf das Mittelmeer freigibt. In der Ebene vor der Bucht wachsen Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Olivenbäumen und am Horizont erblickt man die Küste des Peloponnes. Als wir vor Ort waren, verkehrte noch eine Fähre hinüber nach Patras. Heute steht dort eine gewaltige Brücke, die der Schönheit des Blicks von Delphi aus wohl eher abträglich ist. Zurück nach Delphi. Im Zentrum des Tempelbezirks steht das wohl bedeutendste Heiligtum der griechischen Antike: der Apollon-Tempel, in dem sich das legendäre Orakel befand. Heute sieht man hier allerdings nur noch die Überreste des Tempels. Noch weiter oben, am Gipfel des Berges, befindet sich das Stadion. Hier fanden die heiligen Spiele statt, bevor sie nach Olympia umzogen. Wenn man nun von hier aus wieder hinunter geht, also mit Blick in diese atemberaubende Landschaft, im Tempelbezirk links abbiegt, erreicht man wie auf einem langgezogenen Plateau den wiederum mit kleinen Tempeln versehenen Trainingsplatz der antiken Athleten. Doch auf halbem Weg vom Tempelbezirk bis hier her gibt es einen kleinen Einschnitt in der Felswand. Hinter diesem „Eingang“ liegt ein kleines Tal, das heutzutage verwildert ist. Hier fanden die rituellen Waschungen der Athleten statt.
Auch Harald und ich waren in diesem kleinen Tal. Doch kaum dass wir „eingetreten“ waren, verlangsamte sich fast automatisch unser Schritt, bis wir schon nach wenigen Metern stehenblieben. Wo sind wir hier? Was ist denn das für ein seltsamer Ort? Wir schwiegen eine Weile. Dann sagte einer von uns leise so etwas wie „fühlst du das auch?“ Wir meinten, die Stimmung, Schwingungen, oder wie auch immer man das nennen möchte, mit Händen greifen zu können. Es war fast so, als wären wir ohne Erlaubnis in eine fremde Wohnung eingedrungen. Das klingt jetzt, als hätten wir dabei ein schlechtes Gewissen haben müssen; doch dem war nicht so. Es war uns nicht unangenehm. Vielmehr freuten wir uns, das wir als Gäste an etwas teilhaben durften, bei dem wir nicht dazu gehörten. Wir blieben recht regungslos nur wenige Minuten, weil wir ja auch nicht stören wollten. Dieses Gefühl, zumindest was mich angeht, das ich damals hatte, war in meinem Leben einzigartig. Nie zuvor und nie wieder danach habe ich so etwas erlebt.
Ein Erlebnis ganz anderer Art hatte ich einmal eines Abends, als ich müde aus dem Büro nach Hause kam. Da entschloss ich mich, noch ein wenig auf dem Bett zu ruhen, bevor es dann Abendessen gab. Ich hatte damals ein eigenes Zimmer, nur mit einem Bett in der Mitte, einen Schreibtisch am Fenster zum Innenhof und ein paar Regalen an der Wand. Die Wohnung selbst lag im dritten Stock im Vorderhaus. Mein Zimmer war eigentlich ein Durchgangszimmer mit einer Tür zum Flur und einer weiteren zu einem zweiten Flur, der hinter dem Bad gelegen zum Treppenhaus des Seitenflügels führte. Dieser Durchgang wurde von mir aber nicht als solcher genutzt, sondern diente mir lediglich als Stauraum.
Ich war wohl auf dem Bett ein wenig eingenickt. Als ich wieder zu mir kam, erblickte ich drei oder vier Personen, die völlig geräuschlos durch die geschlossene Tür vom Flur durch mein Zimmer schreitend im „Schein-Flur“ verschwanden. Unter ihnen waren ein oder zwei Frauen. So genau kann ich das heute nicht mehr sagen. Sie alle waren schwarz gekleidet. Die Männer trugen Zylinder und die Frau oder Frauen Hüte mir Schleiern. Biedermeier würde ich sagen. Niemand nahm Notiz von mir. Auch meine Einrichtungsgegenstände blieben von ihnen unbemerkt. Und nicht nur das. Durch die Ecke meines Bettes gingen sie einfach hindurch. Es war totenstill und das ganze dauerte keine 30 Sekunden. Auf mich wirkte es überaus gespenstisch, nicht aber bedrohlich. Es erschien völlig klar, dass diese Leute nichts von mir wollten, sondern einfach einem Ziel nachgingen, das mit mir nichts zu tun hatte.
Im Nachhinein betrachtet besteht natürlich die Möglichkeit, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch geschlafen und im Aufwachen noch weiter geträumt habe. Ich tendiere aber eher zu der Überzeugung, dass sich alles genauso wie eben beschrieben tatsächlich zugetragen hat.
Und dann gab es da noch ein drittes Ereignis in meinem Leben, das man sprichwörtlich „nicht von dieser Welt“ nennt. Harald und ich hatten unseren ersten Pauschal-Urlaub gemacht: Eine Trecking-Tour mit siebzehn Teilnehmern von einem Zeltlager zum nächsten, kreuz und quer über das Hochland von Island. Morgens wurde im jeweiligen Gemeinschaftszelt gefrühstückt. Nachdem sich jeder seine Lunch-Box zusammengestellt hatte, ging es auf Exkursionen in zwei Mini-Bussen und mit Wanderungen, und am Abend wurde dann – wieder im Gemeinschaftszelt – warm gegessen. Es war schon gegen Ende der Rundreise, als wir eines Mittags in the middle of nowhere Rast machten, um uns über die Lunch-Boxes herzumachen. Bevor es wieder losgehen sollte, machte die Reisegruppe, versprengt um ein sehr, sehr einsam stehendes Wohnhaus einen kleinen Verdauungsspaziergang. Auch Harald und ich streunten über die Wiesen, die sich bis an die weit entfernten Bergketten und die noch weit entfernteren Gletscherformationen hinzogen. Da hörten wir plötzlich in unserer unmittelbaren Umgebung, also nur wenige Schritte entfernt, ein Tuscheln. Wir guckten uns an. „Hörst du das auch?“ fragte einer den anderen. Ein leises „Hm“, gepaart mit einem Kopfnicken war die Antwort. Das gibt es doch gar nicht! Da flüstern zwei oder drei weibliche Stimmen in einer fremden Sprache miteinander. Dass es sich bei der Sprache um Isländisch handeln könnte, erschien uns nicht unwahrscheinlich. Elfen. Da gab es keinen Zweifel. Das müssen Elfen sein!
Auch hier gibt es ein im Nachhinein. Harald fragte mich einmal, ob ich es nicht auch für möglich hielte, das wir auf einer Insel, die direkt auf der Grenze der europäischen und der amerikanischen Kontinentalplatte liegt und auf der es ständig irgendwo blubbert und zischt eben genau das gehört haben anstelle von sich unterhaltenden Elfen. Na klar, möglich ist das schon. Aber wo sonst auf der Welt gibt bzw. gab es eine – wenn auch nicht offizielle – „Elfenbeauftragte“: Erla Stefánsdóttir
(* 06.12.1935, † 05.10.2015)
Fazit
Heute kann ich nun voller Überzeugung sagen: „Es lebe die Aufklärung! Doch ein wenig Zauber muss sein.“
Epilog
Ein Faible für Fantasy hatte ich schon immer. Ich war gerade einmal acht Jahre alt, als ich zum ersten Mal den Film „Nosferatu“ von Murnau im Fernsehen sah. Und ebenfalls im Kindesalter las ich Bram Stokers „Dracula“, und ich sah alle Godzilla-Filme, die im örtlichen Kino an Sonntag Nachmittagen liefen. Und selbstverständlich durfte ich Samstag Nachmittag keine Folge von „Raumschiff Enterprise“ verpassen. Dabei gibt es ja gerade hier eine Figur, die mir zur Lösung des Problems Aufklärung versus Mystik hätte behilflich sein können. Ausgerechnet der Charakter, dessen oberste Maxime die Logik ist, ist gleichzeitig die spirituellste Figur der Serie: Mr. Spock.
© 2021 Rolf Jungklaus
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