Mitternachtsreste

Von Monika Jarju

Die Spätvorstellung nähert sich dem Ende, gleich öffnen sich die Türen, das Publikum strömt heraus, während das Personal mit dem Gartenschlauch das Foyer abspritzt, denke ich schleppend. Ich sinne über das Wasser nach, es rinnt über die Fliesen und hinterlässt dunkle Schlieren. Ich hänge seit geraumer Zeit müde an der Kasse herum und gähne. 23 Uhr, ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Die Arbeit ist notwendig, sage ich mir, sie ist lästig wie der Alltag, eine Schufterei. Ich wende den Blick nicht von dem silbrigen Wasserstrahl ab. Und als ich wieder aufsehe, steht vor mir ein einzelner nächtlicher Kinogänger. Sieben Eintrittskarten verlangt er für die Mitternachtsvorstellung. Wie viel sind 7 x 3,50? Ich tippe eine ungefähre Zahl in den Taschenrechner. – Morgens, gerade wachgeworden – das Kino ist verschwunden – freue ich mich über das Aufwachen und den Kaffee. Das war ein sehr arbeitsreicher Traum gewesen, in dem ich fast eingeschlafen wäre.

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© 2023 Monika Jarju
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Metamorphose

Von Monika Jarju

Ich entsann mich im Traum, dass man bei diesem Spiel ein kleines Tier oder eine Frucht auswählte. Während mein Freund eine Ameise erkor, entschied ich mich für eine Blaubeere. Mit Spannung verfolgten wir den unaufhörlichen Prozess des Fressens und Gefressenwerdens. Ich bedauerte, mich nicht für etwas Größeres entschieden zu haben, etwa einen Granatapfel, der nicht so leicht verschlungen werden konnte. Vor unseren Augen verwandelten sich Ameise und Blaubeere in einen Vogel und dann in einen Holunderbaum, in ein Schneeglöckchen, eine Mistgabel und einen Teelöffel, der Teelöffel in eine Rohrdommel, in eine Seifendose, in ein Ei und in eine Serviette, in einen einzelnen Schnürsenkel sogar. Nichts hatte Bestand, auf jeder Form lag schon der Schatten der Zerstörung. Verwundert bemerkte ich, wie die Verwandlungen immer schneller abliefen. Auf einmal mir fielen die Augen zu und ich schlief ein – und träumte, dass ich mich verwandelte in einen weißen Hahn, gleich würde ich zu krähen beginnen und meinen Weckruf herausschmettern.

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© 2023 Monika Jarju
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Und dann ist da noch ein Plüschtier

Von Monika Jarju

Eine Woche lang lungere ich auf der Straße herum und lauere dem DHL-Lieferfahrzeug auf. Erbost verlange ich die Herausgabe meines Paketes, das der Fahrer die ganze Zeit durch die Stadt spazieren fährt. Mit dem Paket unterm Arm gehe ich schnurstracks zu meinem Freund und rufe: „Überraschung!“ Mit sicherer Geste öffnet er das Paket und packt mein Geschenk – ein Aquarell – aus. Er betrachtet das Bild eingehend, dreht es und sieht mich erstaunt an. „Wasser“, sagt er, „viel Wasser. Du solltest schwimmen lernen!“ Nach einer Weile fragt er: „Hast du dir das eigentlich gewünscht?“ – „Ja“, antworte ich beschämt, denn als ich ihm vor Monaten das Paket schickte, kannten wir uns noch nicht. Rot vor Scham zerreiße ich die Karte, einen Zwanzig-Euro-Schein, und dann ist da noch ein Plüschtier. Ich sitze in der Falle, so oder so.

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© 2023 Monika Jarju
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Quietschfidel statt mausetot

Von Monika Jarju

In einer Ecke des Zugabteils drängen sich vier junge weiße Katzen aneinander. Neugierig beuge ich mich zu ihnen hinunter. Als ich dem Katzenknäuel das Fell kraule, höre ich Maunzen – und dann Fiepen. Blitzschnell flitzt eine Maus zwischen den Katzen hervor zur Haltestange. Die Maus geht auf die Hinterbeine, ihre rosa Ohren stellen sich auf, die Schnurrhärchen zittern. Sie setzt eine Pfote auf die Stange und kreist, schneller, immer schneller. Minutenlang tobt sie herum, das Mauskarussell ist nicht zu stoppen, sie dreht völlig durch. Ihr Fiepen klingt wie Kichern. Verblüfft bemerke ich auf einmal ein kleines Mädchen, das die Rolle der Maus übernommen hat. Mit einer Hand hält es sich an der Haltestange fest und wirbelt am ausgestreckten Arm mit wehenden Haaren herum, bis ihr schwindlig wird. Das Mädchen bin ich – als Kind. Ich flog.

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© 2023 Monika Jarju
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Try Me

Von Ani Nersesyan

Neige deinen Kopf nach hinten und schau in den Himmel: Kleine Feuerzeuge, die über den Nachthimmel verstreut sind, erhellen die dunklen Straßen der Stadt. Schau dir diese kleinen hellen Laternen an, sie sind wie Streichhölzer, bereit, mitten am Himmel ein Feuer zu entfachen – zünde einfach mindestens eines an und du wirst die helle, schwankende Flamme entfachen. Rote feurige Zungen werden sich wie Marienkäfer an einem Maimorgen über die staubige, vergessene, graue Stadt ausbreiten.

Wirst du dein Gesicht zu diesen Sternen, zu diesem Feuer erheben und deine Hände ausstrecken, kann dieses Licht deine Fingerspitzen erreichen. Du wirst spüren, wie die Wärme durch deine Adern bis ins Herz fließt und im Einklang mit der blutfarbigen Nachtflamme schlägt. Nachdem du dein Gesicht mit bereits heißen Fingern berührt hast, wird ein Lächeln seinen Weg zu deinen Mundwinkeln finden – wohin ich jedes Mal nach einem langen Tag zurückkehren werde. Und dieses Muttermal auf deiner Wange sieht aus wie diese kleinen hellen Laternen. Sie beleuchten dein mürrisches dunkles Gesicht. Ich werde mein restliches Leben auf diesem Leberfleck leben. Dort ist es bequemer als alle samtenen Sessel und Sofas, notwendiger als alle Teddybären, teurer als alle Schätze der Welt.

Neige deinen Kopf, sieh dir diese kleinen Leberflecken am Nachthimmel an. Sie erinnern mich an dich…

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© 2023 Ani Nersesyan(Text & Bild)
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Zartgrau

Von Monika Jarju

Neben mir geht ein großer zartgrauer Mensch wie eine lebendige Idee von einem Mann, nach dem es mich immerzu verlangt die Arme auszustrecken, ihn zu umfangen, das Graue an ihm einzufärben. Meine Arme werden halbschwer vom Innehalten.

Mit jedem Wort sagt er etwas, noch mehr und etwas anderes, während wir Straßen, Areale abschreiten und ich mich in Lichtern, Gesichtern verfange und darauf hoffe, nicht mehr zu warten in meiner Innenwelt.

Unter dem Nachthimmel erkaltet die Luft. Eine winzige Krümmung seiner Schultern und schon steigt seine zarte Kühle in mir auf.

Die halbe Nacht bin ich durch eine Endlosgesellschaft aus Köpfen, Kopien & Körpern gelaufen. Als ich die Augen schloss, sah ich noch Gänge, Tischreihen, Lampen vor mir. Und wie er neben mir ging und enteilte im Raum, den sein Auge schuf.

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© 2023 Monika Jarju
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Der Auftrag der Vögel

Von Michael Wiedorn

Vögel fliegen am Himmel. Niemand sieht sie.
Arbeitend in geheimer Mission.
Der Himmel verschließt sich. Wolken toben.
Die Mauer wird schwarz. Alles stirbt.
Gestern habe ich alles beobachtet. Gestern ging noch alles.
Der Fluss ist jetzt aus Glas.
Das Blut stockt in den Venen. Purpurrotes, kaltes Glas klirrt.
Ich bin kein Tier mehr.
Ich stehe und warte.
Sieben Jahre wird es dauern – hoffen wir alle.
Die Vögel fliegen in geheimer Mission.
Wer ist ihr Auftraggeber? Sie schweigen.
Es ist ihnen verboten zu singen.
Schwarz sind die Vögel wie das Schwarz der Leere.
Sie sind leer wie das Nichts.
Gestern ging noch alles gut.
Ich frühstückte reichlich. Niemand hatte etwas dagegen.
Auch die Züge fuhren wieder.
Nie wieder Tod und Leere – dachten wir alle.
Gestern waren die Vögel Frauen im Walde.
Wälder sind jetzt rote Mauern im Winde.
Niemand traut sich ihnen zu nahe zu treten.

28.XII.2010

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© 2023 Michael Wiedorn
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Ich schwimme, ich fließe

Von Michael Wiedorn

Ich schwimme im Fluss, fließend aus der Badehose. Der Strom leuchtet azurn gegen die türkisenen Kacheln. Ich bin ein Fisch und tummle mich in der Flut. Wogend in den Wellen. Gischt spritzt und ein bleicher, steifer Körper treibt ins Meer. Hinaus ins Freie. Wogend im Tode. Leistungssportler grölen fröhlich und springen vom Zehn-Meter-Brett tief hinab ins Azur. Tief ins Azur in der Tiefsee. Klaffende Mäuler. Fieberrote Feuerfische reißen und fressen Stücke aus dem Fleisch heraus. Das Fischbesteck schneidet in die gedünstete Forelle. Saphirblaue Meereswogen. Türkisblaue Kacheln an den Mauern der Moschee. Verwirrte Fische irren durch Auwälder. Das weiche, weiße Fleisch liegt zärtlich auf der Zunge. Gut gewürzt. Forelle serviert man mit Kartoffeln und Meerrettich. Hecht, Tintenfisch, Krabben, Kaviar. Die Brandung des Meeres schlägt gegen die Dünen. Auf die Dünen rauf. Zerbrochenes Holz und Gemäuer. Das Meer zieht sich zurück und im nassen, grausam ans Tageslicht gezerrten Untergrund dreht und windet sich fremdes Leben. Zu Fremdartiges sollte dem menschlichem Auge für immer verborgen bleiben. Die neugierigen Touristen staunen und laufen weit hinaus über den jetzt leer geräumten Meeresboden.
Die Natur ist gut. Sie nährt und liebt Mensch und Tier. Es gibt die Kriegstaktik, dass die Armee sich zurückzieht und der Feind dringt siegestrunken vor. Man liebt die Natur, weil sie das menschliche Leben ziert. Die Wälder und Berge und die Meere sind die Heimat. Schwarze, meterhohe Kriegerheere kämpfen und erobern. Schwarze, meterhohe Wassermassen erheben sich weit draußen im Fremden und stürmen zerberstend vorwärts. Das Wasser ist schwarz wie der Menschenhass. Der von den Fischen Gehäutete und an den Gliedern Amputierte führt die Kriegsheere. Der versteifte Kadaver erscheint oben auf dem Sims einer weltzermalmenden Wassermauer. Das Fischbesteck schneidet in das Fleisch. Fische bluten wenig. Harter Stein bricht auf. Ich schwimme in der Brandung, fließend aus der Badehose.

9.IV.2018

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© 2023 Michael Wiedorn
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Wellen

Von Hannah Knaack-Völker

Wellen. Wellen schaukeln. Wellen schwanken, schwanken wie das Leben. Das Leben ist nicht fest. Es steht nicht auf Granit. Es ist mehr wie eine Autobahn, die über Torf gebaut wurde. Nicht jeder, der darüber fährt, weiß um den Untergrund. Die, die Bescheid wissen, glauben vielleicht, dass das Bauwerk hält, dass es stabil steht. Aber es kann auch sein, dass der eine oder andere sich des modrigen Untergrundes bewusst ist und in Sorge lebt. Macht das das Leben besser? Ist es nicht besser, sich einer Gefahr unbewusst zu sein und eines Tages überrascht zu werden? Was bringt es, wenn man nichts daran ändern kann, in Angst zu leben? Ob wir Angst haben oder nicht, die Autobahn des Lebens kann jeden Moment zusammenbrechen. Wir wissen nicht, wann wir die Unglückseligen sein werden, die sich uns zur falschen Zeit an der falschen Stelle befinden oder vom Leben überholt werden.

Wieso gibt es Menschen, die glücklich sind, und Menschen, die unglücklich sind? Sind glückliche Menschen zwangsläufig einfach? Muss einem alles egal sein, um glücklich zu sein? Ist Desinteresse an anderen Menschen der Schlüssel zum Glücklichsein? Ich kann es mir nicht vorstellen, aber manchmal erscheint es so. Es gibt Leute, die sagen, bei ihnen wäre alles in Ordnung – und wieso? Weil sie sagen, sie machten sich keine Gedanken. Es ist so verbreitet zu hören, nachdenken wäre schlecht – besonders wenn es zu viel sei. Aber was ist „zu viel“? Was ist „viel“? Warum sollte ich meinem Kopf verbieten zu denken? Warum sich so einem Zwang unterwerfen? Warum kann ich meine Gedanken nicht für mich haben? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gedanken schlecht sein sollen. Das Letzte, das ich tun wollte, wäre mich dazu zu zwingen, meine Gedanken zu verlassen. Wenn ich eins sicher im Leben habe, dann sind es meine Gedanken. Ihnen kann ich vertrauen. Sie sind meine Freunde; Freunde, die alles wissen und immer (für mich) da sind. Wesentlich schlimmer als nachzudenken, ist es Gedanken zu verjagen. Wer bin ich denn ohne meine Gedanken?

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© 2023 Hannah Knaack-Völker
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Ferne

Von Hannah Knaack-Völker

Ferne. Berge. Wälder. Wolken. Regen. Wind. Keine Lichter. Nur Ferne. Was macht ein solcher Ausblick mit einem? Um in die Zukunft zu gucken, ist es wichtig, in die Ferne zu gucken? Muss ich etwas wie Weite mit meinen Augen sehen, um den Horizont in meinem Leben zu sehen? Was passiert, wenn man nie den Horizont sieht? Wird man dann blind? Ist Kurzsichtigkeit etwas, das uns ereilt, weil wir uns alles verbaut haben? Muss man nicht einen weiten Blick haben, um sich das Leben so ausführlich wie möglich vorstellen zu können? Was passiert mit der Vorstellungskraft, wenn ein Mensch nur Straßenschluchten entlangsehen kann? Gibt es dann in dem, was man selbst sich aussucht, auch nur Straßenschluchten? Was passiert, wenn man gegen Wände schaut? Werden dann nicht jedes Mal Barrieren wahrgenommen, bis man freiwillig nicht mehr gegen die Barriere denkt? Werden unsere Gedanken viereckig, wenn wir uns in viereckigen Räumen befinden?

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© 2023 Hannah Knaack-Völker
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