So könnte jeder Tag beginnen

Von Lena Kelm

Hinter dem Tresen, den Unmengen belegter Brötchen, Baguettes, Zuckerguss-Gebäck, dieser junge Mann. Was für ein Anblick! Schon bin ich abgelenkt von den unappetitlichen langweiligen Backwaren. Und erst sein Gesicht! Es gehört auf das Titelblatt eines Modemagazins. Große olivenschwarze Augen, die antike Nase, der sinnliche Mund, sein glänzendes volles Haar, mit Gel frisiert. Und sein bezauberndes Lächeln, strahlend, wenn er seine perlmuttweißen Zähne entblößt. Der Mann ist ein Schönling, sogar sein Lächeln wirkt natürlich.
„Sie wünschen, meine Dame?“
„Einen Latte Macchiato!“
„Mit Zimt oder Kakao?
„Zimt!“
„Gerne. Möchten Sie ihn hier trinken oder mitnehmen? Sofort, nehmen Sie bitte Platz!“
Ich bin entzückt und mache ihm ein Kompliment.
„Fabelhaft machen Sie das, schöner junger Mann!“
„Das habe ich mir von Ihnen abgeguckt.“, erwidert er galant.
Ist das orientalischer Charme?
„Ich bin Italiener“, sagt er stolz, „meine Mutter ist Libanesin, mein Vater Italiener“.
„Ein schöner junger Italiener also, wunderbar. Schön ist nicht schön, schöngetan ist schön.“, würde meine Mutter sagen.
Er strahlt und nickt.
„Bleiben Sie, wie Sie sind!“, beende ich unsere Unterhaltung.
Und trinke meinen Latte in bester Stimmung.
So könnte jeder Tag beginnen.

©2021 Lena Kelm
Alle Rechte vorbehalten

Zeitgemäß

Von Lena Kelm

 
Am Hermannplatz stieg eine ältere füllige Frau ein, unter dem Saum ihres langen schwarzen Mantels lugten abgetretene Sportschuhe hervor. Sportlich sah sie nicht aus, obwohl sie mit beiden Händen kräftig an der prallgefüllten Einkaufstasche auf Rädern zog. Zwischen ihrem Ohr und Kopftuch steckte, na was schon: ein Handy! Optimal, sie hat die Hände frei für den Einkauf und kann gleichzeitig telefonieren, sagte ich mir. Meine Bewunderung sollte sich in Verwunderung verwandeln.
Sie platzierte ihre Tasche neben mir und erwähnte einen Basar. Vielleicht kam sie vom Kottbusser Tor oder vom Markt am Maybach-Ufer? Zwei Männer stiegen in den Wagen, der eine ging durch zur Mitte, der andere blieb vor dem Eingang stehen. Fahrkartenkontrolle! Er kontrollierte drei, vier Fahrgäste, dann stand er vor der Frau, die in ihr Handy-Gespräch vertieft war. „Bir moment“, „einen Moment bitte“, hörte ich auf Türkisch. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was er von ihr erwartete. Sie drehte ihm den Rücken zu und begann in ihrer Einkaufstasche zu kramen. Scheinbar hatte sie Fahrkarte und Geldbörse tief unten verstaut. Sie bückte sich noch tiefer und redete ununterbrochen. Der Kontrolleur hatte nun, Verzeihung, den Hintern der Frau vor sich. Schön sah das nicht aus. Mir war das peinlich. Was für Manieren! Dabei redete die Frau unablässig ins Telefon, sprach aber kein Wort zum Kontrolleur. Ihm blieb weiter nichts übrig, als vor der Gebückten abzuwarten. Er tat es mit Engelsgeduld. Vielleicht hatte er diese Situation noch nicht erlebt?
Der Zug hielt. Als ich zur Tür ging, wies die Frau ihre Fahrkarte vor, während sie weiterredete. Vielleicht war es ein wichtiges Gespräch? Würde ich ein solches in der U-Bahn führen? Selten, nur kurz und dienstlich. Ich bevorzuge gemütliche Festnetz-Gespräche von der Couch aus. Da stört mich niemand und ich belästige keinen. Handy-Gespräche sind zeitgemäß, ich muss lernen damit zu leben. Ich finde es gut, wenn Menschen nicht mehr mit nichtssagendem Blick gelangweilt vor mir sitzen, selbst wenn sie ihre Augen verdrehen wie Verrückte bei einer lebhaften Unterhaltung.

©2021 Lena Kelm
Alle Rechte vorbehalten

Wenn dieser Blick töten könnte

Von Lena Kelm

 
Früher war die U7 samstagmorgens leer. Oh, Wunder, ich finde einen freien Sitz und der gegenüber ist auch frei! Welche Wohltat, die Beine ausstrecken zu können. Die Arthrose in den Knien macht mir zu schaffen, allein die Vorstellung fast eine Stunde lang die Beine nicht ausstrecken zu können, ruft Phantomschmerzen hervor. Oft stehe ich zu Gunsten eines schnellen Displaywischers einfach auf, mein Buch in der Tasche verstauend. Ich ahne, nach ein paar Stationen werde ich meine Beine wieder einziehen müssen.
Irrtum. Die U-Bahn hält. Schon steht neben mir eine Frau. Stumm. Ich schaue auf, blicke in ein unscheinbares, blasses Gesicht, schätze sie auf Mitte sechzig. Vorwurfsvoll schweigend starrt sie auf meine Beine. Wenn dieser Blick töten könnte! Ich ziehe schnell meine Beine heran. „Entschuldigung, bitte!“ Warum ich das jetzt sage, verstehe ich selbst nicht. Mehr Konversation als – „Darf ich vorbei?“ – „Aber selbstverständlich, bitte.“ – „Dankeschön! – erwartet niemand.
Diese Frau ist irgendwie sonderbar. Das kommt vor. Ich registriere mit einem Seitenblick, wie sie mich mit ihren grauen kalten Augen missbilligend mustert. Das ist etwas seltsam. Es gibt keinen freien Platz mehr zum Umsetzen. Die Frau holt aus ihrer teuer aussehenden Tasche eine kleine Bibel und beginnt zu lesen. Jetzt kann ich, wenn auch verstohlen, gebe ich zu, Blicke auf sie werfen.
Plötzlich sind ihre Gesichtszüge milder. Täusche ich mich? Wird die Frau menschlicher, wenn sie mit Gott spricht? Was ist echt an dieser Zufallsbekanntschaft? Vielleicht begegnen wir uns noch einmal in der U7. Man trifft sich immer zwei Mal im Leben.

©2021 Lena Kelm
Alle Rechte vorbehalten

Nimmersatt und trotzdem glücklich

Von Niklas Götz

Unter den abertausenden von rosa Zuckerguss pappig triefenden Poesiealben- und Postkartensprüchen, gibt es einen, den ich einfach nicht aus den Kopf kriege, der sich festgeklebt hat.
“There’s nothing in a caterpillar that tells you it’s going to be a butterfly”
Abgesehen davon, dass sich jeder Biologe bei diesem Statement nur kopfschüttelnd auf die Zunge beißen kann, frage ich mich: muss die Raupe denn zu einem Schmetterling werden? Ist es nicht genug, Raupe zu sein? Sind zwei bunte Flügel und eine lange Zunge alles, wofür es wert ist zu leben?
Eine Raupe lag mir immer besonders am Herzen. Die kleine Raupe Nimmersatt war mein Lieblingsbilderbuch. Eigentlich ist es das immer noch. Wie in jedem meiner Lieblingsfilme und Bücher ignoriere ich konsequent das Ende – Star Wars gefiel mir zum Beispiel als Kind am besten, solange ich noch die Hoffnung hatte, dass das Imperium und sein konsequentes , postmodernes Design gewinnen. Heutzutage wäre ich enttäuscht dass Todessterne anscheinend von Berliner Flughafenarchitekten gebaut werden.
Ohne das Ende ist die Story der Raupe Nimmersatt einfach toll: eine kulinarisch flexible Raupe genießt ihr Leben und isst sich durch alles, was die moderne Lebensmittelindustrie zu bieten hat, bis sie am Ende der Woche von zu viel Zucker und Geschmacksverstärker high wird. Klingt nach Weihnachtsferien.
Mit dem eigentlichen Ende offenbaren sich ganz neue Deutungsmöglichkeiten: Eine vereinsamte Raupe substituiert soziale Beziehungen mit Essen, bis sie sich für einen mehrwöchige Sonnenfastenaushungerungskur in einem Kokon aus getrockneten Körpersekreten entscheidet, um dann am Ende als exzentrisch geschminketes Magermodel aus dem Lockdown zu entfliehen und sich nur noch von einem Tropfen Nektar pro Tag zu ernähren.
Ich kann mich viel besser mit der ersten Version identifizieren. Ich ess mich lieber quer durch die Küche als ein Schmetterling zu sein, zumal Flügel auch echt unpraktisch sind um auf dem Sofa herumzulungern.
Ich stelle mir die kleine Raupe Nimmersatt sehr glücklich vor, zumindest vor der Verpuppung. Sie war nie mit Problemen außerhalb der Speisekammer konfrontiert. Die Raupe Nimmersatt musste nie zur Schule, zum Studium, zur Ausbildung gehen. Niemand hat von ihr erwartet ein Bücherwurm zu sein, sich durch tausende Seiten veralteten Wissens zu fressen um dann nach der Prüfungsphasenverpuppung wieder neu aufzuerstehen. Niemand hat von ihr erwartet, ein ganz neues Insekt zu werden, weil die Corporate Identity nunmal von Schmetterlingen geprägt ist und es der Kunde erwarte dass alle Mitarbeiter Flügel haben und emsig von Blüte zu Blüte fliegen und dabei auch noch verdammt gut aussehen, anstatt sich über Blätter herzumachen. Niemand hat von ihr erwartet, jeden noch so nervigen Mitarbeiter oder Vorgesetzten mit bezirzenden Flügelschlägen zu beruhigen und so zu tun, als würde man sie nicht am liebsten bespucken.
Die kleine Raupe Nimmersatt musste nicht arbeiten. Ihre Träume lagen direkt vor ihr, sie musste sich nur durch die Schale des Apfels fressen. Sie konnte bleiben wie sie ist. Warum hätte sie sich je verändern wollen?
Vielleicht war die kleine Raupe Nimmersatt einsam. Vielleicht war auch das der Grund warum sie von Tag zu Tag die Gesellschaft von einer immer größeren Anzahl an Früchten suchte. Was sonst verändert uns so sehr als der Wunsch, anderen zu gefallen? Manchmal wollen wir uns verwandeln, um wie all die anderen Raupen zu sein, essen Würste statt Äpfel weil die “coolste” Raupe im Garten das für besonders angesagt hält. Manchmal wollen wir aber auch nur einer bestimmten Person gefallen, oder sie glücklich machen, selbst wenn sie uns gar nicht anders wünscht. Vielleicht war die kleine Raupe Nimmersatt mit dem nichtganzsokleinen Schmetterling Nimmerruh zusammen und wusste, dass er nur glücklich sein kann, wenn er fliegt. Und deshalb wollte sie mit ihm fliegen und ihr liebstes und einziges Hobby dafür aufgeben.
Vielleicht mag ich das Buch dann doch mehr mit dem Ende. Vielleicht wollte sich die Raupe verpuppen, nicht weil es von ihr erwartet wird, sondern um jemanden glücklich zu machen, ohne dessen Glück der beste Lolly für sie fade schmecken würde.
Die kleine Raupe Nimmersatt hat neben einer Raumzeitsingularität als Magen eine weitere Superpower, die mir fehlt: sie kann sich verpuppen, wenn sie es möchte.
Aber vielleicht liege ich auch falsch und sie hatte keine Wahl. Genauso wie ich keine Wahl habe, mich zu verändern. Ich habe so viele Äpfel gegessen und mich doch nie verpuppt. Ich weiß, dass es jemanden sehr glücklich machen würde, wenn ich anders wäre, öfter mit bunten Flügeln schlagen könnte und zur richtigen Zeit Nektar bei mir hätte. Doch so oft ich mich am Blatt habe herunterhängen lassen, so wenig hat es mir je Flügel beschert. So gerne wäre ich ein Schmetterling, um mitzufliegen. Doch vielleicht bin ich keine Raupe Nimmersatt, sondern nur ein sehr hungriger Wurm.

© 2021 Niklas Götz
Alle Rechte vorbehalten

KNÜPFBÄNDER

Von Eva Radon

Es begann auf Lesbos.
Damals war Lesbos „nur“ eine griechische Insel,
wo vor allem viele Frauen Urlaub machten oder aussteigend länger blieben.

Auch wir, 3 Erwachsene mit ihren 3 Kindern, sehnten uns nach dieser wunderbaren Insel und fuhren hin.

Heute ist Lesbos eine Insel, wo tausende Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Zuständen hausen.(wenn man das noch so nennen kann)
Die Bilder, der dort Lebenden – Männer, Frauen, Jugendliche, Kinder – ihre Ängste, Nöte, Hoffnungslosigkeit sind unvorstellbar – erreichen manchmal unser Nachrichtensystem.
Jetzt werden dort neue Lager, „Gefängnis -Lager“ errichtet.
Aber wo liegt die Perspektive?
Menschen auf der Suche nach einer würdigen Bleibe, nach einem ZUHAUSE in Europa.
Wohin?
Keiner will sie…

Damals (1984 ) auf Lesbos war die Welt noch in Ordnung, zumindest, was wir (dort) sahen und sehen wollten.
Unsere Kinder erfeuten sich am Sandspielen, am Meer, an der Sonne, aneinander und am Eis, dessen Eistafel sie lange studierten.

Meine Freundin und ich begannen
(woher der Einfall kam, weiß ich nicht mehr) Armbänder zu knüpfen. Es gab Bänder in vielen Farben. Ich lernte manche Farben auf griechisch: mavros, aspro, ble, kokkino, kitrino, kafe, gri, portokali.

Wir kauften viel bunte Bänder in alten Geschäften, die es heute sicher nicht mehr gibt, weil die alten Besitzer verstorben sind.
..und knüpften und knüpften voller Freude.
5,6 verschieden färbige Bänder wurden am Ende verknotet,
mit einer Sicherheitsnadel angespickt auf Hosenbein oder Leibchen.

Auch die Kinder fanden Gefallen am Knüpfen und machten es geschickt.

Bald hatte jede, jeder von uns ein Freundschaftsband, ein buntes Band ums Handgelenk.

Denke ich heute an Lesbos, dann überfluten mich Traurigkeit und Verzweiflung.
Wo ist die Menschlichkeit ??????

Ich habe noch viele Bänder zu Hause, von damals.
In meiner Phantasie knüpfe ich sie,
viele Bänder der Hoffnung.

© 2021 Eva Radon
Alle Rechte vorbehalten

ELTERNGESCHICHTE (Autobiographisches im Zeitraffer)

Von Anna B.

Der Tod rast mir wie ein Zug mit 280 km/h entgegen. Im Zug sitzt meine Mutter, sie will mich zu sich holen. Ich will aber noch nicht. Meine Mutter wurde vor 110 Jahren geboren, vor 70 Jahren hat sie mich zur Welt gebracht, vor 30 Jahren ist sie gestorben. Warum denke ich so oft an sie? Wir liebten einander nicht heiß.
Unehelich in Berlin geboren; ob Produkt eines Liebesaktes oder einer Vergewaltigung blieb ein Geheimnis meiner Oma, der Vater wurde verschwiegen.
Klein Elfi hatte einen Herzfehler, spielte wenig, turnte nie, anstatt dessen las sie viel, liebte die Klassiker und Morgenstern, lernte Gedichte auswendig. Das Lyzeum beendete sie aber nicht, sie wurde Postfräulein. Der Bruder einer Freundin beeindruckte sie sehr. Alfred war ein Linker, studierte Marx und Engels, wollte sich den Sozialisten oder Kommunisten anschließen. Die revolutionären Ideen zur radikalen Umwälzung der Weltordnung faszinierten Elfi. Da tauchte ein Student aus Wien auf, Elfi und Karl wurden ein Liebespaar. Elfis Leben wird sich von nun an um diesen Menschen drehen. Nach Hitlers Machtergreifung arbeiten beide in der Illegalität gegen die Nazis. Sie waren sicher, der Horror würde nicht lange dauern und die Weltrevolution wird siegen. Karl war 1934 nach Wien gefahren und verteilte Flugblätter auf der Floridsdorfer Brücke, er wurde verhaftet, kam durch den Einfluss seines Vaters wieder frei und reiste nach Berlin zurück. Sein Cousin sagte später zu mir: „Dein Vater war ein unverbesserlicher idealistischer Träumer. Fast wäre er erschossen worden, er hatte aber Glück.“ Fast wäre ich also niemals gezeugt worden.
Mein Vater hatte sein Jura-Studium in Berlin abgeschlossen, sollte Anwalt werden, jedoch wurde gegen ihn als Halbjuden Berufsverbot verhängt. Er ging zurück nach Wien, Elfi folgte ihm bald.
Mein Großvater hatte in Wien einen Ariernachweis erkauft und galt als Halbjude und war durch die Ehe mit einer Arierin geschützt. Mein Vater wurde damit für die Nazis zum Vierteljuden. 1939 wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Er schrieb seiner Mutter aus Frankreich nach Wien: „Mein liebes Mütterlein, ich bin sicher bald wieder zu Hause.“ Sie sah ihn nie wieder, sie starb 1946; damals galt mein Vater als vermisst. Er war in Russland gefangen genommen worden oder desertiert. Jedenfalls gab es Jahre lang keine Nachricht. Später schrieb er: „Ich fiel dem Feind freudig in die Hände“. Karl und Elfi hatten sich via Fernhochzeit zu Weihnachten 1940 vermählt. Während des Krieges war Elfi nicht politisch aktiv, dem Kommunismus aber innerlich treu. Als ihr Mann als vermisst gemeldet wurde, begann sie ein Tagebuch zu führen mit imaginären Briefen an Karl. Darin steht nichts interessantes, lauter Belanglosigkeiten über den schwierigen Kriegsalltag in Wien. Als der Krieg zu Ende ging, Karl noch immer kein Zeichen von sich gab, traf sie einen sehr sensiblen Mann, einen Dichter, der sie zärtlich tröstete. 1947 kam Karl in einem Güterzug in Frankfurt a.d. Oder an, bewegungslos durch Kinderlähmung, verdreckt und halb verhungert. Meine Oma aus Berlin wurde verständigt und sie organisierte alles Notwendige. Karl wurde nach Wien gebracht und unter ärztlicher Betreuung so weit wie möglich aufgepäppelt. Elfi entwickelte sich zu seiner Krankenschwester. Ihre Dichteraffaire gab sie sofort auf. Mein Vater konnte nicht selbständig essen, aber sein Geschlechtsorgan war in Takt. Ich wurde nach drei Jahren Pflege gezeugt. Ein Jahr später starb mein Großvater, einige Monate danach bekam ich einen Bruder. Meine Eltern waren inzwischen auf das Gut meines Großvaters gezogen. Wir lebten in einem Schloss in Kärnten. Meine Mutter wurde sozusagen Schlossherrin, organisierte alles, führte die Bücher, verhandelte mit Pächtern und Mietern. Ohne diese Einnahmen hätte das Gut nicht gehalten werden können. Sie war aber auch Sekretärin meines Vaters. Er diktierte ihr täglich Texte für verschiedene Publikationen der Kommunistischen Partei. Genossen aus Wien kamen manchmal auf Besuch. Dieses schizophrene Leben, Gutsherr und Kommunist war meinem Vater unangenehm, aber durch seine Lähmung konnte er keinem normalen Beruf nachgehen, die Arbeit für die KPÖ brachte höchstens ein Taschengeld. Meiner Mutter gefiel das Leben im Schloss mit Blick auf die Berge. Schließlich musste aber doch alles verkauft werden. Meine Eltern borgten einem Cousin meines Vaters die Hälfte des Vermögens, damit er eine kleine Strickfabrik aufbauen kann. Das ging total schief. Der Cousin verdiente keinen Groschen mit der Strickware und konnte keinen Groschen zurückzahlen. Meinem Vater war das nicht so wichtig. Er wollte nur ein angenehmes Heim und genug Geld, um seine Familie zu ernähren und seinen Kindern eine gute Bildung bieten. Das nächste Heim war eine Villa mit Garten in der Nähe von Wien. Es kamen jetzt öfter Genossen auf Besuch, mein Vater arbeitete fleißig weiter an Publikationen der KPÖ. Das Geld ging zu Ende und ein weiterer Umzug wurde notwendig. Die Familie landete in einem Provinzort mit Schulen für die Kinder. Ein bescheidenes Häuschen mit Garten diente als Unterkunft. Meinen Vater quälten die Sorgen um den Kommunismus und seine finanzielle Lage, meine Mutter wurde nervös und kränkelnd. Nach einem Jahr erlag mein Vater einem Herzinfarkt. Meine Mutter wurde zur gebrochenen Frau, kraftlos, lebensmüde, verbittert. Sie vegetierte zunächst dahin, nach einiger Zeit begann sie in der nächsten Stadt bei der „Österreichisch-Sowjetischen Gesellschaft“ zu arbeiten, lebte zurückgezogen mit Büchern, Patiencen-Legen und Fernsehen. Manchmal ging sie spazieren. Von der tröstenden Schokolade wurde sie dick. Nach einigen Jahren kontaktierte sie eine Anwältin, eine alte Genossin, die ihr half eine Wiedergutmachung für das Berufsverbot meines Vaters zu erhalten. Elfi bekam eine anständige Witwenpension aus Deutschland, wir Kinder eine Halbwaisenrente. Wir blieben in dem Kaff bis zu meiner Matura. Dann mietete meine Mutter endlich eine Wohnung in Wien und verkaufte das Häuschen um ein Spottgeld. Der Kommunismus war nur mehr ein Schatten in ihrem Hirn. Nach dem Einmarsch der Sowjets in die CSSR 1968 zahlte sie keinen Mitgliedsbeitrag mehr an die KPÖ. Auch in Wien lebte sie ziemlich abgeschieden und verkroch sich in ihre Bücher. Elfi wurde noch dicker und bekam Diabetes. Ihre Gedankenwelt war wieder bei den Klassikern und bei Morgenstern. Als die DDR 1989 zusammen gebrochen war, weinte sie voller Selbstmitleid. Sie war eine alte ganz normale einsame Bürgerin geworden, deren Illusionen und Träume zerplatzt waren. Ein Jahr nach der Wende verließ sie diese Welt für immer.

Februar 2021

© 2021 Anna B.
Alle Rechte vorbehalten

Es lebe die Aufklärung!

Von Rolf Jungklaus

So lange ich zurückblicken kann, war ich immer ein glühender Verfechter der Aufklärung. So hatte ich einmal ein Gespräch mit einer Arbeitskollegin, die ich als moderne Frau, der Welt gegenüber aufgeschlossen und überaus intelligent charakterisieren möchte. Immerhin arbeiteten wir damals gemeinsam in einem weltweit agierenden Konzern, der sowohl von der Belegschaft als auch vom Markt her mit unterschiedlichsten Kulturen zu tun hatte. Sie selbst, so musste ich dann feststellen, war eine gläubige Katholikin. Im Laufe dieses Gesprächs sagte ich, wie seltsam es doch sei, dass viele Heilige der Kirche als Schutzpatronen so ziemlich genau die Funktionen der ehemaligen griechisch/römischen Götter übernommen hätten. Diese Behauptung hat sie sehr erzürnt und sie widersprach heftig. Sie war ernsthaft der Meinung, man könne zu Heiligen in Form einer Fürbitte sprechen und diese würden dann das jeweilige Anliegen bei Gott höchstpersönlich vorbringen. Mir erscheint das als eine völlig absurde Vorstellung. Daher nenne ich mich selbst auch gern einen „protestantischen Atheisten“. Später stellte ich dann noch folgende These auf: Angenommen es gäbe einen Gott, dann gibt es ihn; und zwar egal, ob man an ihn glaubt oder eben nicht. Sie antwortete, dass sie diese Behauptung nicht verstehe und das Gespräch nun auch beenden möchte. Hätte ich ihr auch noch meine Lieblingsthese vorgetragen, wäre die Situation wohl vollends eskaliert. Diese lautet übrigens wie folgt: Wenn man einen Satz aus der Bibel umdreht, erklären sich dadurch alle Fragen zu allen Religionen der Welt. Der Satz lautet „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“ (1. Mose 1.27). Viel sinnvoller erscheint mir „Und der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.“ Deshalb haben verschiedene Kulturen verschiedene Religionen und deshalb ist auch unser Gott so widersprüchlich: barmherzig und rachsüchtig, liebevoll und furchtbar, vergebend und strafend usw. usf. – genau wie bei den Menschen.
Doch dann wurde meine tiefe Überzeugung bis ins Mark erschüttert. Ich mag so Mitte Zwanzig gewesen sein, da las ich eine Novelle (oder war es ein Märchen?) von E. T. A. Hoffmann. Ich kann nicht einmal mehr sagen, wie der Titel lautete, noch wie die Geschichte zu ende ging. Sie begann jedenfalls in etwa so:
In einem kleinen Königreich merkte der alte König, dass es nun bald mit seinem Leben zu ende ginge. Und so beschloss er, dass ihm sein Sohn auf den Thron nachfolgen sollte, sobald er gestorben war. Und so geschah es dann auch. Der alte König starb und und sein Sohn wurde der neue König. Nun war letzterer aber im Gegensatz zu seinem Vater ein großer Anhänger der Aufklärung. Daher verfügte der Infant, gleich nachdem er gekrönt war, dass die Elfen und Feen den Wald zu verlassen hätten. Er ließ dem entsprechende Flugblätter anfertigen und diese rings um den Wald anschlagen. Die Verordnung sollte ab dem kommenden Montag im gesamten Reich gelten und die Frist zum Verlassen des Waldes ende in der Nacht von Sonntag auf Montag um Punkt Mitternacht.
Diese Geschichte traf mich bis ins Mark, sie stürzte mich in einen riesigen Konflikt. Selbstverständlich sollte überall auf der Welt die Aufklärung herrschen. Aber dass die Elfen und Feen die Wälder verlassen sollten konnte ich nun überhaupt nicht verstehen. Das hieße ja, ich müsste mich entscheiden: Aufklärung oder Elfen und Feen. Was für ein Dilemma! Noch jahrelang hat mich dieses Problem immer wieder einmal beschäftigt, ohne dass ich es für mich lösen konnte.
In diesen ganzen folgenden Jahren bin ich zusammen mit meinem Freund Harald viel gereist. Auf diesen Reisen haben wir auch unzählige Bauten besucht, deren Erbauer und Nutzer noch keine Ahnung von Aufklärung hatten: Kultstätten der Kelten, Germanen und Wikinger, Tempel der Ägypter, Griechen und Römer sowie eine Unmenge an Synagogen, Kirchen und Moscheen. Doch unter all diesen Orten war nur einer, der uns beiden magisch, mystisch oder wie auch immer man das nennen mag, erschien: Delphi.
Schon wenn man sich bergauf dem Tempelbezirk nähert, auf dem Weg innehält und sich umschaut, erstreckt sich vor einem eine Landschaft, die so gar nicht natürlich wirkt, sondern wie die perfekte Inszenierung einer Landschaft. Es öffnet sich ein langgezogenes, sich horizontal erstreckendes Tal, dessen Dimensionen sogar ein Cinema-Scope-Format auf der großen Leinwand sprengen würde. Dahinter dehnt sich eine Gebirgsformation aus, die nach links hin ansteigt, während sie nachts rechts abfällt und letztlich den Blick auf das Mittelmeer freigibt. In der Ebene vor der Bucht wachsen Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Olivenbäumen und am Horizont erblickt man die Küste des Peloponnes. Als wir vor Ort waren, verkehrte noch eine Fähre hinüber nach Patras. Heute steht dort eine gewaltige Brücke, die der Schönheit des Blicks von Delphi aus wohl eher abträglich ist. Zurück nach Delphi. Im Zentrum des Tempelbezirks steht das wohl bedeutendste Heiligtum der griechischen Antike: der Apollon-Tempel, in dem sich das legendäre Orakel befand. Heute sieht man hier allerdings nur noch die Überreste des Tempels. Noch weiter oben, am Gipfel des Berges, befindet sich das Stadion. Hier fanden die heiligen Spiele statt, bevor sie nach Olympia umzogen. Wenn man nun von hier aus wieder hinunter geht, also mit Blick in diese atemberaubende Landschaft, im Tempelbezirk links abbiegt, erreicht man wie auf einem langgezogenen Plateau den wiederum mit kleinen Tempeln versehenen Trainingsplatz der antiken Athleten. Doch auf halbem Weg vom Tempelbezirk bis hier her gibt es einen kleinen Einschnitt in der Felswand. Hinter diesem „Eingang“ liegt ein kleines Tal, das heutzutage verwildert ist. Hier fanden die rituellen Waschungen der Athleten statt.
Auch Harald und ich waren in diesem kleinen Tal. Doch kaum dass wir „eingetreten“ waren, verlangsamte sich fast automatisch unser Schritt, bis wir schon nach wenigen Metern stehenblieben. Wo sind wir hier? Was ist denn das für ein seltsamer Ort? Wir schwiegen eine Weile. Dann sagte einer von uns leise so etwas wie „fühlst du das auch?“ Wir meinten, die Stimmung, Schwingungen, oder wie auch immer man das nennen möchte, mit Händen greifen zu können. Es war fast so, als wären wir ohne Erlaubnis in eine fremde Wohnung eingedrungen. Das klingt jetzt, als hätten wir dabei ein schlechtes Gewissen haben müssen; doch dem war nicht so. Es war uns nicht unangenehm. Vielmehr freuten wir uns, das wir als Gäste an etwas teilhaben durften, bei dem wir nicht dazu gehörten. Wir blieben recht regungslos nur wenige Minuten, weil wir ja auch nicht stören wollten. Dieses Gefühl, zumindest was mich angeht, das ich damals hatte, war in meinem Leben einzigartig. Nie zuvor und nie wieder danach habe ich so etwas erlebt.
Ein Erlebnis ganz anderer Art hatte ich einmal eines Abends, als ich müde aus dem Büro nach Hause kam. Da entschloss ich mich, noch ein wenig auf dem Bett zu ruhen, bevor es dann Abendessen gab. Ich hatte damals ein eigenes Zimmer, nur mit einem Bett in der Mitte, einen Schreibtisch am Fenster zum Innenhof und ein paar Regalen an der Wand. Die Wohnung selbst lag im dritten Stock im Vorderhaus. Mein Zimmer war eigentlich ein Durchgangszimmer mit einer Tür zum Flur und einer weiteren zu einem zweiten Flur, der hinter dem Bad gelegen zum Treppenhaus des Seitenflügels führte. Dieser Durchgang wurde von mir aber nicht als solcher genutzt, sondern diente mir lediglich als Stauraum.
Ich war wohl auf dem Bett ein wenig eingenickt. Als ich wieder zu mir kam, erblickte ich drei oder vier Personen, die völlig geräuschlos durch die geschlossene Tür vom Flur durch mein Zimmer schreitend im „Schein-Flur“ verschwanden. Unter ihnen waren ein oder zwei Frauen. So genau kann ich das heute nicht mehr sagen. Sie alle waren schwarz gekleidet. Die Männer trugen Zylinder und die Frau oder Frauen Hüte mir Schleiern. Biedermeier würde ich sagen. Niemand nahm Notiz von mir. Auch meine Einrichtungsgegenstände blieben von ihnen unbemerkt. Und nicht nur das. Durch die Ecke meines Bettes gingen sie einfach hindurch. Es war totenstill und das ganze dauerte keine 30 Sekunden. Auf mich wirkte es überaus gespenstisch, nicht aber bedrohlich. Es erschien völlig klar, dass diese Leute nichts von mir wollten, sondern einfach einem Ziel nachgingen, das mit mir nichts zu tun hatte.
Im Nachhinein betrachtet besteht natürlich die Möglichkeit, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch geschlafen und im Aufwachen noch weiter geträumt habe. Ich tendiere aber eher zu der Überzeugung, dass sich alles genauso wie eben beschrieben tatsächlich zugetragen hat.
Und dann gab es da noch ein drittes Ereignis in meinem Leben, das man sprichwörtlich „nicht von dieser Welt“ nennt. Harald und ich hatten unseren ersten Pauschal-Urlaub gemacht: Eine Trecking-Tour mit siebzehn Teilnehmern von einem Zeltlager zum nächsten, kreuz und quer über das Hochland von Island. Morgens wurde im jeweiligen Gemeinschaftszelt gefrühstückt. Nachdem sich jeder seine Lunch-Box zusammengestellt hatte, ging es auf Exkursionen in zwei Mini-Bussen und mit Wanderungen, und am Abend wurde dann – wieder im Gemeinschaftszelt – warm gegessen. Es war schon gegen Ende der Rundreise, als wir eines Mittags in the middle of nowhere Rast machten, um uns über die Lunch-Boxes herzumachen. Bevor es wieder losgehen sollte, machte die Reisegruppe, versprengt um ein sehr, sehr einsam stehendes Wohnhaus einen kleinen Verdauungsspaziergang. Auch Harald und ich streunten über die Wiesen, die sich bis an die weit entfernten Bergketten und die noch weit entfernteren Gletscherformationen hinzogen. Da hörten wir plötzlich in unserer unmittelbaren Umgebung, also nur wenige Schritte entfernt, ein Tuscheln. Wir guckten uns an. „Hörst du das auch?“ fragte einer den anderen. Ein leises „Hm“, gepaart mit einem Kopfnicken war die Antwort. Das gibt es doch gar nicht! Da flüstern zwei oder drei weibliche Stimmen in einer fremden Sprache miteinander. Dass es sich bei der Sprache um Isländisch handeln könnte, erschien uns nicht unwahrscheinlich. Elfen. Da gab es keinen Zweifel. Das müssen Elfen sein!
Auch hier gibt es ein im Nachhinein. Harald fragte mich einmal, ob ich es nicht auch für möglich hielte, das wir auf einer Insel, die direkt auf der Grenze der europäischen und der amerikanischen Kontinentalplatte liegt und auf der es ständig irgendwo blubbert und zischt eben genau das gehört haben anstelle von sich unterhaltenden Elfen. Na klar, möglich ist das schon. Aber wo sonst auf der Welt gibt bzw. gab es eine – wenn auch nicht offizielle – „Elfenbeauftragte“: Erla Stefánsdóttir
(* 06.12.1935, † 05.10.2015)

Fazit
Heute kann ich nun voller Überzeugung sagen: „Es lebe die Aufklärung! Doch ein wenig Zauber muss sein.“

Epilog
Ein Faible für Fantasy hatte ich schon immer. Ich war gerade einmal acht Jahre alt, als ich zum ersten Mal den Film „Nosferatu“ von Murnau im Fernsehen sah. Und ebenfalls im Kindesalter las ich Bram Stokers „Dracula“, und ich sah alle Godzilla-Filme, die im örtlichen Kino an Sonntag Nachmittagen liefen. Und selbstverständlich durfte ich Samstag Nachmittag keine Folge von „Raumschiff Enterprise“ verpassen. Dabei gibt es ja gerade hier eine Figur, die mir zur Lösung des Problems Aufklärung versus Mystik hätte behilflich sein können. Ausgerechnet der Charakter, dessen oberste Maxime die Logik ist, ist gleichzeitig die spirituellste Figur der Serie: Mr. Spock.

© 2021 Rolf Jungklaus
Alle Rechte vorbehalten