Schnürl

Von Johannes Morschl

Unbefugte waren in den Wald seiner Gedanken und Gefühle eingedrungen, vermutlich irgendwelche neidischen kleinen Lichter, die sich zu kurz gekommen fühlten, oder waren es irgendwelche von einer anonymen Macht beauftragten Störenfriede? Zuerst hatte er gar nicht verstanden, was und warum da lief. Zuerst dachte er, es handelte sich bloß um eine vorübergehende betriebsbedingte Störung in seinen Gedanken und Gefühlen. Irgendetwas wäre da in ihm aus dem Lot geraten, vermutlich aus Gründen eines langsamen, beharrlich fortschreitenden körperlichen und geistigen Verfalls. Man ist ja schließlich kein flotter Jungspund mehr, dachte er. Aber dann kamen ihm Zweifel an dieser Altersverfalls-Hypothese. Er wurde sich immer sicherer, dass es sich um einen gezielten Angriff auf sein Gehirn und seine mit dem Gehirn verkabelten Gefühle handelte. Aber wer steckte hinter diesem Angriff? Wahrscheinlich irgend so ein kleines Licht, das sich einbildete, besonders originell zu sein, aber nur Quatsch mit Soße produzierte, und das sich von ihm übergangen, beiseite geschoben, nicht anerkannt fühlte, und ihm deshalb Schaden zufügen und sein inneres Betriebssystem stören wollte.

Zuerst versuchte er, dies alles in die Erde abfließen zu lassen. Er stellte sich auf einen Felsbrocken, der in der Landschaft lag, seine schwarze Strickmütze bis über die Ohren und bis zu den Augenbrauen heruntergezogen. Es war lausig kalt, der Krieg in der Ukraine war relativ nahe, nur Polen dazwischen, danach kamen gleich die mustergültig gepflügten deutschen Ackerböden. Wie er da auf dem Felsbrocken stand, hätte er ein Denkmal sein können, das Denkmal eines Verlorenen, schon zu Lebzeiten in Vergessenheit Geratenen. Aber dann erwachte in ihm Widerstand gegen dieses sich feige versteckende kleine Licht, wahrscheinlich irgend so ein von Mama verwöhntes kleines Würstchen, das in Papa einen übermächtigen Rivalen gesehen hatte, oder sich von Papa übersehen gefühlt hatte und ihn am liebsten umgebracht hätte, sich dies aber nicht getraut hatte, und das hatte nun er abbekommen, er – ein Fremder, der dem kleinen Würstchen nur vom Namen und von seinen öffentlichen Aktivitäten her bekannt sein konnte. Aber vielleicht war es gar kein kleines Würstchen…

Er war all dessen müde, eigentlich war er seines ganzen Vorhandenseins in diesem Irrenhaus Menschenwelt müde. In der Ferne sah er bereits die Aufschrift Ende aufflimmern. Der Film geht endlich dem Ende zu, dem Erlöschen für immer, dachte er. Am liebsten hätte er sich ins Bett gelegt, die Augen geschlossen, und wäre nie wieder in diesem Irrenhaus, das sich Menschenwelt nennt, aufgewacht. Der Mond, der alte Zausel, hing über den Dächern. Es war Zeit, sich den Träumen zu überlassen. Noch waren sie da, aber sie zerflossen langsam, wurden immer verschwommener, und dann… Jäh erwachte er wieder im Hier und Jetzt. Ihm war kalt. Er fühlte sich alt und verloren in seiner leiblichen Hülle. Die Welt war ihm fremder denn je geworden. Er gehörte zwar objektiv gesehen noch zu ihr, aber innerlich hatte er sich bereits von ihr verabschiedet.

Er sagte sich, zurückziehen, in die innere Emigration gehen, sich in sich selbst vergraben, ich bin nicht, also bin ich, denn ich habe noch einen Schatten, der mich bis ins Grab begleiten wird, bis in die Totenstille. Das Gedröhne der Welt wird dann meinem Schatten und mir nichts mehr anhaben können. Wir werden uns aber eingestehen müssen, für diese Welt zu sensibel gewesen zu sein, zwar kein Weichei, wir konnten so einiges einstecken und konnten auch ganz gut austeilen, wenn es sein musste, aber letztendlich waren wir zu gefühlig. Wir litten immer mit, wenn jemandem Unrecht angetan wurde.

Da betrat eine merkwürdige Figur sein inneres Szenario. Sie erinnerte von ihrer Magerkeit und den Verbiegungen ihrer Körperhaltung her an ein Fragezeichen, so als hätte sich in ihr eine Infragestellung ihrer selbst und darüber hinaus des gesamten Universums somatisiert. Das Fragezeichen sagte: „Wie langweilig. Schreibst du jetzt nur noch für Gruftis?“ Das hätte das Fragezeichen nicht sagen sollen, zumal das Fragezeichen und er sich auf ein und derselben Oberfläche befanden, auf einer Oberfläche, die mit Ampeln, Polizisten, Richtern, Hinrichtern, Hirnrichtern, Genies, Volltrotteln, und mit größenwahnsinnigen Multimilliardären, die Staatspräsidenten waren, zu deren Hobbys es gehörte, benachbarte Länder zu überfallen und denen Menschenleben scheißegal waren, bevölkert war.

Wohin haben wir uns verirrt?, fragte er sich, oder sollte man eher sagen: Wohin wurde man verirrt? Er musste unwillkürlich an die KZs der Nazis denken, an die von Unmenschen an Menschen verübte Hölle auf Erden, wobei die Unmenschen in ihrem Privatleben biedere, nichtssagende Leute waren, die ihre Hunde liebten und immer gut fütterten. Wenn der Hund ein Wehwehchen hatte, holte man sofort den Tierarzt. Da machte man sich große Sorgen um den Hund. Man wird ihn doch nicht einschläfern lassen müssen! Man liebte ihn über alles. Man gehörte selbstverständlich zur Staatspartei, zur Partei der Mörder, Henker und Folterknechte. Man folterte, henkte, erschoss und vergaste mit Zustimmung eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung. Da waren so einige biedere Bürger dabei, die im Geiste mit mordeten. Diese Mentalität hielt sich noch lange nach dem Ende der Herrschaft des braunen Verbrecherpacks. Er konnte sich noch gut an Rufe von Passanten wie „Euch sollte man alle in ein KZ sperren!“, „Euch sollte man alle vergasen!“ erinnern, als er Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre zuerst in Wien und dann in Westberlin an Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg der USA teilgenommen hatte.

Doch wenden wir uns einem angenehmeren Thema zu, sagte er sich dann. Wie steht es mit der Liebe? Heute ist Vollmond, aber noch Minusgrade draußen. – Oh, in deinen Armen, nackt Leib an Leib! All das Schwere, Bedrückende fällt ab. – Spürt ihr auch den Pulsschlag des Weltalls in euch?

Nach diesem flüchtigen zwischenzeitlichen Hoch überkam ihn wieder ein Gefühl der Verlorenheit in der Welt. Er wollte verschwinden, sich in Luft auflösen. Trauer, unendliche Trauer, und ein Gefühl von Hilflosigkeit machten sich in ihm breit. Bloß kein Leidensweg des Alters mit zunehmender körperlicher Hinfälligkeit und Verwirrung des Geistes! Und warum gerade unter die Menschen geraten?, sagte er sich. Warum nicht unter die Berggorillas oder die Störche oder die Schildkröten? Er fühlte sich auf den Hund gekommen, – kein Geld, keine Ideen, keine Freunde mehr. Er stand sozusagen im Regen, ohne Regenschirm in einem Schnürlregen. (1) Es regnete nicht einzelne Tropfen, es war auch kein feiner Nieselregen oder gar ein Regenguss, sondern es regnete in Schnürln. – Ha! Aber ja! Das ist genial!, dachte er. Endlich war ihm ein passender Künstlername für sich eingefallen: Schnürl, schlicht und einfach nur Schnürl. „Ich bin Schnürl, also bin ich. Schnürl ist ab sofort meiner neuer Künstlername! Ich werde auf Lesebühnen nur noch unter dem Namen Schnürl auftreten und meine Texte, so wie auch Briefe und amtliche Formulare nur noch mit Schnürl unterzeichnen!“ Er fühlte sich wieder im Hoch. Doch dann sagte er sich: „Wozu das alles. Das ist lächerlich und völlig sinnlos, der Größenwahn einer Eintagsfliege.“ Und schon stürzte er wieder in ein schwarzes Loch…

Szenenwechsel. Einige Zeit später. Wir, die wir Schnürl kannten, waren total erschüttert über die Nachricht von seinem plötzlichen Tod. Man geht von einem Freitod aus. Darauf wies ein merkwürdiger Brief hin, den man in seiner Wohnung gefunden hatte. In dem Brief stand nur geschrieben: „Auf Nimmerwiedersehen! Ich bin an dieser Welt verzweifelt.“ Unterzeichnet mit: „Schnürl, geb. 1947 – gest. nicht erst heute“. Seine Leiche wurde jedoch noch nicht gefunden. Jedenfalls war er spurlos verschwunden.

Unter einem Kastanienbaum steht ein überzeugter Schnürlianer, der sich auf Schnürls ziemlich überschaubares Werk spezialisiert hat. Er behauptet steif und fest, Schnürl habe nicht, wie allgemein angenommen wurde, aus Verzweiflung, in diese Welt geworfen worden zu sein, Selbstmord begangen, sondern lebe noch. Er wäre ihm im Traum erschienen, wie er sich nackt auf einem abgelegenen Strand an der Mittelmeerküste Spaniens räkelte. – Nun, im Traum mag so mancher weiterleben, könnte man zurecht einwenden. Jedenfalls beugen wir unser Haupt und trauern um Schnürl. Adieu, Schnürl! Tapfer wie der ingeniöse Hidalgo Don Quixote hast du dich so lange, wie es dir möglich war, durch die Wirren des Lebens geschlagen. Von der Rosi, also nicht von Don Quixotes klapprigen Klepper Rosinante, sondern von der echten Rosi aus Wien, die alles andere als klapprig ist, – na, du weißt schon, welche gemeint ist – , sollen wir dir ein letztes Bussi-Bussi ausrichten. Sie macht jetzt Bussi-Bussi mit dem Kummerer Ferdl aus dem 10. Hieb. (2)

1) Schnürlregen ist ein österreichischer Ausdruck für einen sozusagen in Schnüren dicht fallenden Regen. Berühmt-berüchtigt ist zum Beispiel der Salzburger Schnürlregen. Salzburg ist ohne Schnürlregen gar nicht zu denken. Sollten Sie einmal nach Salzburg fahren: Auf keinen Fall ohne Regenschirm und Regenmantel!

2) Hieb ist ein Wiener Mundartausdruck für Gemeindebezirk. Der 10. Hieb in Wien ist der 10. Wiener Gemeindebezirk Favoriten, – ein Arbeiterbezirk.

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Eine unmögliche Liebe

Von Johannes Morschl

Glaube, mich in Ingeborg Bachmann verirrt zu haben, – Quatsch -, eigentlich muss ich mir eingestehen, mich in Ingeborg Bachmann verliebt zu haben. Nun gut, dies könnte man auch als Verirrung ansehen, als eine Art von Nekrophilie, sich in eine längst Verstorbene zu verlieben. Als sie 1973 in Rom starb, war ich 26 Jahre alt. Ein Liebesverhältnis mit ihr wäre trotz unseres beträchtlichen Altersunterschieds theoretisch möglich gewesen, falls wir uns zum Beispiel in dem so ereignisreichen Mai 1968 begegnet wären. Da war ich 21 und sie 42 Jahre alt. Dass ich nicht unbedingt ein Adonis bin, hätte einem Leibesverhältnis mit ihr, – sorry, natürlich muss es Liebesverhältnis heißen, – nicht entgegenstehen müssen, denn Max Frisch, mit dem sie eine längere Liebesbeziehung hatte und eine Zeit lang in Rom zusammen lebte, konnte man ja auch nicht gerade als Adonis bezeichnen, und dies nicht nur wegen seiner großen Brille, die seine Augen unnatürlich vergrößert erscheinen ließen.

Ich studiere manchmal das Gesicht von Ingeborg Bachmann, wie es auf Fotos abgebildet ist. Besonders gut gefällt mir ein Porträt von ihr, das über einem Porträt von Max Frisch auf dem Schutzumschlag des 2022 herausgegebenen Briefwechsels der beiden zu sehen ist. (1) Es zeigt ein sinnliches, nachdenkliches Gesicht mit leichtem Lächeln und vom Wind zerzaustem Haar. Ich schätze vor allem ihre Gedichte. Mit ihrem Roman Malina hatte ich mich früher nicht so recht anfreunden können. Ich hatte ihn zweimal zu lesen begonnen, kam aber über den Anfang nicht hinweg. Ich kann nicht genau sagen, warum, aber der Roman ermüdete mich schon beim Lesen der ersten Seiten. Vor nicht allzu langer Zeit begann ich mit einem dritten Versuch, ihn zu lesen, und dieses Mal kam ich etwas weiter, die Ermüdungserscheinungen setzten erst später als bei den ersten beiden Versuchen ein.

Ingeborg Bachmann hatte es mit älteren Männern, aber durchaus nicht nur. Der Entdecker ihrer literarischen Begabung und erster Förderer war der um 18 Jahre ältere Theaterkritiker und Autor Hans Weigel, der im Café Raimund gegenüber vom Wiener Volkstheater residierte, und mit dem sie auch eine Liebesbeziehung hatte. Hans Weigel war ein Wiener Jude. 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland, emigrierte er in die Schweiz und kehrte nach Kriegsende nach Wien zurück. Sie hingegen kam aus einer Nazi-Familie. Ihr Vater, der Klagenfurter Volksschullehrer Matthias Bachmann, war schon Mitglied der NSDAP Österreichs, als diese in Österreich noch verboten war, und blieb bis 1945 NSDAP-Mitglied. Nach 1945, als das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen immer mehr bekannt wurde, hat er seine Mitgliedschaft in der NSDAP zutiefst bereut, – immerhin, denn das haben beileibe nicht alle österreichischen Nazis getan. Man muss sich jedoch bezüglich dieser Reue fragen, ob er vorher blind und taub gewesen ist. Er soll ein guter Vater gewesen sein. Angesichts der schweren seelischen Krise, in der sich seine Tochter Ingeborg befand, nachdem Max Frisch sich von ihr getrennt hatte, schrieb er einen vorwurfsvollen Brief an Max Frisch, den dieser auch beantwortete, indem er seine Gründe für die Trennung darlegte.

Auch der berühmte Schweizer Autor Max Frisch, mit dem Ingeborg Bachmann eine längere Liebesbeziehung hatte und mit dem sie sich zweimal eine Wohnung in Rom geteilt hatte (ab Dezember 1960 in der Via Giulia 102, und ab Juni 1961 in der Via de Notaris 1 F), war um etliches älter als sie, um 15 Jahre. In dem Briefwechsel zwischen ihr und Max Frisch nennt sie ihn „mein Bär“. Der „Bär“ war aber gesundheitlich angeschlagen und lange Zeit in ärztlicher Behandlung inklusive OP wegen einer Leberzirrhose, vermutlich ausgelöst durch chronischen Alkoholkonsum, während sie viel herum reiste, teils aus beruflichen Gründen, teils um sich mit Freunden und Bekannten zu treffen.

Ihre Beziehung mit Max Frisch war eher schwierig und endete für sie in einer Katastrophe, da er die Beziehung nicht mehr aushielt und von sich aus beendete. Er wollte eine feste eheähnliche Beziehung, die mit ihr nicht möglich war, obwohl sie ihn eigentlich heiraten wollte, denn sie brauchte ihre Freiheiten und verreiste manchmal auch unangekündigt, was ihn verletzte und eifersüchtig machte. Diese Eifersucht war nicht ganz unbegründet, etwa als sie sich im November 1960 ein paare Mal mit ihrem ehemaligen Geliebten Paul Celan in Zürich traf, um ihn gegen den Plagiatsvorwurf von Claire Goll, er habe in seinen Gedichten von ihrem verstorbenen Mann, dem Dichter Yvan Goll abgekupfert, zu unterstützen. Auch traf sie sich öfter aus beruflichen Gründen mit Hans Magnus Enzensberger, mit dem sie ebenfalls eine Liebesziehung hatte. Ausschlaggebend für das Ende der Beziehung zwischen Max Frisch und ihr war aber seine Eifersucht wegen ihrer im Frühjahr 1962 begonnenen Liebesbeziehung mit dem italienischen Germanisten Paolo Chiarini, die allerdings nur von kurzer Dauer war. Max Frisch begann schließlich im September 1962 eine Beziehung mit der deutschen Studentin Marianne Oellers, die dann seine zweite Ehefrau wurde. Ingeborg Bachmann stürzte nach Max Frischs Trennung von ihr in eine schwere psychische Krise.

Für Ingeborg Bachmann war es mit ihren Freunden wie dem schwulen Komponisten Hans Werner Henze, mit dem sich eine Zeit lang eine Wohnung in Rom geteilt hatte und mit dem sie künstlerisch eng zusammenarbeitete, – so schrieb sie z.B. die Librettos von zwei seiner Opern (Der Prinz von Homburg, Der junge Lord) -, oder mit dem Dichter, Schriftsteller und Herausgeber Hans-Magnus Enzensberger, den sie in der Gruppe 47 kennengelernt hatte, oder mit dem um 9 Jahre jüngeren Wiener Schriftsteller Adolf Opel viel unkomplizierter als mit Max Frisch. Nach dem für sie traumatischen Ende der Beziehung mit Max Frisch reiste sie mit Adolf Opel zweimal nach Prag und einmal über Athen nach Ägypten und in den Sudan. (2) Dabei kamen sie sich auch sexuell näher und entdeckten in einem Hotelzimmer in Wadi Halfa (Sudan) ihre sadomasochistischen Neigungen. Es gab danach den Versuch eines Zusammenlebens in West-Berlin, Heiratspläne, eine gemeinsame Zeit in Rom, wo es aber zum Bruch ihrer Beziehung kam.

Allerdings muss ich gestehen, bezüglich der Männer von Ingeborg Bachmann parteiisch zu sein. Mein Favorit von ihren Männern ist eindeutig Paul Celan, mit dessen Gedichten ich mich immer wieder mal beschäftige, vor allem mit seinen späteren Gedichten ab dem Gedichtzyklus Die Niemandsrose. Die beiden begegneten sich das erste Mal 1948 in der Wohnung des surrealistischen Malers Edgar Jené in Wien, und hatten ein in Wien begonnenes und in den Jahren danach immer wieder aufflammendes Liebesverhältnis. Paul Celan nahm sich im Alter von 49 Jahren in Paris durch einen Sprung von einer Brücke in die Seine das Leben. Das hatte aber nichts mit Ingeborg Bachmann zu tun. Er war durch die Judenverfolgungen in seinem unter der Diktatur von Ion Antonescu mit Hitler-Deutschland verbündetem Heimatland Großrumänien, denen seine Eltern zum Opfer fielen, – er selbst entging in letzter Minute durch den Einmarsch der Russen dem Tod -, und darüber hinaus durch den Holocaust schwer traumatisiert. Ihn quälte auch ein irrationales Schuldgefühl, damals an dem Tag, als seine Eltern abgeholt wurden, nicht zu Hause bei ihnen gewesen zu sein.

Eine gewisser Hang zur Suizidalität schlummert auch in mir, wenn auch aus anderen Gründen als bei Paul Celan. Das Herbeiführen des Verschwindens für immer durch eigene Hand hatte schon des Öfteren etwas Verführerisches für mich, in jüngeren Jahren war es aber noch viel akuter. Heute bin ich ein alter Mann mit weißem Haar, der nur noch ein paar Jahre vor sich hat, wobei ich mir manchmal denke, wer weiß, vielleicht werde ich noch ein Hundertjähriger, der aus dem Fenster steigt, um nach Ingeborg Bachmann zu suchen, was allerdings vergeblich wäre, da ich nur noch ihr Grab am Klagenfurter Friedhof Annabichl besuchen könnte.

Beim Kettenrauchen hätten Ingeborg Bachmann und ich uns bestens verstanden. Ich stelle mir vor, wir beide Zigaretten rauchend in einer Wohnung, vielleicht in ihrer vorletzten Wohnung in der Via Bocca di Leone 60 oder in ihrer letzten Wohnung in der Via Giulia 66 in Rom, dann noch dazu Gitanes oder Gauloises. Ich bilde mir ein, irgendwo einmal gelesen zu haben, dass sie es mehr mit Gitanes hatte, bin mir aber dessen nicht sicher. Ich hatte es in jüngeren Jahren mehr mit Gauloises. Inzwischen rauche ich nur noch selbst gedrehte Zigaretten, was zwar nicht gesünder, aber billiger ist. Jedenfalls stelle ich mir vor, die Klagenfurterin Ingeborg Bachmann und ich, die Wiener Kaffeehausmischung mit donauschwäbischem, ungarischem und böhmischem Einschlag, befänden uns gemeinsam in ihrer vorletzten oder letzten Wohnung in Rom. Womöglich würden wir uns im dichten Nebel des gemeinsam erzeugten Zigarettenqualms gar nicht mehr sehen können. Ich: „Ingeborg, wo bist du?“ Sie: „Ich sitze auf dem Sofa.“ Ich: „Aber da sitze ich ja auch!“

Auch beim Sex und Alkoholkonsum hätten wir uns wahrscheinlich bestens verstanden. Allerdings trinke ich seit ein paar Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr, und das sexuelle Wesen in mir hat sich zurückgezogen und meldet nur noch selten seinen Anspruch auf Ausleben an. Das war in jüngeren Jahren anders, da bewegten mich einzig und allein Liebe, Sex und Revolution. Mein Lieblingslied war Die Internationale: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde…“ Beruf, Gelderwerb, das waren für mich immer nur lästige, zum Überleben notwendige Angelegenheiten. Alles, was mit von außen auferlegter Pflicht zu tun hatte, war mir immer zuwider. Der absurdeste Verein, in den ich jemals im Zusammenhang mit von außen auferlegter Pflicht geraten bin, war das Österreichische Bundesheer, bei dem ich meinen Pflichtwehrdienst ableisten musste. Dort gab es zum Beispiel so eine ländliche Geistesgröße, die uns junge Rekruten am noch von der Deutschen Wehrmacht stammenden MG 42 ausbildete. Ich erinnere mich noch genau daran, wie diese ländliche Geistesgröße einmal mit saublödem Grinsen sagte, früher hätte man das MG 42 „Hitlersense“ genannt. Ich hielt diesen Verein nicht lange aus und desertierte, was mir beträchtliche Schwierigkeiten einbrachte, an die ich mich nur äußerst ungern erinnere.

Der Altersunterschied von 21 Jahren zwischen Ingeborg Bachmann und mir wäre für mich kein Problem gewesen. Ich hatte mich schon einmal in eine ältere Frau verliebt, mich aber nicht so recht getraut, mir dies einzugestehen, da ich einen großen Respekt vor ihr hatte. Außerdem war sie verheiratet. Nun gut, dies hätte nicht unbedingt ein Hindernis für eine Liebesaffäre sein müssen. Sie war eine Intellektuelle, die die Nazizeit in der Emigration in England überlebt hat. Als Jüdin und Kommunistin ist sie nach der Okkupation Österreichs durch Hitler-Deutschland doppelt bedroht gewesen. Als sie mir einmal während eines Gesprächs in ihrer Wohnung die Hand auf einen meiner Oberschenkel legte, wobei ich mich nicht mehr erinnern kann, ob es mein linker oder rechter Oberschenkel war, gefühlt war es eher mein linker Oberschenkel, wobei aber damals alles an und in mir links war, so dass es, wenn es mein rechter Oberschenkel war, es sich bei diesem im Grunde genommen auch um einen linken Oberschenkel gehandelt hätte -, zog ich mich in mich zurück und tat so, als wäre nichts. Später fragte ich mich manchmal, wie es gewesen wäre, wenn da zwischen uns etwas gelaufen wäre. Wahrscheinlich war aber ihre Berührung eines meiner Oberschenkel nur eine spontane, rein freundschaftliche Geste.

Nach Ingeborg Bachmanns schrecklichem Tod im September 1973 in Folge eines Brands mit ungeklärter Ursache in ihrer letzten Wohnung in Rom – man vermutet, dass sie mit einer noch glimmenden Zigarette eingeschlafen ist, die ihr im Schlaf entglitt und den Brand ausgelöst hat – hätte ich, falls wir tatsächlich eine Liebesbeziehung gehabt hätten, ziemlich sicher nicht mehr weiterleben wollen. Womöglich hätte ich mir dann aus Verzweiflung die Pulsadern aufgeschnitten, oder hätte aus Verzweiflung das Leben eines Obdachlosen auf mich genommen, das zwar an sich schon hart ist, aber besonders hart ist es in den Wintermonaten, vor allem in nördlichen Ländern. Von der Temperatur her ist es in südlichen Ländern etwas einfacher, als Obdachloser zu überleben, da besteht zumindest nicht die Gefahr des Erfrierens. Als Obdachloser hätte ich zwar noch zu den Lebenden gehört, mich aber in einer entwürdigenden Situation befunden, da ich vielleicht unter einer Brücke hätte schlafen müssen, wo ich mich dauernd in Gefahr befunden hätte, im Schlaf von Ratten angenagt oder von Besoffenen angepinkelt oder meiner letzten Habseligkeiten beraubt zu werden. Da ich dann wahrscheinlich ständig mit hochprozentigem Fusel betäubt gewesen wäre, hätte ich gar nicht gemerkt, im Schlaf von Ratten angenagt oder von Besoffenen angepinkelt oder meiner letzten Habseligkeiten beraubt zu werden.

Meinen Wunsch, in der Nähe von Ingeborg Bachmanns Grab auf dem Klagenfurter Friedhof Annabichl begraben zu werden, kann ich mir aber abschminken. Wenn ich es mir genau überlege, will ich auch gar nicht auf dem Klagenfurter Friedhof Annabichl begraben werden. – Da fällt mir gerade ein: Hat Thomas Bernhard auch über Klagenfurt gelästert, so wie er über andere Städte, etwa über Salzburg und Wien gelästert hat? Über Salzburg und Wien hat er zum Beispiel in seinem Roman Der Untergeher derart gelästert, dass man sich gar nicht mehr vorstellen kann, es in Salzburg oder Wien länger als ein paar Tage auszuhalten. Aber über Klagenfurt? Hat er Klagenfurt übersehen, oder war es ihm gar nicht der Mühe wert, auch über Klagenfurt zu lästern? Nein, er hat Klagenfurt nicht übersehen. Als ich diesbezüglich im Internet recherchierte, stieß ich auf den Satz von ihm: „Es ist eine schöne Stadt, besonders dazu geeignet, an ihr zu leiden.“ Jedenfalls will ich lieber auf dem Père Lachaise in Paris oder trotz Wien auf dem Wiener Zentralfriedhof meine letzte Ruhestätte bekommen, wo ja auch Karl Kraus seine letzte Ruhestätte hat. Ich komme in Versuchung, das Lied Es lebe der Zentralfriedhof anzustimmen, lass es aber lieber bleiben. Singen gehört nicht gerade zu meinen Stärken. Wahrscheinlich wird es bei mir ein Friedhof in Berlin werden, ein anonymes Urnengrab in Berlin. Den toten Seelen ist es ohnehin egal, wo sie im Jenseits herumgeistern. Im Jenseits gibt es keine Städte, Länder und Grenzen. Da gibt es nur noch das Nichts, Nichts, Nichts, und immer und ewig das Nichts, Nichts, Nichts…

Wie gerne hätte ich Ingeborg Bachmann persönlich kennengelernt! Ich behalte sie und Paul Celan in meinem Herzen. Auch Max Frisch schätze ich sehr. Das erste, was ich in jungen Jahren von ihm kennengelernt hatte, war das Theaterstück Andorra, das mich damals sehr beeindruckt hat. Er selbst war allerdings damit nicht ganz zufrieden und hatte sogar überlegt, es wieder aus dem Verkehr zu ziehen. Letztendlich war er aber froh, es geschrieben zu haben. – So, jetzt reicht es aber mit Ingeborg Bachmann und mir. Somit verbleibe ich mit: Mein Name sei – na jedenfalls nicht Gantenbein. Storchenbein oder Giraffenbein würden eher zu mir passen.

1) Ingeborg Bachmann Max Frisch „Wir haben es nicht gut gemacht“ Der Briefwechsel. Piper Verlag München, Berlin, Zürich und Suhrkamp Verlag AG, Berlin 2022

2) Adolf Opel, Wo mir das Lachen zurückgekommen ist. Auf Reisen mit Ingeborg Bachmann. Verlag Langen-Müller-Herbig, München 2001

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Dramaturgie des Aufschubs

Von Kristin Vardi

Ich schaue aus dem Fenster. Fünfunddreißig Jahre. Fünfunddreißig Jahre schon. Streit ohne Worte. Diese Müdigkeit. Und keine Kraft mehr für Widerspruch. Er weiß alles. Und er weiß alles besser. Soll er denken, was er will, denke ich. Ich schaue konzentriert aus dem Fenster. Eigentlich ist er mir fremd. Ein Mitfünfziger mit einem Gesicht wie jedes andere.

Wieso saßen wir jetzt hier? Wir hatten schöne Jahre gehabt. Er war lieb, las gern, keine schlechte Partie. Ich hatte gedacht, was, wenn danach keiner mehr kommt. Ein weinrotes Auto überholt uns. Das Kennzeichen lautet W-GR. „Wo Geht’s Raus“, denke ich. Wir schweigen. Mir ist das willkommen. Die Stille ist mir jetzt angenehm.

Ich fühle, wie ich mich mit der Stille verbinde. Ich fühle mich wie ein großes Stück Schaumstoff, das den ganzen Raum unseres alten Renault Broadway ausfüllt. Ich stelle mir vor, wie ich noch weiterwachse und wachse. Und ihn so, ganz beiläufig, ersticke und zerquetsche.

Dass das möglich ist, denke ich. Da ist man fast in Rente und da begreift man, dass man gar nichts gemusst hätte. Keiner sagt einem, wie das geht mit dem Leben. Mit dem richtigen Leben. Mit der Ehe. Mit den Entscheidungen. Dinge ergeben sich. Man ergibt sich. Dinge verstetigen sich. Das war’s.

Man tut, was zu tun ist. Alles läuft nach Plan. Manchmal schmerzte mich eine kleine Einsamkeit, die bleibt halt, so ist das Leben, dachte ich. Ich muss erwachsen werden, hatte ich mir gesagt. Jetzt bin ich erwachsen, fast alt. Aber diese Stimme, diese lästigen Fragen, die wurden irgendwie nicht älter. Mit kindischer Beharrlichkeit stellen sie sich mir immer wieder in den Weg.

Ich fahr kurz ran zum Tanken, sagt er. Ja, sage ich. Er schmeißt die Tür zu. Das ist unsere Ehe. Man soll nicht zu viel vom Leben wollen. Die Kinder sind gesund. Wir verdienen gut. Das Haus ist abbezahlt, der Garten vorm Haus ist schön. Er reißt die Tür auf und wirft sich wieder in den Sitz. Das ist unsere Ehe. Gegenüber an der Zapfsäule steht ein LKW. Im Kennzeichen die Buchstaben BNO. Bin Nachts Ohnmächtig. Bitte Nur Opium. O. Oh, wer die Sehnsucht kennt! BNO, Bis Nach Oman. Ja, Oman. Bis nach Oman und zurück reicht meine Traurigkeit. Ach, bis zum Mond. In schwachen Momenten hatte ich manchmal mit dem Mond geredet. Ihm erzählt. Und er hatte zugehört.

Wir fahren immer noch auf der Autobahn. Er fährt und ich sitze daneben. Seit fünfunddreißig Jahren. Er hatte mich damals gefragt, ist hier noch frei? Ich hatte Ja gesagt. Der erste Satz enthält das Ende.

Eine Gewohnheit, ein Pakt gegen die Angst vielleicht, ein sprachloses und schattiges zuhause. Mir kommt das Lied von Marianne Faithfull in den Sinn, in the age of 37. The ballad of Lucy Jordan. Die Kinder in der Schule. Der Mann im Büro. Vor ihr liegt ein Tag der Leere, der Möglichkeiten. Sie denkt an die vielen Geliebten, die sie nie hatte. Sie versteht, dass sie nie durch Paris fahren wird, in einem Sportwagen. Mit dem lauen Abendwind im offenen Haar.

Lucie Jordan hat immer wieder die gleichen Möglichkeiten, den Tag herumzukriegen. Das Haus aufräumen, putzen. Die Blumen in den Vasen hübsch drapieren. Nackt durch die Stadt rennen und brüllen.

Ist hier noch frei?, hatte er gefragt. Und dann waren wir zu viert. Junge, Mädchen, Vater. Mutter. Kinder machen aus einem Menschen eine Mutter. Ich denke an einen Satz von Proust. Bei Melancholie könne man sich in die starken Arme der Gewohnheit retten. Der Satz hatte mich immer interessiert. Von manchen Sätzen kann man sich ein Leben lang ernähren. Und doch, die fremde Gewohnheit in meinem Leben gibt mir keinen Trost. Was wäre gewesen, wenn, frage ich mich wieder.

Fünfunddreißig Jahre lang hatte ich Höhenangst vor der Antwort gehabt. All die Jahre, eine Parade von Ähnlichkeiten. Ich werde auf ein Nummernschild aufmerksam mit den Buchstaben VER. Ist die Vorsilbe eigentlich wertend? Verschlafen, vergeudet, verschwendet, verloren, vergessen, verheiratet?

Die Schlange beißt nicht, solange man sie ansieht. Ich denke, so ist das auch mit dem Schmerz. Ein Oldtimer mit den Zeichen HF zieht vorbei. Heil und Froh, denk ich. Konnte man das in meinem Alter noch sein? Konnte ich das werden?

Elegant, erfahren, voller Leichtigkeit und Grandezza. Wie der Oldtimer. Ich spüre plötzlich ein seltsames Gefühl der Erwartung. Es ist mir, als hätte dieses Gefühl Winterschlaf in meinem Blut gehalten. Ich kurble das Fenster herunter. Es ist, als fließe Lava über Schnee. Kennzeichen deuten, wofür ist das gut? Wenn er mich fragen würde. Ich könnte es ihm sagen.

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© 2023 Kristin Vardi
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Kurzbiografie:

Kristin Vardi wurde in Riesa/Sachsen geboren und studierte in Leipzig, Berlin und Tel Aviv. Nach dem Abschluss des Studiums (MA) der Geschichtswissenschaft und einem Volontariat bei der Freien Presse in Chemnitz lebt und arbeitet sie heute in Wien. Sie ist Gewinnerin „Bester Stil“ und „Beste Prosa“ für ihre Kurzgeschichte Rock Button Motel im Deutschen Schriftstellerforum (DSFO). Veröffentlichungen von ihr liegen unter anderem in der deutschen Literaturzeitschrift Edit, dem deutschen Verlag Poetenladen, dem Literaturportal Bayern und der österreichischen Literaturzeitschrift „Literatur & Radieschen“ vor. Für 2023 erhielt sie ein Arbeitsstipendium vom Österreichischen Bundesministerium für Kultur für ihren Roman Bestseller.

Monster

Von Hannah Knaack-Völker

Ich schlafe in einem Zimmer, in dem mich die Moskitos zerstechen, und versuche mich unter der Bettdecke zu verstecken. Es summt um mein Ohr und manchmal, eher selten, schaffe ich es, eine der Mücken, wenn sie träge ist, weil sie bereits begonnen hat mein Blut zu saugen, zu erschlagen. Dabei schlage ich mir gelegentlich in mein eigenes Gesicht. Ich mag keine Flecken an den Wänden. Andere Leute richten ein Massaker in ihren Zimmern an, das einem Moskitofriedhof gleicht. Wir haben ein duftverströmendes Gerät, das man in die Steckdose steckt und von dem wir nicht wissen wollen, wie schädlich dessen Inhaltsstoffe sind, aber fast Mitte November haben wir aufgegeben es zu benutzen, in dem Glauben, dass die Moskitos langsam an Kälte sterben müssten. Meine Arme sind mit Stichen übersät, meine Hände erst recht und mein Gesicht kann sich der Sache auch nicht gänzlich entziehen.

Vielleicht wäre ich schöner mit mehr Geduld und weniger Moskitostichen in meinem Leben. Ich könnte so elegant sein, wie Lidia Aguilar aus „Las chicas del cable“ und mein Leben selbst in die Hand nehmen. In Netflixserien wie dieser, welche in den zwanziger Jahren spielt, sieht man nie, wie die Charaktere Sport machen oder sich um ihre Gesundheit kümmern. Vielleicht haben sie nie Sport gemacht und sahen trotzdem so schön aus. Oder eine körperliche Betätigung ist im Großen und Ganzen nicht verträglich mit eleganten Topfhüten und langen Mänteln, und noch weniger mit hochhackigen Schuhen und Nylonstrümpfen. Als ich klein war, dachte ich, ein Film repräsentiere das ganze Leben eines Menschen – jeden wichtigen Augenblick. Daher dachte ich auch, wie merkwürdig es sei, dass einige Charaktere nie schlafen oder essen, andere keinen Sport machen und niemand putzt je das Badezimmer.

Als ich 17 war, arbeitete ich in einem Café und die Damen dort fragten mich, was ich werden wollte. Damit meinten sie natürlich meinen Beruf und nicht mein Wesen. Wenn jemand fragt, was man werden will, ist nicht gemeint, was für ein Mensch man werden möchte, sondern was für eine Hülle – welchen repräsentativen Anzug man der Gesellschaft präsentieren möchte und natürlich nicht zu vergessen: wie man Geld verdienen zu gedenkt. Das geldverdienende Motto unterliegt allem. Es ist der Hintergrund aller zukunftsorientierten Fragen besorgter älterer Menschen, die einem das Beste wünschen und dabei die Forderung des absoluten Glücks mit der der finanziellen Stabilität vereinen. Meine Mutter hat immer gesagt: „Geld ist nicht alles“. Nun, natürlich ist es nicht „alles“. Nichts kann alles sein. Aber es ist sicherlich mehr als nichts. Nichts würde ja nun wirklich vermuten lassen, dass es sich um etwas vollkommen Belangloses handelt und davon kann bei Geld nun wirklich nicht die Rede sein. Immerhin ermöglicht das werte Geld einem die Möglichkeit, sich Freiheit zu kaufen – vielleicht nicht in jedem Land, wenn man eigentlich hinter Gitter gehört, aber für die freien Menschen bedeutet Geld Freiheit. Ohne Geld ist alles viel schwieriger und gewöhnlich sind die möglichen Optionen reduziert. Das heißt, Geld eröffnet Möglichkeiten. Wenn ich müde bin und mich um nichts kümmern will, kann ich mir ein teures Hotel in einer Stadt leisten, in der sonst mit normalen Bemühungen keine Unterkunft aufzutreiben ist, und es muss mich nicht stören, weil ich die Freiheit besitze, in dieser Hinsicht, zumindest für eine Nacht, zu tun und zu lassen, was ich will. Ist es nicht schön zu schalten und zu walten, wie man möchte? Ist das nicht der Reiz von Pippi Langstrumpf? Die Macht der zugegebenermaßen überschaubaren Welt Pippis Stadt liegt in den Händen eines Kindes, das zwar ihren eigenen Kopf, aber kein hartes Herz besitzt.

Mein Vorbild war Pippi Langstrumpf. Bei den Mottotagen zur Feier unseres Abiturs gab es einen Tag mit dem Titel „Helden der Kindheit“. Wahrscheinlich ist das wenig originell, aber es tut der Freude keinen Abbruch, wenn Lukas, der Lokomotivführer, Pippi Langstrumpf und weitere sich in der Cafeteria und dem Innenhof tummeln. Es bringt selbst unter den coolen, fast erwachsenen Teenagern eine Freude hervor, die nicht vergleichbar mit anderen Partys dieses Alters ist. Pippi Langstrumpf ist für mich weit weg. Es gab eine Zeit, da habe ich meine Haare orange angesprüht und mir Draht in die Haare geflochten und meines Erachtens das ganze Kostüm perfektioniert. Der Unterschied zwischen mir und Pippi ist, dass Pippi nicht desillusioniert war. Das klingt zwar recht dramatisch, aber man mache sich auf die Suche und finde einen Erwachsenen, der nicht in irgendeinem Bereich seines Lebens unter der Desillusion leidet, und siehe, was man findet. Es ist nicht schwierig zu erkennen, dass fast alle Menschen im Großen oder Kleinen an irgendeiner Stelle ihrer selbst eine Frustration in sich tragen, die den Kindern nicht und schon gar nicht Pippi inne war. Pippi glaubt an das Gute in der Welt und sie wird es nicht müde umzusetzen. Wer kann das schon über Erwachsene sagen? Gehört es nicht zum guten Ton in bestimmten Kreisen, eine Resignation an den Tag zu legen? So wie, wenn man sich über die Deutsche Bahn beschwert. Als guter deutscher Zugfahrer, der sich mit anderen Reiselustigen anfreunden will, bietet es sich an, ein Gespräch an einem kalten Bahnhof zu initiieren, das damit beginnt, wie spät die Züge „immer“ sind. Man muss fairer Weise dazu sagen, dass nicht jeder Zug immer zu spät ist, aber das eröffnet kein Gespräch, in dem sich Übereinstimmung finden wird. Es liegt also zu einem gewissen Grad in unserem Wunsch zur Gruppe zu gehören begründet, dass wir uns eine teils unzufriedene Grundstimmung aneignen müssen. Interessanterweise finde ich es ansonsten häufiger zu beobachten, dass sich Menschen zu Frohnaturen hingezogen fühlen. Weitere Ausführungen hierüber kann ich aus dem Grund, dass ich über keine ausgeprägte Frohnatur verfüge, nicht machen.

Wäre ich eine ausgeprägte Frohnatur, wäre mein Leben sicherlich recht anders und wenn es nicht anders wäre, würde es sich anders anfühlen. Ich konnte mich bisher damit rühmen, zumindest keinen starken Hang hin zu den Abhängen der Depressionen oder dauerhaften Verstimmungen zu verspüren. Aber zuletzt muss ich sehen, dass ich wanke und die leichte Verstimmung mich einzuholen versucht und ich nicht die Kraft verspüre schneller zu rennen als das schlechte Gefühl. Manchmal habe ich das Gefühl, es sei Zeit, dass es regnet. Wie schön ist es, in einem alten Steinhaus in den Bergen im Bett zu liegen und die Regentropfen auf dem Dach über einen landen zu hören. Früher konnte ich den Regen nicht ausstehen, außer ich war acht Jahre alt, es handelte sich um eine Sommergewitter und mein Bruder, meine Freundin und ich hüpften im strömenden, warmen Regen in den sich schnell anstauenden Pfützen der wenig befahrenden Wohnstraße auf und ab. Was für eine Freude es war im Badeanzug durch die regnende Welt zu springen und nicht einen Gedanken an Kälte oder Verkühlungen zu verschwenden. Später machte der Regen mich einfach nur traurig. Meine Oma pflegte in meiner Kindheit über das nasse Schauspiel zu sagen: „Der Himmel weint“ und ich finde, das ist eine eher traurige Anschauung. Jetzt sagt sie, die Erde brauche den Regen und er wäre gut für die Pflanzen, aber für mich bleibt etwas Trauriges am Regen hängen, so als wäre der Sonnenschein des Lebens unterbrochen.

Das Leben des Menschens und wahrscheinlich keiner lebenden Kreatur kann von andauernder Heiterkeit geprägt sein. Daher bin ich der Ansicht, der Kandidat, der sich mit seinem Regen am wohlsten fühlt, muss einer der Resolutesten sein. Ich muss dazu vielleicht hinzufügen, dass ich mich in keiner Hinsicht in einer großen Komfortzone mit meinem persönlichen Regen befinde und am liebsten den Regen weit hinter mir lassen würde. Es gibt Menschen, die sind mutig und es gibt Menschen mit einer ganzen Menge Anstrengung in ihren Körpern, um alles daranzusetzen, den Mut nicht demonstrieren zu müssen. Mein natürlicher Reflex macht mich Teil der zweiten Gruppe. Lieber unterwerfe ich mich dem Regime des Alltags als einen Tag durchzuweinen, was sicherlich auch damit zu tun haben muss, dass ich nicht weiß, wie man so viel weint und all diese Dinge sich selbst eröffnet, über die man weinen könnte. Wenn die Welt eins bräuchte, wäre es ein Tag des Weinens, an dem die Menschheit nichts tut, als über alles zu weinen, was des Weinens wert ist. Danach kämen wir zu einer Nüchternheit, die uns alle in einer Harmonie der Verlorenheit vereinen würde und so viele Probleme wären aus dem Weg geräumt. Wenn man geweint hat, sieht die Welt immer anders aus.

Ich bewundere Menschen, die weinen können. Es gibt so viele Dinge, über die ich weinen könnte, wenn ich nur wüsste wie. Mein Freund Mariano hat sich zwei Wochen auf einer spanischen Urlaubsinsel die Augen über seine frischgebackene Ex-Freundin ausgeweint, während er mit niemandem auf der Pferdefarm gesprochen hat. Was für ein Mut so einen Weg zu gehen. Ich hätte aus Höflichkeit mich dazu verpflichtet gefühlt, mit den anderen Menschen zu kommunizieren und meine potenziell herausdringenden Gefühle als ungewollte Zumutung für den Rest der Zivilisation gehalten. Was nicht raus kann, muss drinnen bleiben und was drinnen bleibt, muss mich beschweren. Ich kann dir nicht sagen, wie schwer ich mich fühle. Manchmal würde ich am liebsten nicht aufstehen und der Grund weshalb ich aufstehe, besteht darin, dass ich an einer mächtigen „Fear of missing out“ leide, besonders wenn die Sonne scheint. Dies ist nicht zu verwechseln mit der Freude fürs Leben und die Sonne. Stattdessen handelt es sich mehr um einen Zwang, glücklich sein zu müssen. Ich kann mir nicht erlauben, unglücklich zu sein und das liegt daran, dass das für „die meisten Menschen“ zu unbequem wäre. Wenn jemand einen fragt, wie es einem gehe, dann hat diese Person in den seltensten Fällen ein Interesse daran, vom inneren Regen zu hören und einige Fragesteller machen dies in ihrer Reaktion so deutlich, dass ich mich als Enttäuschung fühlen muss, mit keiner besseren Antwort habe aufwarten zu können. Ich weiß nicht, ob irgendjemand anders je so fühlt.

Was ich weiß, ist dass es jede Menge Menschen gibt, die sagen, was sie nicht denken, und sagen, was sie nicht fühlen. Dieser Umstand verleitet mich zu glauben, dass ich möglicherweise nicht die Einzige bin, die sich der gesellschaftlichen Glückszensur unterworfen fühlt. Vielleicht bin ich ein Monster unter meinem Schein. Manchmal glaube ich, dass je mehr Energie ich in meinen Schein stecke, das Monster in mir wächst, bis ich vielleicht irgendwann gar nicht mehr ich selbst bin und innerlich zu einem Diktator werde. Tatsächlich ist meine kindische Vorstellung die, dass ein Diktator daraus entsteht, dass man einen Menschen nicht hat sein lassen. Das setzt natürlich ein pippi-langstrumpfesques Weltbild voraus, in dem der Mensch an sich gut ist und nur durch äußere Zwänge böse wird – nämlich in dem Moment, in dem der Zwang das natürliche (und gute) Sein unterbindet. Ein Mensch, der selbst nicht sein darf, kann andere Menschen nicht sein lassen. Leben und leben lassen sollte unser aller Motto sein.

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©2023 Hannah Knaack-Völker
Alle Rechte vorbehalten

Gelobt sei der Herr!

Von Michael Wiedorn

Meine Kindheitstage sind erfüllt von ratlosem Hinstarren in Zimmerecken und einsamen Spielen auf einem Bucharateppich. Dunkles, kräftiges Rot läuft aus den Fransen. Die Mongolen fielen in Turkistan ein. Die Tage laufen grau in grau ins Leere. Der graue Rosshaarteppichboden, dessen harte Haare ich grase.
Der Wecker reißt mich aus einem Traum, in den ich wie in Brutwasser eingetaucht bin. Die spitzen Zeiger stechen mit grausamer Genauigkeit die Aufstehzeit an, in der ich das Ab- und Auftauchen in Traum und Bett verlassen muss und in den im Winter noch dunklen Tag gerissen werde. Es erwartet mich der Schulweg durch verregnete Straßen und in überfüllten Bussen und Straßenbahnen. Dann die zäh klebrigen, bis in die Unendlichkeit sich hinziehenden Unterrichtsstunden. Ich sitze und sitze und lasse den Wortschwall an mir vorbeiziehen. Es klingelt für die Pause und ich fühle mich frei, auch wenn die Freiheit nur zehn Minuten dauert. Ich packe ein Privatbuch aus dem Schulranzen und tauche für zehn Minuten in die Träume vor dem Aufwachen zurück. Das traumgrüne Sumpfwasser nimmt mich wieder auf. Auf dem Grunde des Wassers empfangen mich Nixen und in der Schlacht gefallene Ritter. Gewaltigen, stahlgerüsteten Körpern fehlen die Köpfe. Es wird der Tag kommen, an dem der Sumpf mich nicht mehr freigeben wird. Dem blendend weiß getünchten Saal mit Eisenbetten fehlen die Türklinken. Ich bin in die Träume fixiert.
In den Pausen und an den Nachmittagen, wenn ich meine Schulaufgaben recht und eher schlecht oder meistens garnicht erledigt habe, nehmen mich Märchen, Sagen und Geschichtsbücher gefangen. In eine Welt, in der Könige aus Geschlechtern, die aus dem brennenden Troja entflohen sind oder aus noch älteren Zeiten von Nil und Euphrat und der Entstehung der Welt stammen, Macht über Leben und Tod haben. Der König lässt den Untergebenen köpfen und lässt den Kopf auf einen Spieß stecken. Der König lässt den Sklaven bei lebendigem Leibe bis zum Hals in der Erde begraben und der einsame Kopf wird im Sand qualvoll verhungern und verdursten. Die Macht des Vaters ist unendlich. Die Strafe des Vaters ist furchtbar. Meine Mitschüler hassen und verachten mich und meiden jede Berührung mit mir. Der Kaiser lebt in einem Schloss mit wehrhaft zackigen Zinnen und einem Kosmos riesiger Säle. Ich liebe die Knechtschaft. Ich liebe die Grausamkeit. Ich bin einsam. Im Spiegelsaal meiner Wahngebilde verliere ich mich. Fieberhaft fahnde ich nach den Regierungsperioden der Herrscher. Eine unbefleckte Empfängnis brachte mich zur Welt. Der Kaiser gibt mir einen Boden. Der erste Kaiser Europas war Augustus 31 vor Christus. Bis 1917 stand Russland unter der Knute des Kaisers. Gold, Rubinen, Smaragde der Krone funkeln. Die blutig schneidenden Brillanten glitzern. Die Krone ruht hinter Panzerglas, dem alltäglichen Zugriff entzogen, auf einem purpurnen Samtkissen. Die Krone ist ein Ding wie Klobürsten oder Zahnstocher. Die Krone ist kein Ding, sondern eine Kraft, die ganze Völker verzaubern und verbluten lässt.
Der Vater gibt dem Sohn die Kraft seines Schwertes weiter. Ein Tier gibt die Kraft der Väter an die Nachkommen weiter. In der Mitte des Labyrinthes steht ein Mann mit Stierkopf. Im Wüstensand ruhen Löwen mit Menschenköpfen. Ein Mann mit Schakalskopf steht mit einer Waage unter der Erde.
Es ist Spätsommer. Die letzten sonnenüberstrahlten Tage im September. Ich lese ein Buch über die Sumerer und die Babylonier. Im Haus meiner Mutter arbeitet der Maler und es riecht leicht käsig nach Farbe. Die Wände werden weiß gestrichen. Das flirrende Blau des südlichen Himmels und der Sand der Wüste und des Gebirges, unter dem Marduk und Gilgamesch, Ninive und Ur verborgen liegen und irgendwann zu Tage treten werden.
Die Leere lähmt mich und ich habe nie verstanden, was mich lähmt. Die Archäologen graben aus tiefen Erdschichten etwas, das die Menschen vergessen wollen.
Es wird die Menschheit vernichten.

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© 2023 Michael Wiedorn (Text & Bild)
Alle Rechte vorbehalten

Wir werden alle jung sein

Von Michael Wiedorn

Wir wollen in dieser Stadt leben. Ja, wir wollen hier bleiben. Der Mietvertrag ist schon unterschrieben. Die Tinte ist noch feucht. Ja, hier bleiben wir. Wir sind alle da. Sitzen gemütlich im Grünen zwischen den Krokussen und küssen uns. Diese neue Stadt auferstanden aus Gewittern. Oh, wir Ärmsten! Die Mutter spürt uns nicht und schleckt ihr Eis. Ihre Zunge ist genüsslich gerollt und streckt sich dann bis zur Frostkälte des Eises vorwärts und rollt sich dann mit einem erhaschten Stück des Leckerbissens wieder zurück. Ein ganz kleines Stückchen Eis und sie schluckt es. Sie sitzt in der Sonne – inmitten der Blüten und freut sich über den abgeschlossenen Mietvertrag.
Für sie beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt. Ein ganz neues Leben. Sie bricht mit allen ihren alten Lebensgewohnheiten, dabei ist sie schon so alt. Sie hat ihre Jugend schon längst vergessen. Weiß und grau wie die Steinzeit.
Eine Dreizimmerwohnung . Balkon auf der Südseite. An heißen Sommertagen wird die Butter schmelzen. Sie wird wieder jung sein.
Unsere Mutter ist jetzt ein ganz anderer Mensch. Der alte Mensch ist in seine Gewohnheiten einbetoniert und wird immer grauer und verfallener durch die täglichen, immer wieder wiederholten Gewohnheiten. Andere Sitten. Ein anderer Mensch!
Sie sitzt jetzt da und leckt an ihrem Eis und hofft, dass ihr schlohweißes Haar erblondet, dass ihre leichenbleiche Haut sich bräunt wie die der tollenden Jugend am Badestrand.
Die fremde Stadt breitet sich aus mit ihren Verlockungen, von denen sie sich gerne verführen lassen will. Ja, das will sie! Unbedingt!
Die Wochen vergehen, die Monate, die Jahre werden verstreichen. Sie wird ihren Gewohnheiten nachgehen. Grau und weiß. Auch neue Gewohnheiten werden irgendwann alt.
Die Mutter wird noch älter sein und die neue Wohnung hassen.
Der Blitz schlägt in die neue Behausung ein. Die Alte wird einsam und verbittert im Grünen sitzen und kein Geld und keine Lust für Eis haben. Starr und kalt! Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.
Gewitter ziehen ab und alles bleibt wie immer.

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© 2023 Michael Wiedorn (Text & Bild)
Alle Rechte vorbehalten

Kinder kommen in den Bauch (1)

Von Michael Wiedorn

Die weiß-blaue Straßenbahn fährt unter einem grauen Winterhimmel die Schellingstraße nach Norden. Während meiner Münchenaufenthalte verbrachte ich den größten Teil des Tages im Schlafzimmer der Wohnung meiner Mutter und las und las und ließ mich in die Trägheit fallen. Ein kleines Kind lässt sich in die sanften Arme seiner Mutter fallen. In den letzten Jahren vor ihrem Tode fuhr ich auch Ende Oktober nach München zu ihrem Geburtstag. Weder am Himmel noch in mir schien die Sonne, sondern dunkle, graue Wolken zogen über die kahlen Bäume und Sträucher. Nach einer langen Bahnfahrt kam ich im Dunkeln auf dem Hauptbahnhof an. Durch die unterirdischen Ebenen des Hauptbahnhofs irrte ich immer die selben Wege hin und her, bis ich die U-Bahn Richtung Feldmoching fand. Ich fuhr mit der U-Bahn bis zum Hohenzollernplatz. Nachdem ich ausgestiegen war, kam ich immer beim falschen Ausgang aus dem U-Bahn-Labyrinth ans Tageslicht Schwabings und lief dann die ausdruckslosen, sterilen Hausmauern entlang, bog eine Straße ein, am Hotel Hotello vorbei, die Zittelstraße rein. Ich öffnete das nach innen schwingende Eisengittertürchen zum Wohnblock, in dessen Erdgeschoß die Wohnung meiner Mutter lag. Nach vielen Monaten suchte ich wieder den Schlüssel um die Haustüre zu öffnen. Es hat sich nichts geändert. Eine verglaste Haustüre. Links die Briefkästen, rechts die Steintreppe zu den oberen Stockwerken. Geradeaus der Lift. Nach vielen Monaten war ich wieder hier. Wenn ich im Winter ankam, fühlte ich die nur halb verhohlene Freude, die nächsten Wochen und Monate im bequemen Sumpf meiner Faulheit zu versinken. Hier hielt ich mich meistens vom Januar bis zum März auf. Viele Tiere ziehen sich im Winter in eine Höhle zurück um zu schlafen. Diese Monate leben sie garnicht richtig, sondern lassen sich in Träume versinken. Die Stimmung in der Wohnung war immer gedämpft bis traurig. Der stille Wohnort eines Menschen, der nichts mehr vom Leben erwarten kann. Ein Wartezimmer zum Altersheim. Ein Wartezimmer zum Friedhof. Die Wohnung lag im Erdgeschoss und tagsüber fiel der Blick auf eine Grünfläche und auf Wohnblocks aus den frühen Sechziger Jahren. Der Anblick eines nüchternen Krankenhauses oder eines Pflegeheimes. Meine Mutter war immer sehr stolz auf ihre Nüchternheit. Ein breiter, gepflasterter Weg führte durch den Rasen zu der exakt gleichen Haustüre wie die Unsere. Ganz selten sah ich Leute auf diesem Weg. Mitten im Rasen ragte eine Eiche weit in die Wolken hinauf. Im Schlafzimmer blickte ich manchmal vom Buch aufwärts den riesigen Baum hoch und sah den Krähen, die in den Himmel flogen, nach. Der grau-weiße Himmel dehnte sich bis in die fernsten Weiten aus. Die Krähen und die Wolken zogen so weit hoch oben, dass sie von den Städten und Ländern tief unter ihnen nichts wahrnahmen. Meine Wohnung in Berlin-Kreuzberg, die ich den überwiegenden Teil des Jahres bewohnte, wurde im Winter mühevoll mit Kohlen beheizt. In der knackigen Januar- und Februarkälte, wenn die Fensterscheiben unter Eisblumen vergraben waren, hätte ich zweimal zehn Stück Kohle in den Ofen schieben und mit Streichhölzern anzünden müssen. Das Appartement meiner Mutter wurde mit Zentralheizung geheizt. Die Zentralheizung birgt unter seinen gewaltigen, unappetitlich warmen Titten das nackte, allein nicht lebensfähige Baby, das geil an den Nippeln die warme Milch saugt. Ich werde nie in die Welt hinaustreten, sondern ich werde mich immer tiefer in die Bauchhöhle hineinbohren.
Meine Mutter saß in ihre Leere und in ihren zusammengeschnürten Ichpanzer vergraben den ganzen lieben Tag vor dem ständig laufenden Fernseher, dessen Sendungen sie immer weniger wahrnahm und verstand. Was lief durch ihre Hirnwindungen? Wahrscheinlich immer wirrere Erinnerungsfetzen aus ihrem verflossenen Leben. Aus ihrer Jugend.
Ich saß alleine im Schlafzimmer auf einem österreichischem Empiresessel in Bücher vertieft. Ich lebte in München völlig vereinsamt und ereignislos wie ein todkranker Greis. Ich war in die Traumbilder meiner Lektüre eingesperrt. Kinder leben in Träume und Märchen weggesperrt. Die wie Pralinen süßen Küsse von Elfen und Feen verschließen für immer die Lippen des Kindes. Eine liebevolle Hand drückt das Köpfchen des Kleinen in den giftgrünen Sumpf, bis es für immer verschwindet.
Bei der Ankunft aus Berlin schloss ich öfters möglichst lautlos die Wohnungstüre auf. Ich horchte, bevor ich den Schlüssel ins Schloss steckte, ob der Fernseher laut aus dem Inneren der Wohnung dröhnte. Das Schloss gab nach und ich sah vom Flur aus, dass meine Gastgeberin wie immer träge und gleichgültig vor dem Fernseher saß. Ich blickte vom Türstock aus auf meine Mutter, die entweder unbeteiligt auf den Bildschirm schaute oder irgendwo anders hin. Ich wusste nicht, ob sie innerlich völlig leer von Gedanken und Gefühlen war oder in Erinnerungen versunken war. Sie war da, aber wie eine Hülle, die nur eine hohle Abwesenheit umkleidete. Lautlos bewegte ich mich in die Küche, um in den Eisschrank zu blicken, was zum Essen da war. Meistens war der Eisschrank leer. Im Flur zog ich ohne Licht zu machen die Schuhe aus und ging auf Socken ins Schlafzimmer und sah mich hier gezwungen doch die Deckenbeleuchtung anzuschalten, um im Kleiderschrank nach meinem Schlafanzug zu suchen und mich umzuziehen. Als wäre ich nie weggewesen, erschien ich umgezogen im Wohnzimmer um der alten Frau gegenüberzutreten. Ich erwartete jedesmal, dass die Demente nicht merkt, dass ich die letzten Monate abwesend war und nur eben aus dem Zimmer trat, als wäre ich schon lange da. Sie taumelte in den Nebeln ihres Selbst und mir schien, als wüsste sie nicht welchen Monat und welche Tageszeit wir haben. Sie fiel nie darauf rein, beziehungsweise verschwand sie nie in das Ahnenalter, in dem Gegenwart und Vergangenheit restlos ineinander verschwimmen. Sie sah es als meine Marotte an, dass ich, bevor ich sie begrüßte, heimlich ins Schlafzimmer schlich um mich umzuziehen. Gehen wir noch in ein Restaurant in der Nachbarschaft? – frug ich sie. Sie musste sich natürlich richtig anziehen. Einen Schweinebraten mit Kartoffelknödeln. Sie zog ihr schlampiges Hauskleid aus und zog ein sauberes Kleid und einen warmen Mantel an. Sie legte immer großen Wert darauf ihre Lippen mit Lippenstift purpurn anzumalen. Sie zog sich mit viel Mühe ihre Winterstiefel an. Ihre Füße waren immer feuerrot und mit Wasser angeschwollen. An einigen Stellen waren sie sogar bläulich-violett! Wir waren jetzt fertig und schlossen die Türe ab. Sie sah zu und rüttelte nochmals zur Sicherheit an der Türe. Fremde könnten in das Heim eindringen und es mit ihrer Fremde verseuchen.
Die Gaststätte war nicht weit, aber meine Mutter trippelte so langsam, dass der Fußweg länger dauerte, als die ganze Bahnfahrt von Berlin nach München. Auch Schnecken erreichen ihr Ziel. Die Langsamkeit meiner Begleiterin war nicht nur durch das Alter bedingt. Langsamkeit gehörte, seit dem ich auf der Welt bin, zu ihrem Wesen. Ihre Zeit floss nicht, sondern verklumpte zu einem zähen Brei. Das eine Jahr unterschied sich nicht vom vergangenen Jahr. 1980 unterschied sich nicht wesentlich von 2015 oder 1970. Sie ist zwischen 1964 und etwa 1970 erstarrt. Nur die Altersfäulnis schritt voran. Irgendwann wird der Faden reißen und sie wird nie wieder vom Beweglichen und von irgendwelchen Verwandlungen bedroht. Im Herbst und Winter war der Weg zur Gastwirtschaft entweder vom Laub oder von Schnee oder Eis rutschig. Ich mied es meine Mutter am Arm zu führen. Ich mied jede allzu enge Berührung. Ich lief voran, blieb stehen und blickte zu ihr zurück und wartete auf sie. Ich legte großen Wert auf Abstand zu ihrem Körper.
Nach überstandenen Kämpfen und Mühen erreichten wir das Restaurant. Ein klinisch weiß gestrichener Raum mit dunklen Holzmöbeln. Das Publikum bestand aus arrivierter, karrierebewusster, reifer Jugend bis etwa vierzig. Gehobener Mittelstand, der sich überwiegend über Geldanlagen oder den Kauf von teuren Konsumartikeln unterhält. Kühle, professionell freundliche und unscheinbar hübsche Kellnerinnen mit gefrorenem Lächeln für die zahlenden Gäste. Wir bestellten und warteten dann. Wir wussten nicht, was miteinander sprechen. Es war im verflossenen Jahr nichts von Bedeutung geschehen. Mein Gegenüber sah sich als betont sachliche und nüchterne Geschäftsfrau, die sich am liebsten über Geldanlagen oder Einkäufe unterhält. Wir hatten nichts zu sagen außer Floskeln oder Plattitüden. Ich nahm die nicht zu Ende gelesene Lektüre aus meiner Jackentasche und versank bis zur Ankunft des heiß ersehnten Schweinebratens in den Träumen der Literatur. Die Atmosphäre und die Leute im Lokal langweilten mich. Die anbiedernde, aber eiskalte Freundlichkeit und Sachlichkeit einer Bankfiliale. Meine Tischgenossin versank beleidigt in sich selbst und zog eifrig und sog an ihrer Zigarette. Nach dem Essen ging es den selben Weg zurück nach Hause.
Ich schlief auf einer zerschlissenen Matratze auf dem Teppich im Wohnzimmer, von der aus ich bequem fernsehen konnte. Nachts versank ich in den Blutspuren zwischen vermoderten Mauern Brooklyns. Ich saß in Luxuslimousinen neben hohen Tieren des CIA oder des KGB. Ein gefährlicher Serienmörder trieb sein Wesen in den finsteren Straßen Sohos. Die Wohnung meiner Mutter lag im Erdgeschoß und die Biedermeiermöbel im Wohnzimmer flackerten im Helldunkelgeflimmer des Fernsehers. Ein bösartiger Fremder schlich sich in die Wohnung und wartete in einer verborgenen Ecke mit dem Messer auf mich. Der Eiffelturm im Frühling flackerte in Schwarz-weiß. Eine samtäugige Fee im Diorkleid schlenderte durch barocke Säulengänge.
Als Kind saß ich mit meiner Mutter und einer Freundin im Café Anast im Hofgarten. Die gelben, klassizistischen Kolonnaden um den Hofgarten bargen elegante Boutiquen und teure Antiquitätenläden. Stundenlang quälte mich die tödlichste Langeweile unter den Kristalllüstern in neorokokommoden Modesalons. Goldglänzende Seidentapeten. Meine Mutter schmiegte sich in Nerzmäntel, in Leopardenmäntel. Die geschmeidige Kraft des Leoparden wurde mit Kugeln erlegt. Das Raubtier wurde geopfert um schwächlichen Frauenkörpern das Aussehen und die Kraft der Raubkatzen zu verleihen. Die samtäugige Schöne schmiegt sich in die Arme Alain Delons.
Bis tief in die Nacht sah ich fern bis die Müdigkeit meine Augen zudrückte. Ich machte dann den Fernseher aus und fiel in das mir fremde, aber doch heimische Dunkel weit unter dem Esstisch auf der Matratze auf dem Buchara, den mein Urgroßvater aus dem zaristischen Usbekistan nach Deutschland mitgebracht hatte. Ich schlief ein und Wüstenstaub verhüllte hoch aufragende Minarette. Wenn ich plötzlich erwachte, war ich in der ersten Nacht nach meiner Ankunft aus Berlin ganz verwirrt. Ich schlug die Augen auf. Wo bin ich? Ganz tief drunten im Dunklen.
Am Morgen erwachte ich. Durch die Ritzen der Rollläden sickerte manchmal schon soviel Licht, dass ich ganz undeutlich die Umrisse der Möbel erkannte und erst in der Küche um den Kaffeekocher mit Wasser zu füllen Licht machen musste. Wenn ich schon um sieben oder acht Uhr aufwachte und aufstand, war es im Januar noch so dunkel, dass ich mich von der Matratze bis zum Lichtschalter direkt neben der Zimmertüre durch das tiefe Schwarz der Nacht kämpfen musste. Vielleicht bin ich garnicht in der mir vertrauten Wohnung aufgewacht sondern in einem fremden, mir feindlichen Raum? Vielleicht stehe ich in einer riesigen, finsteren Halle? Ein Blinder ist hilflos der Wut der Gegenstände ausgesetzt. Das unsichtbare Türholz wird mir hasserfüllt gegen das Nasenbein schlagen. Mitten in der Nacht hat sich der Fußboden aufgelöst und ich stürze tief in die Keller und noch weiter in die Unendlichkeit des Weltalls. Ein Raumschiff fällt mitten während der Fahrt auseinander und die Astronauten fallen und fallen. Es gibt keinen Boden.
Ich drückte auf den Lichtschalter und es war hell. Sofort eilte ich in die Küche und nahm den Kaffeekocher. Am Waschbecken ließ ich den ersten Schwall Wasser in den Gully fließen, damit das kalkige Wasser abfloss. Ich drehte den Hahn auf heiß und ließ das Wasser in die Kanne fließen. Die weißen Kalkfladen werden sich nicht in meinen Adern und meinen Hirnwindungen ablagern. Von Kalk besetzte und verstopfte Adern hindern das Blut am Fließen. Der Kalk setzt sich im Hirn fest und die Welt färbt sich hellgrau ein und der Gedankenfluss fängt an zu stocken und wird bröckelig. Die Motorik wird sperrig und immer langsamer. Die Gesichtszüge verlöschen und die Person erstarrt zu einer unförmigen Kalksäule. Wenn die Kanne mit Wasser gefüllt war, drückte ich auf den Knopf, damit das Wasser zu kochen anfängt. Ein leuchtend rotes Licht blinkte auf. Ich ließ die Jalousie vor dem Küchenfenster hochgehen und das tiefe Dunkelblau der winterlichen Morgendämmerung färbte den Himmel über München. Jemand verließ das Haus gegenüber und lief auf dem verschneiten Weg zum Fahrradständer, an dem unzählige nebeneinander gestellte Fahrräder auf ihre Benutzung warteten. Aus der sonst baumlosen Grünfläche erhob sich das im Morgengrauen klobige Schwarz einer riesigen Eiche, deren viele Äste sich weit oben in den Wolken verzweigten. Das tiefe Indigoblau des Himmels. Aus einer anderen Wohnung strahlte gelb das elektrische Licht. Zu dieser Tageszeit bereiteten sich die meisten Menschen für den Arbeitsweg vor. Ich werde heute zu Hause im Warmen bleiben oder erst später am Nachmittag das Heim verlassen. Am frühen Morgen ist der kalte Wind noch schärfer und kälter. Die Busse und Straßenbahnen sind überfüllt mit grämlichen und mürrischen Fressen. Weit oben flog ein Schwarm Vögel. Ich wartete auf das Kochen des Wassers. In den Trichter der Porzellankanne gab ich sechs Teelöffel Dallmayerkaffee. Ich muss erwachen. Das torfbraune, lösliche Kaffeepulver versprach mich zu erwecken. Aufwachen! Ein schreiend rotes Licht brannte in meine Träume. Der Kaffeekocher begann zu brummen. Das Wasser sprudelte heiß. In Geysiren brodelt siedend heiß das Wasser aus der Erde. Tiere und Menschen würden qualvoll verbrennen. Ich drückte auf den Knopf und das Brodeln des Wassers wurde schwächer. Der Mensch rächt sich an der Natur für seine immer wieder erlittene Ohnmacht, in dem er sie für seine niederen Zwecke in Dienst nimmt. Das ruhig gestellte, aber noch siedende Wasser schüttete ich in den Trichter über die erdigen Kaffeebrocken und der heiß dampfende Sumpf stieg in die Höhe. Der würzige Duft von Dallmayerkaffee.
Als Kind lief ich unter den Gewölben der Dallmayerverkaufsräume in Begleitung meiner Mutter um eine Weihnachtsgans zu erstehen. Es roch nach geröstetem Kaffee, nach frischem, rohem Fleisch, nach Gewürzen. Fleisch hing von den Decken und lag auf den Theken. Ein leicht scharfer Geruch regte den Appetit an.
Aus dem Schlafzimmer rief die Stimme der Wohnungsinhaberin, ob sie aufstehen soll und uns Kaffee machen soll. Die gute Mutter versorgt ihr liebes Kleines, das hilflos und untätig auf Hilfe wartet. Ich sagte ihr, dass sie ruhig weiter schlafen soll. Es ist noch tiefe Nacht – sagte ich. Vor dem Fenster ist alles noch in undurchdringliches Schwarz gehüllt – eine kalte Winternacht – behauptete ich. Ich wollte die nächsten ein oder zwei Stunden allein bleiben. Allein mit meiner Bahnlektüre, die ich noch nicht fertig gelesen habe. Der Winter 2007 war ein Dostojewskiwinter. Der Neurenaissanceturm des Bayrischen Nationalmuseums verband sich mit den „Weißen Nächten“. Der Spätherbst und Winter 2007/2008 war ein Sloterdijkwinter. Ich saß im Keller unseres unrenovierten Fürstenrieder Reihenhauses und las dort über „Weltfremdheit“. Die weißen Betonwände. Vor den Fenstern war es stockduster und wehten die Winde. Unser damals unbewohntes Haus wurde damals totalsaniert. 2015 war ein Umberto-Ecco-Winter. Die die Schellingstraße fahrende Straßenbahn verband sich mit den Geheimnissen des Tempel-Ordens. Bei diesigem Winterlicht las ich von den Protokollen von Zion und dem Friedhof von Prag. Ich goss jetzt am Morgen in der Küche Kaffee in eine Tasse und trug sie ins Wohnzimmer um sie auf eine Kachel neben der Matratze zu stellen. Meine Mutter lag unterdessen im Dunkel und ließ sich in die weißen Daunen des Schlafes abtauchen. Manchmal stand sie kurz nach 9 Uhr auf und bisweilen etwas später, selten lag sie bis tief nach Mittag im Bett. Was konnte sie besseres machen mit dem sich unendlich hinziehenden Tag, als möglichst lange zu träumen und zu schlafen. Wach wartete sie und wartete und erwartete nichts. Das Tageslicht draußen wurde immer heller. Ich saß im Schneidersitz auf der Matratze und las. Durch den durchsichtigen Vorhang blickte ich auf die cremefarbenen Mauern des gegenüberliegenden Wohnblocks. Es begann der graue Alltag eines Krankenhauses oder eines Pflegeheimes. Nach 9 Uhr rief die brüchige Stimme: „Wie spät ist es?“ Ich hörte, wie etwas gegen Holz tappte und das Licht neben ihrem Nachttischchen anknipste. Meine verträumte Einsamkeit war beendet. Das Schlafzimmer, in dem meine Mutter in der Nacht geschlafen hatte, war tagsüber mein Aufenthaltsraum. Am Boden lag ein gelb-blauer chinesischer Teppich. Ein Bücherregal, rechts und links davon zwei blaubezogene Empiresessel. Auf dem Sessel vor dem Fenster werde ich ab jetzt sitzen und lesen. Das Bett, in dem meine Mutter nachts schlief, stand an der Wand, die an die Küche grenzt. Beherrscht wurde das Zimmer von einem großen, ehemals weißen, im Laufe der Zeit vergilbten Kleiderschrank. Über dem Bett hing ein Bild wohl von 1900. Ein fetter, nackter Faun saß in einer sattgrünen Frühlingslandschaft. Durch die Auwälder schlängelten sich zahlreiche Bäche und Rinnsale. Alles war feucht und fruchtbar. Weiden und Sträucher. Der Faun saß an einem Bach und flötete. Bockshörner auf der Stirne zeigten ihn als Teufel. Ein nacktes, schläfrig passives Mädchen streckte sich lüstern neben ihm aus. Sie rührte sich nicht. Sie hielt die Augen geschlossen. Leichenblass war die Haut über ihrem schlanken Bauch und ihren üppigen Titten. Ein hämisches Grinsen lag auf der Fratze des Satyr.
Auf der gegenüberliegenden Wand zwischen Bücherregal und Kleiderschrank hing mit vergoldetem Rahmen eingefasst ein kleines, schmallippiges Mädchen von etwa vier Jahren in einem weißen Spitzenkleidchen aus dem späten Biedermeier. Goldene Löckchen. In der linken Hand hielt sie eine grüngekleidete Puppe. Das Kind hatte schon sein eigenes Kindchen. Beide tauchten aus dem vergilbten Weiß des Papiers auf, als würden sie aus der Eis- und Schneewüste des Todes in die Gegenwart des Biedermeiers eintreten.
Ich räumte mein Lager – die Matratze mit Bettwäsche – aus dem Wohnzimmer ins Schlafzimmer hinüber. Meine Mutter hatte ihr Tageskleid angezogen und holte ihren Aschenbecher aus der Küche, um im Wohnzimmer zu rauchen. Sie rief zu mir: „Meine Minna sieht mich nicht! Meine Minna kennt mich nicht!“ Ich mied jede engere Annäherung an sie. Ich mied und fürchtete jede Nähe zu ihrem alltäglichen, immer selben Alltagstrott. Sie konnte ihren Leerlauf nicht alleine durchstehen und versuchte immer wieder mich in ihr Vakuum reinzuziehen. Wir hatten jetzt die Zimmer gewechselt. Sie saß alleine im Wohnzimmer auf einem Stuhl am Esstisch. Ich saß alleine im Schlafzimmer auf einem Sessel am Fenster. Vom Fenster aus überblickte ich die öde Grünfläche und den gegenüberliegenden Wohnblock. Ganz am Rande sah ich noch auf die Straße. Meistens tauchte ich in meiner Lektüre ab. Es war jetzt Vormittag und das Dunkel von Nacht und Morgendämmerung war endgültig verschwunden. Das hellgraue Licht eines Vormittages. Manchmal brach die Sonne durch die dichte Wolkenmauer.
Am ersten Tag nach meiner Ankunft durfte ich mich nicht in meine Verträumtheit fallen lassen. Es war der letzte, der allerletzte Termin um die Papiere für die Steuererklärung beim Steuerberater abzugeben. Ich musste noch zu Plus am Hohenzollernplatz oder anderswo um Essen einzukaufen. Meistens hatte ich, bevor meine Mutter aufgestanden war, die nötigen Papiere zusammengesucht und in eine Plastiktüte gesteckt. Im Brutwasser durfte ich tauchen und schwimmen und träumen. Der Embryo schwimmt nackt mit dem Daumen im saugenden Mund umhegt von warmem Nass. Fische haben Saugnäpfe. Jahresabrechnungen von Hausverwaltungen, Handwerksrechnungen, Krankenkassenbescheinigungen und so weiter. Ich rief beim Steuerberater an und erklärte, dass ich die Papiere für die Steuererklärung vorbeibringen würde. Bis 17 Uhr wäre jemand da, ansonsten könnte ich den Briefkasten verwenden. Kurz nach Heiligdreikönig ist der Himmel vergrämt. Am Nachmittag werde ich die Belgradstraße hinauflaufen. Beige und graue Hausmauern. Porsches und Volvos werden am Straßenrand im Schneematsch warten oder auf dem freigeräumten Asphalt fahren. Die Straßenbahn wird gelangweilt über die nördliche Leopoldstraße klingeln. Gelangweilte Fahrgäste werden gelangweilt auf die Straße glotzen. Es gibt einfach nichts zu sehen, dass die Menschen aus der Schläfrigkeit reißen könnte. Ich werde an Restaurants vorbeikommen. Italienisch, afghanisch, chinesisch. Ein schäferhundgroßer, bunter Porzellanlöwe mit gefletschten Porzellanzähnen wird die Passanten zu Chop Suey und Glasnudeln einladen. Alles ist weder traurig noch heiter. Ein nie endenwollender Alltagstrott mit Endlosschleife. Nach dem Gespräch mit der Sekretärin des Steuerberaters verzog ich mich ins Badezimmer. Meine Mutter sog an ihrer Zigarette und sah mir enttäuscht nach. Sie war während meines Besuches genauso einsam wie ohne mich. Die Geräusche fremden Lebens drangen aus dem immer laufenden Fernseher und überdröhnten die sonst alles betäubende Stille. Wann gibt der Fernseher den Geist auf und alles ist still? Die Möbel im Zimmer starren die Insassin stumm an und ihr Körper verholzt zu einem weiteren Möbelstück. Ich putzte mir die Zähne und mein Gesicht. Das Badezimmer war voll mit verschiedenen Waschlotions. Ich ließ das Badewasser ein und schüttete Fichtengrün in das aufschäumende Wasser, das langsam, viel zu langsam anstieg. Das Wasser verfärbte sich türkisgrün. Es roch wie ein Fichtenwald. Die Städte und Straßen und Äcker sind auf den Leichen versunkener Wälder gewachsen. Nirgendwo erreichte die Sonne den feuchten Erdboden. Tief unten auf dem Grund sah man die Hand vor den Augen nicht. In Moor und Moose aufgelöst. Das Wasser in der Badewanne ist knapp unter den Wannenrand angestiegen. Ich war begierig ins Warme einzutauchen. Im Wasser zu ertrinken soll fast so qualvoll sein wie zu verbrennen. Die Lunge wird überschwemmt. Das Wasser dampfte. Ich zog mich aus, hielt ganz vorsichtig meinen Fuß ins warme fast heiße Nass. Ich setzte mich mit dem aufgerichteten Oberkörper auf den Wannenboden. Es war zu heiß um sich bequem auszustrecken. Ich ließ etwas kaltes Wasser ein. Das kalte Glänzen des Wasserhahnes erinnerte mich an Operationsbesteck. Ein scharfes Skalpell schneidet dem Patienten die Bauchdecke auf. Jetzt war die Temperatur immer noch sehr warm, aber angenehm. Ich schloss den Hahn zu und lehnte mich zurück. Ich ruhte im ruhigen, warmen Feuchten wie eine Kröte im Tümpel. Mein Blick glitt die blassblauen Kacheln hoch. Auf den hellblauen Flächen konzentrierte sich an einigen Stellen das Blau zu etwas dunkleren Klumpen. In manchen Wassern schweben Erdklumpen. Alle Zimmertüren waren weit geöffnet. Im Bad brauchte ich meistens kein elektrisches Licht, weil das Tageslicht aus den anderen Räumen das Bad erhellte. Ich hörte Stimmen. In der Wohnung ertönten fast nie lebende Stimmen von atmenden, gegenwärtigen Lebewesen. Das nervöse, hysterische Flackern der nie endenden Fernsehbilder bildete das abwesende Leben ab. In der Wohnung liegt eine noch nicht gefundene Leiche. Die Stimmen in der Glotze waren laut und klar verständlich. Eine vermutlich junge Frau erklärte wohl wahrscheinlich irgendeinem Kriminalkommissar ihre Beziehung zu irgendeinem Dr. Berger. Liegt seine Leiche hier im Wohnzimmer? Statt auf das Gesicht der Frau schaute ich auf die neben der Wanne stehende Kloschüssel. Das Weiß des Porzellans war etwas angegilbt. Die Klobrille hatte im Laufe der Jahrzehnte ihr Weiß verloren und war jetzt von einem schmutzigen Gelb. Der Klodeckel hatte sich schon vor einigen Jahren von der Brille gelöst und stand jetzt lose vor dem Spülkasten. Beim Scheißen musste man immer aufpassen, dass der Deckel auf den Boden kracht. Das Haus war kein richtiger Altbau, aber wurde schon Anfang der Sechziger Jahre gebaut und hatte schon deutliche Verschleißerscheinungen. An der Seite der Wanne war ein abzunehmender Deckel, unter dem es ins Unterirdische der Wanne ging. Ein lichtloser, düsterer Bauch voller Rohre und nasser Spinnweben. Wann erscheinen die Ratten? Ich sah jetzt, dass sich zwei Kacheln sich von der Wand zu lösen begannen. Im tiefsten Dschungel steht eine vor vielen Jahren aufgegebene Villa. Die Bäume wachsen schon durch das Dach. Im Badezimmer haben sich viele Fliesen von den Mauern gelöst und liegen zerbrochen auf dem mit schwarzen Pfützen verschmutzten Boden. Ins Bad ist tief grünes, fichtengrünes, dick brackiges Wasser eingelassen. Welches, vereinsamte Ungeheuer nimmt hier sein Bad? Die Titelmusik eines Fernsehkrimis erklang. Die Geräusche von Autoreifen quietschten. Die Stimme einer Schauspielerin, die eine Nutte mimte, schrie entsetzt. Das Tageslicht bekam jetzt eine sonnige Tönung. Ich stieg aus dem Bad, ließ das Wasser aus, trocknete mich ab und ging in die Küche um mir eine Toblerone zu holen. Ich öffnete die gelbe, längliche Schachtel, zupfte das Silberpapier ab und das dunkle Braun der Schokolade erschien. Meine Mutter mochte es nicht, wenn ich mich an ihrem Vorrat an Toblerone vergriff. Sie fürchtete sich vor dem Tag, an dem sie den Küchenkasten öffnet und es ist keine einzige Toblerone vorhanden. Der glorreiche Moment am Tag, in dem sie zum Küchenkasten ging, ihn erwartungsvoll und lüstern öffnete, die Schokolade herausnahm, sie aus ihrer Verschalung und Umhüllung befreite und sie dann mit dem Messer in winzige, leicht verdauliche Stückchen schnitt, war der Höhepunkt des Tages. Der Glanz und Sonnenschein im grauen Einerlei des Tages. Ein kleines Kind bekommt von seiner Mami zur Belohnung, weil es so brav war, einen leckeren Schokoriegel. Sich etwas Gutes leisten. An den Vormittagen trug ich immer wieder meine leere Kaffeetasse ins Wohnzimmer, in dem meine Mutter saß und die Kaffeekanne auf einer Kachel stand, um mir Kaffee einzugießen. Meine Konkurrentin nahm schnell bei meinem Eintritt die Kanne an sich um sich selbst einzuschenken, aus panischer Angst, dass ich den ganzen Kaffee auf einen Schlag wegtrinke. Wie schnell sind die guten Dinge des Lebens aufgezehrt und sie geht wieder leer aus. Es mangelt an allem und es wird der Tag kommen, an dem nichts mehr nachwächst. Mutter Natur trocknet zu einer Steinwüste aus. Die sonst Milch spendenden Busen zerfallen zu Staub. Nachdem sich meine Mitbewohnerin sich eingeschenkt hatte, führte sie den befeuchteten Finger unter den Ausgussschnabel um den rinnenden Kaffeetropfen aufzufangen und führte dann den Finger zum Mund um ihn abzulecken. Nichts darf verloren gehen! Kein Bröselchen und kein Tropfen! Wie schnell ist das traute Heim verdreckt und versumpft! Überall auf den Tischen, auf den Teppichen triefende Fettflecken und Saftflecken und Fleischflecken. Fleischig fette Schmeißfliegen werden sich auf unser schwitzendes Menschenfleisch setzen und werden Viren und Bakterien übertragen. In der Küche wird sich der Abfall häufen und der Gestank wird scharf und schneidend sein. Die Grünanlagen vor dem Fenster werden sich in fiebernde Sümpfe verwandeln.
Als sie sich eingeschenkt hatte, übernahm ich die Kanne und goss mir Kaffee ein. Auf dem Bildschirm erzählte eine aschblonde Frau mit Kassengestell über die erfolgreiche Integration von behinderten Jugendlichen in eine Gesamtschule in Aschaffenburg. Draußen fiel Schneeregen vom dunklen Winterhimmel und der Asphalt glänzte feucht. Leichte, fast durchsichtige Flocken lösten sich auf der Rasenfläche in Wasser auf. Am ersten Tag nach meiner Ankunft aus meiner kalten, mit Kohle beheizbaren, aber meist ungeheizten Wohnung in Berlin, liefen mir beim Gedanken an meinen eisigen und nassen Gang zum Steuerberater die kalten Schauer den Rücken runter. An den anderen Tagen nahm ich mir mit viel Genuss vor, die warmen Zimmer nicht zu verlassen. Ich sollte mir ein Etui kaufen, in das ich mich hineinschmiege. Ich werde essen und fressen und meine Lektüre wird mich zum Kind schrumpfen lassen, das durch Märchenwälder und Zauberberge irrt. Ich werde mich im warmen Etui, im warmen Schneckenhaus strecken und meine Fantasie wird den ganzen Erdball erobern und alles verschlingen.
Mit der gefüllten Kaffeetasse ging ich langsam und vorsichtig in das Schlafzimmer zurück, weit fort von Mutter und Gesamtschulen und irgendwelchen Integrationen. Ich stellte die Tasse neben den Sessel auf eine Kachel auf dem Fußboden, um weder Teppich noch das Parkett zu beflecken. Das Schneetreiben nahm noch zu. Vielleicht wird der Schnee liegenbleiben und wenn ich zum Steuerberater gehe, werde ich mich durch die Schneemassen kämpfen müssen. Ich wollte gegen nichts kämpfen. Ich mochte nichts, was mir Widerstand leisten könnte. Ich las im Buch weiter. Im Duell wird der Titelheld des Romanes im Herzen getroffen. Er sackt zusammen und der verschneite Wald und die zugewehten Felder in der Ferne verschwimmen im sich verdichtenden Dunkel des hereinbrechenden Todes. Ich saß gefahrlos und bequem auf dem Sessel am Fenster. Es hat endlich zu schneien aufgehört. Ich legte das Buch zur Seite und stand auf. Die Pflicht des Sohnes einer wohlhabenden Steuerzahlerin, der man auf Grund ihres hohen Alters nachsah, dass sie den Gang in die klirrend kalte oder vielleicht nur etwas kühlere Außenwelt mied, rief. Die Pflicht rief und brüllte mit der harten Stimme von Vater Staat. Ich vermied beim Anziehen jedes laute Geräusch. Erst vollständig bekleidet wollte ich mich von meiner Mutter verabschieden. Spätestens im Flur, der das Schlafzimmer mit dem Wohnzimmer verband, in dem ich mir die schweren Winterstiefel anzog, hätte das Gerumpel die Hausherrin aus dem Dämmerzustand rausgerissen und sie hätte aufgeregt gefragt, was los sei oder sie hätte ihre Zigarette brennend auf den Rand des Aschenbechers gelegt, wäre vom Stuhl aufgesprungen und hätte ihren Mörder mit dem Brecheisen in der Hand erwartet. Fremde stehen schon in der Wohnung und du weißt nichts davon. Du wechselst nur das Zimmer und stehst plötzlich in leer ausgeräumten Zimmern. Die antiken Möbel und die Orientteppiche haben sich in Luft aufgelöst. Hat es sie jemals gegeben? Meine immer Verschmähte hörte die harte Ledersohle meiner Winterstiefel und fürchtete, dass ich sie nach nur einer Nacht schon wieder verlasse und für lange wieder raus in den Kampf des Lebens marschiere. „Bist du das? – Wo willst du hin?“ – frug sie mich erschrocken. „Ich muss doch zum Steuerberater und danach noch Essen einkaufen“ – erwiderte ich. Ihr Gesicht entspannte sich. Ich werde ihr erhalten bleiben. Viele Wochen noch. Vielleicht Monate. Vielleicht wird man uns gemeinsam beerdigen. Kinder gehören in den Bauch!
Unsere Schuhe standen immer auf alten Zeitungen, damit der Straßendreck nicht unsere Fließen beschmutzt. Ich gab ihr einen sanften Kuss auf die Lippen. Sie war so sanft und traurig. Ich fühlte mich wieder als das Kind, das ich früher war und dem ich immer aus dem Wege ging. Erst in den letzten Jahren vor ihrem Tod und meiner eigenen schwindenden Jugend wagte ich diesen Kuss, wagte ich diese Kindlichkeit. Sie stand häufig da, als würde ich abreisen und nie mehr wiederkommen. Die Wohnungsinhaberin stand auch da um aufzupassen, dass ich wirklich den Schlüssel sorgfältig zweimal im Schloss umdrehe. Der Eindringling. Beim Öffnen der Türe drang die Kälte aus dem Treppenhaus. Das Weiß der kalten Wände im Treppenhaus. Das Weiß der Schneewände. Ich ließ die Türe ins Schloss fallen und drehte brav zweimal den Schlüssel im Schloss um. Rechts von der Wohnungstüre hing die Klappe für die Müllentsorgung. Man zog die metallene Klappe herab, schüttete den Inhalt der Mülltüte in den Metallbehälter, dann schloss man die Klappe und der Abfall fiel durch die Rohre in die Mülltonne, die im Keller stand. Die Klappe war für den Abfalltüteninhalt meistens zu klein und man musste mehrmals das lärmende Metall betätigen. Es klapperte und klapperte mehrmals durch das ganze Haus. Die Wände im Treppenhaus waren nicht mit einfacher Farbe gestrichen, sondern sie glänzten leicht und waren mit unzähligen Pickeln übersät. Weiter rechts von der Klappe waren die Eingangstüren zu zwei anderen Wohnungen. Die braunen Türen waren mit künstlicher Baumrindenmusterung versehen. Ich ging nach links Richtung Fahrstuhl, dann nach rechts an den Briefkästen vorbei zum Hauseingang, durch deren Glasflächen man auf die selben Grünanlagen wie auf der anderen Seite blickte. Gelbe Wohnblocks von der immer gleichbleibenden Nüchternheit. Ich öffnete mit dem anderen Schlüssel, der mit einem anderen Schlüssel, dessen Funktion ich nicht kannte, an einem Ring hing. Es war kalt, aber nicht so kalt wie ich in der Zentralheizungswärme befürchtet hatte. Ich war im Freien, draußen. In der Hand hielt ich die Plastiktüte mit den Papieren für die Steuererklärung. In der Plastiktüte hatte ich noch eine zweite Plastiktüte um später beim Esseneinkauf keine neue Tüte kaufen zu müssen. Ich überquerte das Rondell, an dem die Autos wenden mussten – die Straße, in der meine Mutter wohnte, war eine Sackgasse – an den Mülltonnen vorbei zu einer starken Eiche. Die Wohnung im Erdgeschoß des Hauses, an dem ich vorbei musste, war immer noch unvermietet. Ein großes Schild eines Immobilienmaklers bot eine schöne, zentralgelegene Praxiswohnung an. Ich sah die weiße Fassung der Fenster und blickte auf die weiß gestrichene Decke. Diese Räume standen schon seit Jahren leer. Der Aufenthalt in schon seit vielen Jahren leer stehenden Zimmern, in denen schon seit Jahren kein Leben stattfand, ist immer beklemmend. Seit Jahren gleiten hier nur die wachsenden und schwindenden Schatten. Ein altes Ehepaar um die Siebzig begegnete mir. Beider Augen waren mit dicken Brillengläsern vor der Außenwelt beschützt. Dicke Wintermäntel mit Schal und dicken Wollmützen umhüllten ihr schwindendes Fleisch. Ich kam an der strammen Eiche vorbei. Ein kräftiger Stamm, der die Weiten des Himmels mit den Würmern und Larven der Erde verband. Eine weiß gestrichene Holzbank umschloss die Rundungen des Baumes. Ich saß oft auf ihr und las. Vielleicht breitete sich hier vor vielen Jahrhunderten ein Eichenwald aus. Ein Schwarm Raben flog in die Wolken auf. Die Gebäude der Belgradstraße, auf die ich zuging, waren matt gelb. Was hätte mir hier in die Augen stechen können? An der Litfasssäule hingen Plakate. Ausstellungen in der Stuckvilla, im Haus der Kunst, eine Motorradmesse und noch viel Anderes. Das Kieser-Sportstudio klirrte mit seinen Hanteln. Eine Unterführung unter einem Haus mit dem Zugang zu einer Tiefgarage führte in ein tieferes Dunkel. Der Boden, auf dem ich ging, war nur eine dünne Hülle über ein weit verzweigtes, unterirdisches System von Gängen, Garagen und Kellern. Wann soll diese Hülle einbrechen? Krieg und Erdbeben. Ich fühlte mich auf diesem Boden sicher. Meine Füße fühlten Bodenhaftung. Auf der einen Seite des Durchganges zwischen Zittelstraße und Belgradstraße lag eine Boutique, in die fast nie Kunden kamen. Eine graue Brandmauer. Die Straßenbahn klingelte und fuhr behaglich vorwärts. Ich kam an vielen Hauseingängen vorbei, durch deren Glasscheiben ich die Lifttüren und die weißen, beigen, flaschengrünen Korridormauern erblickte. Große, geleckt sanierte Gründerzeithäuser in milden Farben, durch deren große Fenster, die in viele, kleine Felder aufgeteilt waren, blickte ich auf Kristalllüster in kultivierten, hochkultivierten Altbauappartements. Ein Kinderspielplatz zwischen Kastanienbäumen. Auf einer grün gestrichenen Bank saß eine vermummte Mutter, die ihre Kinder beim Spielen beobachtete. Gegen die Unbilden des Lebens behütete. Ich setzte mich auf eine andere Bank und las in meinem Buch. Die Kinder waren ebenfalls mit Wollmütze und gefütterter Jacke und dickem Schal verpackt und spielten auf den Turngeräten. Sie waren im Vorschulalter. Der Junge stieg von der Schaukel herunter, lief auf mich zu, blieb vor mir stehen und beobachtete mich beim Lesen. „Was machst du da?“ – fragte er mich und lächelte mir zu. „Ich kann schon Fußball spielen“ – erklärte er mir stolz. Seine kindliche Zuneigung erfüllte mich mit Stolz. „Benjamin – was machst du da? Komm schleunigst her!“ Die Mutter blickte von der anderen Bank her ganz nervös auf ihren Sohn und würdigte mich keines Blickes. Der Junge drehte sich wortlos um und lief auf seine Beschützerin zu, die auch noch ihre Tochter zu sich rief. Sie stand abrupt von der Bank auf, nahm ihre beiden Kinder an der Hand und verließ entschlossen den Spielplatz.
Ich klappte mein Buch zu und verließ ebenfalls den Spielplatz. Solange ich nicht meine Papiere abgegeben hatte, hatte ich keine Ruhe. Außerdem fror ich. Ich ging weiter Richtung Nordosten. Ich musste über die Münchner Freiheit hinaus. Richtung Feilitzschstraße. Die Häuser wurden kleiner. Viele Einfamilienhäuser mit Garten. Eine leicht verwahrloste Reihenhaussiedlung aus dem Dritten Reich. Links ein Sportplatz. Ich ging rechts zur Leopoldstraße. Hier war die sie noch nicht die Amüsiermeile, die sie weiter stadteinwärts ist. Weiße Matratzen im kühlen Licht einer Bettengroßhandlung. In der Mitte der Straße fuhr eine Straßenbahn. Diese weltberühmte Straße war hier so alltäglich und gesichtslos, wie ich mir irgendeine Ausfallstraße etwa von Gelsenkirchen vorstelle.
In einer Seitenstraße auf der anderen Seite der Straße betrat ich das mehrstöckige Haus, in dem der Steuerberater sein Bureau hatte. Schwarz glänzende Treppen und weiß leuchtende Mauern. Selbst im heißesten Sommer dürfte das Treppenhaus klirrend kalt sein. Ein Stürzender schlägt sich an der Härte des Steines den Schädel ein und verblutet wie Schlachtvieh. Ich klingelte an mein Ziel angelangt und eine schlecht gelaunt blickende Frau in mittleren Jahren öffnete. Ich nannte mein Anliegen und übergab ihr das Paket oder der Steuerberater war gerade da und sie bat mich im Flur zu warten. Nach einiger Zeit bat mich dann der Steuerberater mit schwerer Zunge – als wäre er etwas angetrunken – zu sich herein. Wir gaben uns die Hand. Ein großer, klobiger Mann um die Sechzig mit grobem Bauerngesicht und dichtem, grauem Haar bot mir in schwerem Bayrisch Platz an. An der Wand ein von Glas beschütztes Poster. Marilyn Monroe von Andy Warhol. Ein Mann, der mit der Zeit geht und die schönen Frauen liebt. Abgesehen von schönen Grüßen an die Frau Mama und wie geht es denn der Frau Mama sprachen wir nie etwas Privates miteinander. Wer war ich denn für ihn? Einer, der nichts im Leben erreicht hatte. Ein Nichts. Ein überdimensionaler Säugling, der noch versorgt werden muss. Ich war fast in seinem Alter. Meine Mutter war lebenslänglich in ihre Kindheit eingesperrt. Sie war aber eine Frau. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Der Steuerberater blickte auf die Plus- oder Karstadtplastiktüte mit den Unterlagen und brummte „Unsere Gesammelten Werke“ und nahm die Papiere heraus. Er wird sich durch den Dschungel unserer Einnahmen und Ausgaben kämpfen. Er hat Großunternehmer und Millionäre und vielleicht sogar Milliardäre aus der Münchner Schickeria als Klienten, die im Leben etwas aufgebaut haben, die ihre Unterlagen fachmännisch geordnet vorlegen. „Ich werde alles bei gegebener Zeit durcharbeiten“ – lallte er. Wir standen auf, reichten uns die Hände und ich verließ das Bureau.

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© 2023 Michael Wiedorn (Text & Bild)
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Kinder kommen in den Bauch (2)

Von Michael Wiedorn

Die Stadt München lag vor mir. Für Ausstellungen war es zu spät. Ich konnte überall hingehen und nichts reizte mich. München versprach nichts, was mich reizen könnte. Wie oft lief ich durch Schwabing zwischen den immer gleichen Häusern – geleckt wie auf dem Reißbrett. Immer den gleichen Gang die Leopoldstraße hinunter. Immer wieder die Ludwigstraße hinab. Die Palais, die festungsähnlichen Mauern der Staatsbibliothek, die weißen Mauern der Ludwig-Maximilian-Universität. In der Ferne die Feldherrnhalle. Ich bin immer wieder die Straßen rauf und runter gelaufen. Ziellos und gelangweilt. Immer wieder an der Uni vorbei. Die selben laublosen Bäume strecken ihre kahlen Äste in den tristen Winterhimmel. Die selben, feuchten Sitzbänke, teilweise mit Schnee bedeckt. Das Holz ist von der Feuchtigkeit eingedunkelt und voller Einschnitte und Rillen und Rinnen. Die Stadt hielt mir ihre Arme entgegen, aber ich erwartete nichts.
Ich verließ die Kanzlei, kam am Beton einer Eigentumswohnanlage vorbei. Ich erreichte die Kirche an der Münchner Freiheit. Einmal betrat ich sie und stand dann etwas ratlos in einem schmucklosen Betsaal. Tja, das habe ich jetzt auch gesehen und was nun? Ich verließ sie schnell wieder. Ich lief durch eine Unterführung. Die Betonwände waren mit Graffitis und nassen, zerrissenen Plakaten bedeckt. Meistens lag eine Matratze auf dem Steinboden. Im Winter schneidet der Wind scharf durch die Straßen und der fallende Schnee bedeckt den Schläfer mit dem ewigen Frieden. Die schutzlose Nacktheit muss unter vielen Hüllen beschützt werden. Ich muss auf dem gefrorenen Steinboden die Nacht überleben und werde die ganze Nacht kein Auge zukriegen. Der eisige Wind und der Frost beißen und fressen sich in meine innersten und tiefsten Eingeweide fest. Die Graffitis waren keine Bilder, sondern verkrüppelte Nachahmungen von Buchstaben, die nichts bedeuteten oder nur ihre Hohlheit zur Schau stellten. Auf der anderen Straßenseite sieg ich wieder an die Oberfläche. Überall Geschäfte und Boutiquen mit Klump und Krempel, deren einziger ersichtliche Zweck war, verkauft zu werden. Das Hertiehochhaus. In Reihe stehende Schuhe die Reihe um Reihe auf Käufer warten. Nutten dürfen in München sich nur in abgelegenen Straßen ganz am Stadtrand anbieten. Jacken und Mäntel und Spielzeug und Lebensmittel. An den Bushaltestellen warteten wie Würmer und Schlangen langgezogene Busse auf ihre pünktliche Abfahrt. Mürrische und ausdruckslose Fressen langweilten sich.
Bei meinen Münchenaufenthalten kaufte ich Kleidung, die ich unbedingt benötigte. Schlafanzüge, Unterhosen, Jeans, Socken – meine Mutter meinte immer, ich solle darauf achten, dass sie aus reiner Baumwolle sind, sonst bekommt man Schweißfüße. Ich lief und fuhr auf den Rolltreppen bis zum – ich glaube dritten Stock. Sauber in Zellophan eingeschweißte Unterhosen in allen Größen. Das Bild eines halbnackten Athleten mit braungebranntem Antlitz, mit weiß strahlenden Zähnen und einem Waschbrettbauch aus Stahl, auf dem jede einzelne Sehne fein ziseliert war. Ich werde mir diese magische Unterhose für teures Geld zulegen und stolz anziehen. Ich werde schlagartig spüren, wie die Schlaffheit meiner Schwächlingsschwarte sich in eine Stahlrüstung verwandelt, mein labiles Kinn wird sich schlagartig in eine Eisenschaufel verwandeln und ich werde einen Steifen haben. Ein Brecheisen wird mir zwischen den Beinen wachsen. Der Blick in den Umkleidekabinenspiegel erschreckte mich. Gelbbleiche Haut überzog einen weichen Sack aus unverdautem Fraß. Der alte Sack war von fast sahniger Weichheit. Die eingefallenen Schultern eines Langzeitpatienten. Die geröteten Augen eines Menschen, der keine frische Luft kannte. Kaufhäuser sind im Winter oft überheizt. Die Müdigkeit, die in mir wuchs, war eine Müdigkeit, die mich nicht in einen gesunden Schlaf führte. Kaufhäuser sind von der Außenwelt abgeschnittene Trauminseln, in die nie Tageslicht einbricht. Das künstliche Licht ersetzt die Sonne. Das Sonnenlicht verändert sich ständig, schwillt an und blendet die Augen, bis sie zu leeren schwarzen Augenhöhlen ausgebrannt sind. Das Sonnenlicht wird langsam immer schwächer und verlischt und überlässt die Erde der Schwärze der Nacht. Niemals darf man in der Natur frontal in die Sonne blicken. Jeder, der auf dem Boden der Sonne steht, verbrennt. Das elektrische Licht geht durch Schalter an und erlöscht wieder durch einen Fingerdruck auf einen Schalter. Unser freier Willen schafft das Licht in der Welt. Häufig finde ich im Gewirre der Gänge und Stockwerke garnicht den Weg in die grausame, kalte Außenwelt. Draußen wehte der frostige Wind und das Laub auf den Straßen vermoderte wie Leichen unter der Erde.
Mit oder ohne Ware verließ ich das Kaufhaus. Das Hertiehochhaus war ein hässliches, fensterloses Gebäude. Die Autos rauschten vorbei. Auf einer Bank saß in viele Mäntel und Decken vermummt ein alter Penner. Wieviele Tage und Nächte und Wochen hatte er hier schon verbracht? Bei Grün überquerte ich die Straße und lief zur Buchhandlung Lemkuhl. Ich suchte immer Bücher von dem Autor, den ich gerade las. Falls ich überhaupt etwas fand, waren es Bücher, die ich schon hatte. Ich blätterte in Bestsellern und Neuerscheinungen. In der Mitte des Ladens stand ein großer Konzertflügel, auf dem Bücher drapiert waren. Einige eingerahmte Fotos von irgendwelchen Autoren standen auf dem Instrument. Eine gepflegt mittelständische Atmosphäre. Eine uns allen bekannte Darstellerin einer charmanten Fernsehkommissarin mit von Schminke erstarrtem Lächeln liest demnächst aus ihren Memoiren. Ich werde nicht hingehen. Nachdem ich in zehn oder zwanzig Büchern herumgeblättert habe, verließ ich das Geschäft.
Ich bog in die Hohenzollernstraße ein. Große, weiße Betonplatten. Wartende Lieferwägen. Die Bürgersteige waren zu eng und überlaufen. Ich hasste meine Mitmenschen. Der Sinn des Mitmenschen besteht darin, mir im Weg zu stehen. Ich wollte immer als Vogel oder Flugzeug vorwärtsdüsen und unmittelbar vor meinen eiligen Füßen schlich eine Greisin am Rollator im Schneckentempo vorwärts. Wenn ich sie nicht um den Haufen rennen sollte, musste ich mich an sie anpassen. Ich verwandelte mich in sie. Ich verwandelte mich in eine kriechende Schnecke. Ich versuchte verzweifelt mit meinem winzigen, klebrigen Körper, der sich auf dem Straßenpflaster sich nur Millimeter um Millimeter vorwärtsbewegte, die zu überwindende Strecke zu bewältigen. Riesig ragten die Menschen über mir. Irgendwann wird mich eine gigantische Schuhsohle zu Matsch zertreten. Ich verwandelte mich nicht in die Alte mit ihrem Rollator und nicht in die kriechende und schleimende Schnecke, sondern in einen Vogel mit Motorantrieb. Mit dem Kopf voran trieb ich meinen schneidend spitzen Schnabel in den Rücken der Dame, die blutend und spitz aufschreiend zusammenbrach und auf der Stelle verschied. Ich breitete meine gewaltigen Flügel aus und zertrümmerte die Gebäude rechts und links der Straße. Meine Flügel räumten die Mütter mit ihren Kinderwägen und den darin quengelnden Kindern wie überflüssigen Müll zur Seite und ich hob in den Himmel ab. Ja, aber wohin? Wohin jetzt?
Ich sah das leuchtende Rot vom Plusladen. Ich musste etwas zum Essen einkaufen. Morgen werde ich nicht das Haus verlassen. Ich werde mich als Schnecke in die innerste Windung meines Häuschens einwickeln, bis die Eiswinde der harten Außenwelt nur mehr Erinnerungen an böse Träume sind. Ich werde blind im Dunkeln träumen und immer wieder neue Nahrung wird im Eisschrank nachwachsen. Plus war im Gegensatz zu den ganzen Nachbarläden spottbillig. Preise wie in Kreuzberg. Ich kaufte Brot, Salz, Tomaten, Lauch, Blumenkohl, Hühnerschenkel, Schnitzel. Ich hatte dort immer Schwierigkeiten geeigneten Brotaufstrich für mich zu finden. Darf man in Zellophan und Plastik eingeschweißte Wurst als Lebensmittel bezeichnen? Wäre es vielleicht sinnvoll das Zellophan zu verspeisen und die synthetisch präparierte Wurst wegzuschmeißen? Schlechter, billiger Käse schwitzt und fault und lässt den Magen verderben. Der Kunde öffnet sein Maul und jede Blume verdorrt auf der Stelle im Gestank. Die grauen Fettklümpchen zwischen dem lila-grauen Fleisch der Billigsalami stammt von Leichen. Ich nage an aufgeschwemmten Leichen und sie streicheln mich und ziehen an mir. Ich liebte schon immer Fleisch. Als Kind lief mir schon allein beim Anblick der kräftigen Rinder auf der Maggiverpackung das Wasser im Munde zusammen. Die Menschen sollten noch lebendiges und zappelndes Fleisch verzehren. Der Gänsebraten zu Weihnachten versucht aus der Bratenplatte wegzufliegen. Die Speisenden müssen immer wieder von den Stühlen aufspringen und dem herumfliegenden Geflügel hinterher jagen um es wieder einzufangen. Das Fleisch muss noch bluten. Die Verzehrenden schmatzen und rülpsen und röhren und blöken. Fleischesser werden zu den Tieren, die sie immer schon waren und sein wollen.
Bei meinen Münchenaufenthalten bereitete ich häufig einen großen Topf Hühnersuppe mit viel Lauch, Paprika, Zwiebeln, Blumenkohl und vielem Anderen zu. Fleisch sollte so frisch sein wie der beißende Schweißgeruch aus den Achseln. Ausdünstungen aus den rot durchbluteten Muskeln des Athleten der Unterhemdreklame. Der Maggistier verwandelt mich in einen Stier. Bepackt mit den erstandenen Lebensmitteln verließ ich den Laden. Ich fühlte mich versorgt bis zum Weltuntergang. Ich hasste es schon immer allzu viel mit mir herumzuschleppen. Vielleicht platzt eine Tüte und alles liegt im Dreck. Ich eilte, soweit ich auf dem überlaufenen und viel zu engen Bürgersteig Platz hatte, vorwärts. Ich benutzte nie den Bus. Ich hätte eine Fahrkarte kaufen müssen und hätte zu sehr meiner Bequemlichkeit nachgegeben. Als Kind hasste ich jede Bewegung. Man hätte mich als Zwölfjährigen im Kinderwagen fahren können. Ballrunde Kinder sind so träge, dass man sie eingebettet zwischen Kissen auf Sänften vorwärts bewegen muss. Eine Stadt für die Haute-Volée. Messing, Chrom, Spiegel. Eine Stadt, die nur die Kulisse für Fernsehkrimis in Grünwalder Millionärsvillen darstellt. Ein Rolls Royce hält vor dem Hotel Bayrischer Hof, vor dem Hotel Vier Jahreszeiten. Eine Stadt aus Kulissen für die Stars aus Film und Fernsehen. Die Stars gefrieren zu Schaufensterpuppen in Modellkleidchen.
Aus der Ferne grüßte schon das Haus mit dem Erker vom Elisabethplatz. Ich erblickte das Gebäude und mir wurde klar, dass ich mich im Voralpenland befinde. Ich kam an einem Frisiersalon vorbei, in dem sich junge Männer und Frauen am Freitag für das Wochenende schön machen ließen. Ein großer Selbstbedienungsladen, in dem aufstiegsorientierte, junge Leute an ihrem Laptop saßen oder in kichernder Runde an ihren Milk-Shakes nuckelten. Manchmal am späten Abend saßen nur zwei oder drei Leute einsam im gleißenden Neonlicht. Das Licht war eisiger als der Winterwind auf der Straße. Ich überquerte die Belgradstraße. Eine Straßenbahn quietschte stadteinwärts. Manchmal setzte ich mich auch bei beißender Kälte nach 20 Uhr, wenn die Bäckerei geschlossen hatte und die Angestellten das Licht noch nicht gelöscht hatten, auf die Sitzbank und las. Ich wollte nicht zu früh nach Hause zu meiner Mutter. Der überheizte Brutkasten, in dem man die Luft in Scheiben schneiden konnte. Zuhause erstarrt alles Lebende zu ranzigem Schmalz. Der Schimmel wird blühen. Ich saß in der scharfen Kälte, mein Atem klirrte als Eisblume und ich atmete das Leben ein. Ich wusste genau, dass meine Mutter gleichzeitig vor dem Fernseher saß und ihre Lebenszeit absaß wie ein Häftling seine Haftzeit. Die Angestellten der Bäckerei löschten schließlich das Licht. Ich wollte nicht untätig im Dunkel sitzen. Einfach nur vor mich hinstarren. Ich gehe jetzt nach Hause.
Das Innere der Wohnung war durch das Geflimmer des Fernsehers und die spärliche Beleuchtung im Wohnzimmer, in dem meine Mutter vor dem Apparat saß, in ein Halbdunkel getaucht. Am Kristalllüster an der Decke brannte nur eine Birne und eine ovale Milchglaslampe brannte auf der Biedermeierkommode. Auf der Mattscheibe blickte ein beleibter Herr um die Sechzig in hellblauem Hemd mit knallroter Krawatte, bewegte dabei lautlos die Lippen und hob dabei eine Akte in die Höhe. Der Ton war anscheinend ausgestellt. Ich stand reglos im Flur und sah auf das stumme Bild. Ich zog dann meine Stiefel aus, machte in der Küche Licht und verstaute die erstandenen Lebensmittel in den Eisschrank und die Küchenkästen. Gelegentlich hörte meine Gastgeberin mein Eindringen in ihr Heim und sie stand von ihrem Stuhl auf um zu sehen, ob ich genügend Futter mitgebracht habe, dass ich nicht ohne mich von ihr zu verabschieden zurück in die Fremde gefahren bin, dass ich mich in der gemütlichen Wohnung mit reichlicher Nahrung eingedeckt habe, um lange, lange nicht mehr mich in die Ferne zu verabschieden. Manchmal hörte sie den Schlüssel im Schloss, blieb auf ihrem Stuhl sitzen und rief zum ernsten Spaß: „Die Wohnung ist für Fremde gesperrt. Fremde haben hier keinen Zutritt“. Zum Spaß. Die Mutter braucht ihren Sohn eigentlich garnicht. Eines Tages kommt der Sohn heim zur Mutter und ein andrer Mann sitzt bei der Mutter. Die Mutter sieht liebevoll zu ihrem heiß geliebten Kind und steht vor einem wildfremden Kerl.
Nachdem ich das Essen untergebracht habe, ging ich ins Schlafzimmer, machte das Licht an und zog erleichtert die Straßenkleidung aus. Ich zog meinen Schlafanzug an. Die Wohnungsinhaberin wartete nie ab, bis die Abenddämmerung die Zimmer in Zwielicht tauchte, sondern zog schon bei der ersten Verdunklung des Tageslichts die Rollläden zu. Sie mochte nicht das Zwielichtige von draußen. Beim Fernsehen ließ sie das elektrische Licht an. Viele Leute ertragen keine Dunkelheit in ihrem Haus. Es muss immer irgendwo hell sein. Viele kleine Kinder, deren Eltern abends ausgehen, müssen das Licht brennen haben. Aus dunklen Ecken treten plötzlich Unbefugte.
In der Küche hingen zwei Glühbirnen in einer weißen Metallfassung. Nur die eine Birne brannte hell, die Andere blieb dunkel. Die Küche erwachte aus der Dunkelheit nur zu einer gedämpften Helligkeit. Überall breiteten sich Schatten aus. Abends machte ich keine Hühnergemüsesuppe, sondern etwas Leichteres und schneller Zuzubereitendes. Schnitzel mit Pilzen, gedünstetem Paprika und Reis. Meine Finger griffen das feuchte, weiche Fleisch. Eine rosa Masse mit vielen kleinen Fasern. Manchmal war das Rosa mit leichtem Gelbstich durchsetzt. Das Fleisch hatte noch nicht stunden- oder tagelang im Kühlfach gelegen und war noch weich und feucht. War es aus der Bauchdecke geschnitten, war es aus dem Schenkel des Tieres oder dem Rücken geschnitten? Sah meine von der Haut überzogene Muskulatur an meinem Bauch, meinem Rücken, an meinen Schenkeln genauso aus? Mit dem Messer schneide ich meine Muskeln in feine Filetstücke, würze sie mit Salz und Pfeffer. Zuvor schneide ich mir mit dem Messer in die Haut und durch die Wunden bricht das Blut wie das Wasser aus geborstenen Rohren. Ich legte die zarten Fleischscheiben in die heiße Pfanne, nachdem ich das rohe Fleisch mit Wasser aus den Leitungsrohren gereinigt und gewaschen habe. Rötliches Wasser aus den Rohren wäre wohl weniger Blut, sondern von Rost verdorbenes Wasser. Wasser und Fett bekriegen sich. Das Nasse des gewaschenen Fleisches bildete im Fett Blasen und knallte mit nervenzerrüttendem Knall. Siedendes Fett explodiert wie Sprengstoff und verbrennt meine Augäpfel. Starke Hitze, brennende Hitze tötet die Keime, die zahllosen, unsichtbaren Mächte. Ich schnitt in die Schnitzel hinein. Das Innere der Fleischscheiben war nicht mehr rot oder violett, sondern hell. Die Oberfläche war goldgelb bis bräunlich. Fleisch, Gemüse und Reis legte ich auf zwei Teller.
Ich trug die Teller einzeln ins Wohnzimmer und stellte sie auf den Esstisch vor dem Fernseher. Auf dem Tisch lagen Berge von Arzneirezepten, Rechnungen, Briefen von Behörden und die Fernsehzeitschrift, die ich zur Seite schob, damit die Teller Platz fanden. Meine Tischgenossin drückte auf die Fernbedienung um die Glotze auszumachen. „Du magst ja kein Fernsehen beim Essen“ – meinte sie es gut meinend. Ich schaltete das Gerät sofort wieder an. Es gab nichts zu reden. Ohne Fernsehen hätten wir uns nur schweigend mit dem Besteck hantierend über die Teller gebeugt und während wir das Essen verschlungen hätten, hätte uns die Stille der Wohnung verspeist. Mitarbeiter des Ordnungsamtes Amberg brüllten uns an, dass auf den Rasenflächen und dem Straßenasphalt der Stadt Amberg immer weniger Häufchen Hundescheiße aufzukehren waren. Ich interessierte mich weder für Amberg noch für Hundedreck und schaltete um. Ein Aasgeier mit weit ausgebreiteten Flügeln flog im blauen Himmel. Seine scharfen Augen schienen auf etwas tief unter ihm aufmerksam geworden zu sein. Im Sturzflug sauste er in die Tiefe. Irgendwelche Antilopen lagen reglos auf blassen Grasflächen. Ihre Gedärme quollen auf die Erde. Flügel von zahllosen Vögeln flatterten um die Kadaver. Gierige Schnäbel zogen lange Würmer oder Schlangen oder Gedärme aus dem fremden Inneren und ließen sie Stück für Stück in ihrem eigenen Inneren verschwinden.
Meine Mutter sah nicht hin, sondern kämpfte mit Gabel und Messer gegen die Beharrlichkeit des vor ihr liegenden Fleischstückes. Der Körper einer Antilope wurde durch die Gier eines Vogelschnabels unsanft verschoben. Das Tier wird wieder zum Leben erwachen und wird zurückgekehrt von den Toten, die Geier verschlingen. Das vergossene Blut vermischte sich mit der ausgetrockneten Erde der Savanne. Der mit dem Bratfett durchtränkte Lauch verfärbte die weißen Reiskörner. Ich schaltete um und ich schaltete weiter um. Fernsehmoderatoren, Polizeistationen, Kochstudios, Tannenwälder sausten in eintöniger Eile an uns vorbei. Die ganze Erdkugel zerstäubte in Tausende von faden Bildern.
Ich war mit dem Essen fertig und trug meinen Teller in die Küche. Meine Mutter arbeitete noch weiter an ihrem Futter und zerschnitt alles in Spatzenstückchen. Ich zog mich ins Schlafzimmer auf meinen Sessel mit einem Buch zurück. Ich verschloss die Zimmertüre um den Fernsehlärm auszusperren. Meine Mitbewohnerin rief noch protestierend: „Behandle die Türe vorsichtiger! Ich möchte vor meinem Tod keine neuen Türen einsetzen lassen.“ Eine der drei Glühbirnen an der Deckenbeleuchtung verlöschte nach kurzer Zeit, dann ging sie wieder an und das Licht flackerte. Das Zimmer fiel in eine leichte Dämmerung um dann wieder heilerleuchtet wieder zu strahlen. Ein Gewitter ohne Donner. Das Fell des Fauns ist dunkel. Das Gewitter wird wohl bald den Regen strömen lassen. Der schneeweiße Leib des Mädchens bleibt reglos liegen. Der Faun grinst immer noch. Er hat für eine kurze Zeit seine ihn immer quälende Unruhe befriedigt. Die Birne ging aus und das Licht im Raum ist gedämpft und die Gegenstände werfen lange, scharfe Schatten. Trotzdem fuhr ich fort zu lesen. Vom Nachbarzimmer drangen die Geräusche vom Fernseher durch die verschlossene Türe. Der Regen strömt und klatscht laut auf die Wasserfläche und die Schilfrohre. Das Fell des Satyr trief und er springt ins Wasser und verschwindet im Schlick, nur das weiße Mädchen bleibt liegen. Ein Blitz kracht vom Himmel, gefolgt von einem Donner, als wäre Krieg. Spurensucher werden den Sumpf und die Bäche nach Spuren suchen. Ich saß neben dem warmen Heizkörper und nahm einen Schluck aus der neben dem Sessel stehenden Orangensaftflasche. Im Winter braucht der Mensch Vitamin C. Eine aufgeschnittene gelb-orange Frucht prangte auf dem Flaschenetikett.
Gegen zweiundzwanzig Uhr rief eine brüchige Stimme. Zimmerwechsel. Wachablösung. Meine Mutter wollte in ihr Zimmer. Ich hörte durch das Holz der Türe Gläsergeklapper und legte das Buch zur Seite. Ich nahm die Matratze mit Bettwäsche unter den Arm, öffnete die Türe und trug alles ins Wohnzimmer. Meine Mitbewohnerin und ich liefen ohne einander anzublicken aneinander vorbei. Ich holte noch mein Buch. Dann lebte ich wieder wie in der letzten Nacht auf dem Buchara und meine Mutter versank, nachdem sie im Badezimmer fertig war, in ihrem Bett in ihrem einsamen Schlaf. Ich hatte mein ganzes Leben die Träume gesucht. Meine Mutter lag jetzt im Bett und rief mich um sich vor ihrer nächtlichen Fahrt zu verabschieden. Vielleicht kommt sie morgen nicht zurück und eine Tote liegt in ihrem Bett. Ich gab ihr den Abschiedskuss auf ihre feuchten Lippen. Sie fürchtete, dass ich sie am nächsten Morgen verlasse und sie wieder der Eintönigkeit und Verlassenheit ihres alltäglichen Tagesablaufes ausliefere. Eine Ertrinkende im Moor klammert sich am Arm ihres Retters fest, bis beide stürzen und ersaufen. Das Blau ihrer Augen leuchtete traurig. Jeder ist in seine Gestalt und seine Lebensumstände eingekerkert und kann nicht einfach wie ein Vogel aus seinem Geschick davonfliegen. Ich wandte mich von ihr ab, stand auf, löschte das Licht und überließ sie ihrem Dunkel. Ich legte mich auf die Matratze, nachdem ich im Wohnzimmer das Licht gelöscht hatte und ließ mich in die Fernsehbilder fallen.
Meine Münchenaufenthalte waren für meine Gebärerin eine Rückkehr ins Paradies, als ich als kleines Kind meine Mutter noch brauchte. Ein Kind braucht die Mutter fast mehr als Luft und Nahrung. Sie empfand Eifersucht auf die Bücher, deren Gesellschaft ich ihr vorzog.
2007/2008 war ich viele Monate durchgehend in München, in der mütterlichen Wohnung ohne die Gesellschaft und die Gespräche anderer Menschen. Ich las und las und spulte stumm in mich selbst eingesperrt meine Selbstgespräche ab. Eines abends hielt ich es nicht mehr aus, griff zum Telefon und rief einen alten Bekannten in München an, von dem ich schon viele Jahre nichts mehr gehört hatte. Ich weiß, dass er nie das geringste Interesse am Umgang mit mir hatte. Nicht das Allergeringste. Er nahm ab und wir unterhielten uns und nach langer Zeit hörte ich meine nur in meinen Hirnwindungen gespensternden Monologe von meinen Stimmbändern laut in den Raum klingen. Meine Mutter saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher und ich saß hinter zwei verschlossenen Zimmertüren auf dem Teppich und sprach in den Hörer. Ich hörte hinter den Türen die Stimme der Besorgten etwas rufen. Ich hörte den Lärm einer sich öffnenden Türe und die Stimme der Eifersüchtigen vor der noch geschlossenen Schlafzimmertüre, die sich beklagte, wie teuer es sei zu telefonieren. So ewig lange zu telefonieren. Ich sprach unverdrossen weiter in den Hörer und versuchte diese Störung zu überhören. Ich hörte den Krach einer niedergedrückten Türklinke und meine Mutter stand vor mir und wollte mich unbedingt zwingen endlich das Gespräch mit diesem Fremden zu beenden. Ein Gespräch mit der Außenwelt war unmöglich. Ich kriegte keinen einzigen Satz zu Ende. Die Störerin klagte und versuchte mit ihren Fingern auf die Telefongabel zu drücken. Nur du und ich allein auf einer Insel. In der ewigen Liebe verschmelzen unsere süßen Leiber. Ich kenne die Liebe nicht, aber den Hass. Ein weiß glühendes Brennen, das alle Körperfasern entzündet und sich nach dem großen Knall sehnt. Hass ist eine notwendige Waffe, wenn der Andere meine Grenzen nicht achtet und eine Qualle mich sich einverleiben will. Der Teppich färbt sich rot und der Hass lässt es freudig fließen, aber ich hoffe zu wissen, wer ich bin und ich spüre meine auf der Haut angebrachten Befestigungsanlagen. Sie liegt hilflos auf dem Boden und blutet aus. Ich schlage zu.
In den ersten Tagen nachdem ich in München in der Obhut des mütterlichen Heimes Zuflucht fand, wagte ich es die Nacht über durch Kneipen und Bars zu ziehen. Bierdunst im Schädel und einsames Herumstehen. Der einschläfernde Schneeregen fiel auf den Sendlinger-Tor-Platz. Der Bierdunst legte sich wie ein schwerer Pelz auf meine Wahrnehmung der kalten Straßen. Das Lachen vergnügter junger Männer und Frauen zogen an mir vorbei. Die Schneeflocken schwebten in arktischer Stille an den elektrischen Leitungsdrähten der in der Nacht selten befahrenen Straßenbahn vorbei. Die Flocken waren so still, dass ich an den Schlaf inmitten der sanften Schneelandschaft , inmitten der weißen Daunenbettwäsche dachte. Die Stille der eisigen Tundra dringt heute nacht in die Straßen der modernen Großstädte ein.
Aus der Musikbox quollen Songs von Michael Jackson. Eine Theke. Verschiedene Einzeltische mit je vier Stühlen. Die Kneipe war gut besucht, aber nicht überfüllt. Zwei Frauen in mittlerem Alter. Fast alle waren in angeregtem Gespräch vertieft. Gleich am Eingang fiel mir ein einsamer Mann in den Sechzigern auf. Er saß vor seinem halbausgetrunkenen Bier und glotzte vor sich hinbrütend auf das Thekenholz. Das Gelächter der vier jüngeren Gäste ging ihn nichts an. Er war von ihrer Heiterkeit durch einen unüberwindbaren Abgrund getrennt. Ein jüngerer, schlanker Mann saß mit schlaksig übereinander geschlagenen Beinen von einem der Tische abgewandt und hielt mit zierlichen Arm- und Fingerbewegungen seine Zigarette in der Hand. Den Arm mit der Zigarette stützte er auf die Stuhllehne und ein meckerndes Gelächter erschütterten immer wieder seinen Körper. Die Anderen lachten mit. Er führte das Gespräch. Sie lästerten über jemanden. Der Bierdunst in meinem Schädel und im Schankraum hielt mich dumpf und ich setzte mich an die Theke neben den brütenden Einsamen. Ich bestellte ein Pils. Schmalzige Töne über Love und Tenderness verzuckerten die verrauchte Luft. Das Bier stand vor mir. „Zum Wohl!“ Was soll ich hier? Ich bereute es schon so voreilig in dieser Kaschemme ein Bier bestellt zu haben. Ich lasse nichts stehen. Was ich bestellt habe, verpflichtet mich zum Verzehr und wenn ich dabei draufgehe. Die Maserung im Holz der Theke. Der innerlich leere Ring von vor Monaten und Jahren ausgesoffenem oder verschüttetem Bier. Mein Bier stand auf einem Bierdeckel von Spatenbräu. Ein Spaten auf rotem Grund. Seit 1397. Bayern ist ein altes Land, in dem die mittelalterlichen und katholischen Tradition noch lebendig ist. 600 Jahre altes Bier macht auf dem Thekenholz hässliche Flecken. Mit dem Spaten sticht der Straßenarbeiter oder der Pionier tief in die Erde hinein. Der würzige Gestank von jungem Schweiß. Das gackernde Gelächter des schlaksigen Jungen vom Nebentisch. Die Runde stimmt in sein Gelächter ein. Ich nahm einen Schluck und dann gleich einen Zweiten um endlich diesen Laden verlassen zu können. Das Glas wurde nicht leerer. Es war, als würde ein böser Zauber das Glas heimlich nachfüllen. Auch woanders werde ich nur der peinlich genaue Beobachter des Lebens der Anderen sein. Wie kann ich handeln? Wie kann ich etwas zum Rollen bringen? Kann ich auf andere einwirken? Nehmen die Anderen mich überhaupt wahr? Der Hocker, auf dem ich saß, war für die Anderen leer. Ich nahm noch einen Schluck. „Willst du noch ein Bier?“ – frug mich die Bedienung. Erleichtert verneinte ich. Durch die Fensterscheiben sah ich die herabschwebenden Schneeflocken und die düstere Straße. Hier drinnen war es schön warm und die Beleuchtung war hier warm gelblich getönt. Ich zahlte und verließ die Kneipe.
Während meiner Münchenbesuche ging ich meistens viel zu früh aus. Häufig blätterte ich bei Hugendubel am Marienplatz bis Geschäftsschluss um 20 Uhr in Büchern herum, dann entschied ich mich meistens nach Haus zu Fuß zu laufen. Das Nachtleben fängt frühestens erst nach 23 Uhr an. Ich musste die Zeit bis dahin in faden Kneipen mit gelangweilten und langweiligen anderen Gästen überbrücken. Meine Mutter hasste meine nächtlichen Ausflüge. Eines Tages rieb sie sich heftig an einem Auge. Ich fürchtete schon um ihr Augenlicht. Plötzlich riss sie sich das Auge aus der Höhle und wollte es mir in die Hand legen. „Nimm dies und in welches Drecksloch du auch gehst, behalte es bei dir! Es wird dich immer und überall behüten und mir darüber Bericht erstatten, was du draußen in der Außenwelt anstellst. Das ewige Auge der Mütter richtet und straft“. Ich empfing es, als ich danach die Wohnung verließ, warf ich es in die Müllklappe im Treppenhaus. Kinder brauchen die Kontrolle. Das Leben der Marionetten. Der Winterwind ließ mir das Gesicht und die Ohren gefrieren. Im Dunkel der Toreinfahrten könnte ich nicht erkennen, wer mich dort beobachtete. Auf dem rutschigen Straßenbelag kann ich mich nur mühselig vorwärts bewegen.
Würde ich mich freuen, wenn man mich in ein Gespräch einbeziehen würde? Ich hatte nichts zu sagen. Ich würde verlegen stottern. Ich kriege es hin, wenn ich den Anderen in der Ferne in Kneipen, an Bushaltestellen, im Kaufhausgewühle begegne und sie kurz streife. Die Leute in der Kneipe würde ich nicht wieder erkennen. Würde ich sie wieder erkennen, würde ich nicht auf den Gedanken kommen sie zu begrüßen. Die Anderen sind nur Passanten – besser gesagt Komparsen, die mir nur durch das Blickfeld rennen. Vor meine Augen hingemachte Menschengestalten, die kein von meiner Vorstellungskraft unabhängiges, eigenes Leben und keine eigene Identität haben. Außerhalb meines Blickfeldes schmelzen die Anderen dahin wie Flocken im Schneeregen. Erscheinen sie wieder vor meinem Blick schauen sie mich an, existieren sie wieder und grinsen mich an, als hätten sie sich noch nie in Luft aufgelöst. Ich töte Menschen, indem ich den Blick abwende.
Ich war jetzt sehr müde und lenkte meine Schritte zur Straßenbahn. Nachts fahren keine U-bahnen, sondern nur selten fahrende Straßenbahnen und Busse. Vergnügte Jugendliche mit Bierflaschen von Clubs und Partys schrieen und grölten. Nachdem ich am Elisabethplatz ausgestiegen bin, stand ich in der nächtlichen Stille. Die weiße Decke wuchs. Zu Hause werde ich unter der weißen Decke einschlafen. Wo tagsüber Leute eilten und ihren Geschäften nachgingen, schlief jetzt alles Leben.
Ich öffnete die Wohnungstüre. Das viele in mich geschüttete Bier machte mich dumpf und bleischwer. Ich hätte mich am liebsten noch bekleidet auf den Flurboden gelegt um auf der Stelle einzuschlafen. Ich riss mich aber zusammen und machte das Licht im Flur an, zog meine Stiefel aus. Eine zornige Stimme rief: „Du fährst morgen zurück nach Berlin! Du kannst nicht in meiner Wohnung bleiben! Ein Stricher! Ein Stricher in meiner Wohnung!“ Plötzlich durchzuckte mich ein weiß gleißender Blitz. Eine stechende Flamme durchstach mein Herz. Die Müdigkeit war schlagartig verflogen und draußen fiel kein Schnee mehr, sondern die Hitze des Krieges ließ die Fensterscheiben bersten. Aus Gebärmüttern und Busen troff das Blut. Der Hass ließ mich schreien und brüllen, dass ich nur mehr mein aufklaffendes Maul und meine zerreißenden Stimmbänder war. Klar, dass ein vollständiger Umzug nach München zu meiner Hüterin uns beide ins Unglück stürzen würde. Der Sohn, der seinen Vater besiegt, eignet sich dessen Kraft an und ist bereit selbst Vater zu werden, um dann in Zukunft vom eigenen Sohn besiegt zu werden. Anthony Perkins sitzt in Seidenbluse und im Wollrock seiner Mutter im Rollstuhl tief im Keller eines einsamen Hauses.
In einer anderen Nacht stieg ich in einer abgelegenen Straße in Sendling nahe der Isar aus der Straßenbahn. Die Straßen wurden immer stiller und dunkler. Lagerhallen, Fabriken, Werkstätten. Ich suchte einen SM-Treffpunkt, der hier irgendwo sein sollte. In mir wuchs die Furcht und berechtigte Vermutung, das ich nichts finden werde. Ein ganz versteckter Geheimort, zu dem nur Eingeweihte Zutritt erlangen. Würde ich doch den Eingang finden, würde sich nur ein kleines Gitterchen in einer verschlossenen Türe öffnen und ein klitzekleiner Ausschnitt eines riesigen Männergesichtes, dessen Rest ich nie werde sehen dürfen, wird bei meinem jämmerlichen Anblick nur wortlos und bedauernd den Kopf schütteln. Also wirklich nicht! Also bitte!
Unbeanstandet betrat ich die dunklen Hallen in einer still gelegten und umfunktionierten Fabrik. Ich trug eine amerikanische Kampfjacke, kurz geschorenes Haar. Eine markante Visage. Ich sah viel jünger aus, als ich in Wirklichkeit war. Der Anblick meines eigenen Spiegelbildes verzückte mich. An der Theke, soweit ich in der Dunkelheit erkennen konnte, saßen kräftige, junge Männer in Kampfanzügen. Ein Junge reizte die Brustwarzen seines Spezis mit Elektroschocks, bei denen das Opfer immer wieder freudig zusammenzuckte und dabei ekstatisch den Kopf nach hinten legte, seine jugendlich fülligen Lippen öffnete und leise stöhnte. Sie bemerkten mich nicht. Sie nahmen mich nicht im geringsten wahr. In einer anderen Ecke stand alleine in einem Gitterkäfig ein junger Athlet in Bomberjacke und mit klobigem, geschorenem Schädel. Er stand den Rücken an die unverputzte Mauer gelehnt und starrte mich an. Stumm winkten seine Augen mir zu. Ich spürte das Eisen in mir. Ein Prickeln durchfuhr mich.
Im Februar hatte ich langsam genug von der Wärme meines Schneckenhauses. Ich lief öfter ratlos und angeödet durch Schwabing, durch die Leopoldstraße. Am Siegestor und der Akademie der Künste vorbei. Durch die Schellingstraße, am Lenbachhaus vorbei. Ödnis und Leere zerfraßen mich. Die Ödnis der grauen Mauern unter dem grauen, kalten Himmel konnten mit der gähnenden Leere und Sinnlosigkeit in mir drin nicht im Geringsten mithalten. Lebensüberdruss durchdrang jede Sehne und Ader, dass mir war, als würde sich mein körperliches Dasein in Luft auflösen. Ich war viel zu leer für irgendwelche Traurigkeit. Ich kannte niemanden und ich kam an die Anderen nicht heran. Die Stummheit. Niemand nahm von mir Notiz. Zu Hause spukte der Gegenstand Mutter, der worauf er schaute, garnichts wahrnahm. Ich rannte unruhig an den immer selben, klobigen Gebäuden der Ludwigsstraße vorbei. Ich betrat die Universitätsbuchhandlung. Brannte mir der Kopf von Kopfschmerzen? Ich blätterte lustlos in verschiedenen Büchern herum. Alles ganz nett. Gott, wie langweilig! In meinem Schädel brannte die Leere lichterloh. Am selben Abend besuchte ich eine Diskussionsveranstaltung. Meine Backen brannten in der Hitze. Fieberschwaden umnebelten die Umwelt. Gelbe, kranke Schwaden. Die Glieder schmerzten, als hätte ich mich in einen steinalten Greis verwandelt. Am Abend kam ich zu meiner Mutter zurück und die ganze schlaflose Nacht hindurch reiste ich in die stickigen und schwülen Sümpfe einer ausgebrochenen Grippe. Fiebernde Gliedmaßen in grauer Kälte. Meine Leere hat in der Krankheit ihre Erfüllung gefunden.
Als Kind atmete ich auf, wenn der an mein Krankenbett geeilte Arzt mich krank schrieb. Ich tauchte dann tief in die mich zärtlich umschlingende Weichheit des Bettes. Ich hatte den Freibrief die nächsten Tage und vielleicht auch Wochen in Schlaf und Halbschlaf zu verträumen. Auch Pflanzen führen ein Leben. Das Schloss ist von Rosen- und Dornbüschen überwachsen und lässt keinen aus der Außenwelt rein. Ich hasste es, wenn der Arzt mir das Fiebermesser in den Arsch rammte und ich musste mehrere Minuten auf dem Rücken geduldig warten. Die Haupteigenschaft des Patienten ist die Geduld. Schrecklich war es, wenn der Arzt das Fiebermesser rauszog und fröhlich lachend verkündete, ich sei kerngesund und es bestehe kein Grund mehr gegen Frühaufstehen und dem faden Schulalltag. Frostige Schulwege durch immer die selben Straßen und fader Alltag mit Rechnen und Grammatikübungen. Erlöst war ich, wenn er nachdenklich und voller Mitteid mit mir Ärmsten den Kopf schüttelte und mit trauriger Stimme verkündete: „39°, 40°, 50°! Lange, sehr lange, strengste Bettruhe!“ Meine Mutter verzog sorgenvoll das Gesicht. Im Fieber genoss ich die unerreichbare Ferne der mit Reif und Schnee bedeckten Erde im Garten. Die im Frost steif und blattlos wartenden Bäume. In der Kopf- und Gliederschwere der Grippe verwandelten sie sich in Träume. Meine Mama verwandelte sich in eine zarte, sorgenvolle Fee. Ihre ängstlichen, feuchten Küsse. Ich drang in ihren Bauch wieder ein. Vor der Geburt schwimmt man und taucht wie ein Fisch tief im azurblauen Ozean. Immer versorgt. Früher soll ich ein Fisch gewesen sein. Im Fieber träumte ich von weiten Seereisen über das tiefe Blau des Globus, der in meinem Zimmer stand. Meine Weltkugel konnte meerblau leuchten, wenn man sie anknipste. Ich machte dabei die Zimmerbeleuchtung aus. Die Erde dreht sich in der Nacht des Weltraumes. Mein Arzt und meine ihm treu folgende Mutter traktierten mich mit Honig verrührter Milch. Mich ekelt es heute noch vor Klebrig-Süßlichem. Oft war die Milch mit einem feinen Häutchen überzogen. Mein Gaumen, meine Speiseröhre, mein Magen bäumten sich auf. Als Kind plagten und zerrissen mich Bauchschmerzen. Kleine, grausame Messerchen schnitten und zerrissen meine Eingeweide. Mein Blinddarm brach durch. Ein blutiger Wurm durchbrach die Bauchdecke und Blut überschwemmte mein ganzes Innere. Gottseidank! Ich hatte seltsamer Weise nicht die geringste Angst. Sofort musste ich ins Krankenhaus. In einer Stunde wäre es schon zu spät gewesen. Vor der Operation betäubte man mich. Meine Gefühle waren in Traum und Nebel eingewattet. Ich freute mich. Voller Freude wäre ich in den Tod eingetreten. Ein goldenes Licht brach durch den Dunst. In den nächsten Wochen lag ich in einer Lazarettbaracke des Oberföhringer Krankenhauses. Die im Zweiten Weltkrieg gebauten Baracken lagen in einem großen Park. Ich blickte auf die grauen und braunen Baumstämme und den vom Winter braunen Rasen. Kein Schrillen der Pausenglocke und keine frühmorgendliche Fahrt im überfüllten Bus. Ich las die rot-schwarzen Goldmann-Krimis von Edgar Wallace. Auf dem Umschlag die schwarz-weißen Abbildungen von entsetzt starrenden Fratzen. Geheimnisvolle Morde in den Nebeln der Themse. Der abgestorbene Park hatte sich in den Schauplatz meiner Zukunft ohne Leistungsdruck und Zahlen verzaubert.

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© 2023 Michael Wiedorn (Text & Bild)
Alle Rechte vorbehalten

Erdbeeren

Von Michael Wiedorn

Heimlich versuchte ich einen Teller Erdbeeren aus dem Eisschrank zu holen. Meine Mutter sollte davon nichts wissen. Ich stellte einen Stuhl vor den Schrank, öffnete die Schranktüre, bestieg den Stuhl und nahm ganz vorsichtig – allzu zaghaft – den Teller in beide vor Unruhe leicht zitternden Hände. Etwas glitschte an meinen Händen vorbei. Ein ohrenbetäubendes Klirren und die Beeren lagen inmitten von Scherben. Es blieb mir gar keine Zeit zu überlegen, wie ich mein Verbrechen ungeschehen machen oder verstecken könnte, denn ich hörte, wie sich die Schlafzimmertüre öffnete und meine Mutter an der Küchentüre stand und auf den zerbrochenen Teller blickte. Sie lächelte fröhlich, als würde sie sich über die Zerstörung des Geschirres freuen. Warum nicht gleich noch die Tassen und Gläser und Schüsseln gegen die Fliesen knallen? Ich starrte sie verwirrt an. Meine Freundin kam leicht tänzelnd auf mich zu und fixierte mich grinsend mit den Augen und lächelte und war jetzt keine erwachsene Frau, sondern ein kleines Mädchen, das sich immer näher heranschlich, in die Hocke ging und mich weiter wortlos angrinste, nur kurz blickte sie auf die Trümmer und stand wieder langsam auf. Die Augen heimtückisch auf mich gerichtet. Als sie stand, streichelte mir ihre Hand die Haare – zärtlich und liebevoll. Ich war erleichtert und wollte sie umarmen. Plötzlich verwandelte sich ihr Gesicht in eine hasserfüllte Fratze und sie schlug mir mit voller Wucht in die Fresse. Meine Backen brannten vor Schmerz, als wäre ich gegen eine Betonmauer geknallt. Die eben noch so Sanfte schlug noch ein zweites Mal zu.

Sie nahm mich zärtlich in die Arme. Ihr Antlitz war schön. Von sanfter Liebe erfüllt. Alle Liebe der Welt leuchtete aus ihren Augen. Ich hatte Angst. „Mein armer Kleiner“ – flüsterte sie und kitzelte mich am Bauch, dass ich schallend lachen musste. Ihr fielen ihre schönen, langen Haare ins Gesicht. Ihre rot geschminkten Lippen waren Erdbeeren. Ich konnte ihnen nicht widerstehen und näherte mich ihnen um sie zu küssen. Sie schob mich rüde zur Seite. Den ganzen Tag über lag sie in Bademantel und Schlüpfer vor der Glotze und wartete. Der Fernseher lief ohne Ton. Die Zimmer waren immer abgedunkelt. Die Rollläden ganz oder halb herabgelassen. Meine Mutter nahm mich freundschaftlich am Hinterkopf und zog mich an ihre nackten Brüste. Meine Lippen tasteten an ihren Nippeln. Auf einmal musste ich würgen. Sie drückte mich entschlossen an sich. Ich fühlte etwas. Die mich verschluckende Nähe eines schwitzenden und atmenden Körpers. Ein Schwamm will meine Haut und meine Blutgefäße durchsetzen. Die Angst nicht mehr ich selbst zu bleiben, ergriff mich. Die Gefühle drohten mich zu überwältigen. Die letzte Mahlzeit kam mir die Speiseröhre hoch. Ich rülpste laut. Sie riss mich zutiefst beleidigt an den Haaren. Sie hätte mir am liebsten die Augäpfel aus den Höhlen gerissen. Am liebsten hätte sie mir die Kopfhaut abgezogen und meinen enthäuteten Schädel ausbluten lassen. Sie hasste mich. Ihr war klar, wie sehr es mich vor ihr ekelte. Sie schlug wütend meinen Kopf gegen ihre weichen, glitschigen Brüste und flüsterte vor Erregung fast unhörbar: „ Seine Mutter muss man lieben.“

Schlagartig ließ sie mich los, erhob sich, blieb reglos vor mir stehen und starrte und glotzte mir so entgeistert zwischen die Beine, als wäre mir dort ein Totenkopf gewachsen. Das Starre und Harte. „Da habe ich ja eine kleine Nutte aufgezogen“ – rief sie mit vor Zorn weißem Gesicht. Abrupt drehte sie sich um, verließ die Küche und verschwand in das Schlafzimmer. Ich war nicht mehr ihr Sohn. Die Türe wurde fest verschlossen und sie drückte noch einmal gegen die Türe, ob sie wirklich zu ist.

Ich stand da und verstand nichts. Verlassen lagen die Erdbeeren zwischen den Scherben. Es stank in der Küche.

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© 2023 Michael Wiedorn
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Der verspätete Osterhase

Von Oliver Fahn

Dass der Osterhase einige Tage nach Ostern ihre Bankfiliale aufsuchte, fanden die noch von den Feiertagen geräderten Mitarbeiter der Sparkasse amüsant. Die verkleidete Person, die bei der Schaltermitarbeiterin Iris in der Schlange stand, blickte durch den Mund des Kostüms. Einen Korb mit Schokolade, Marzipan und mitunter auch tatsächlich von Hühnern gelegten Eiern, führte der Hase oder die Häsin mit. Ein verkleideter Mensch aus Fleisch und Blut, der augenscheinlich nicht ungeduldiger darauf spekulierte, von der Angestellten Iris in seiner Angelegenheit abgefertigt zu werden, wie andere anstehende Kunden auch, rückte zusehends an sie heran.

Ein kurzer Moment verstärkten Lichteinfalls ließ Barthaare erkennen. Seine Karte habe er vergessen, teilte er Iris mit, als er dicht vor ihr stand. Ob sie nicht ein paar Eier nehmen wolle. Für sich, für ihre Kolleginnen und Kollegen. Hineingreifen sollte Iris in das auf grünem Kunstgras gebettete Allerlei. Die Leckereien habe er eigens mitgebracht, um, wenn auch ein bisschen verspätet, ganz besonders frohe Ostern zu wünschen. Sollte Iris die Hasenshow in der bayerischen Provinz spanisch vorkommen? Was sie an die Absichten des Mannes glauben ließ? Er sprach in gezügeltem Dialekt. Und doch klang seine Stimme nicht ansatzweise gekünstelt oder in irgendeiner Weise verstellt.

Natürlich verlangte der Anstand von Iris, dass sie nahm, wenn man ihr anbot, von allem ein bisschen, von nichts zu viel, eben jeweils ein Exemplar von jeder Kreation, die der Korb beinhaltete. Danach sagte der Mann, er müsse selbst in den Korb fassen, nachsehen, ob alles seine Richtigkeit habe, am rechten Fleck läge, gegebenenfalls zurechtrücken, hernach hinausgehen und die Sorten nachfüllen, wenn sie sich dem Ende neigten.

Iris hörte dem kostümierten Mann zu. Der schien sich in der Rolle des Erklärers zu gefallen. Daneben wühlte er, kramte in dem künstlichen Gras, griff tiefer als zuvor Iris, öffnete eine Art zweiten Boden und zückte unvermittelt, wie sie bei ihrer späteren Vernehmung schilderte, eine Waffe. Sobald er den Lauf in seinen eigenen aufgerissenen Mund hielt, schloss Iris ihre Augen. Blutüberströmt, wie er auf den Fliesen des Geldinstitutes gelegen haben musste, hatte sie sich bis zuletzt strikt geweigert, den niedergestreckten Osterhasen anzublicken.

Iris hatte den Mann, von dem man ihr auf der Wache ein Bild zeigte, zwar nicht gekannt, doch es machte die Runde, er habe einen Abschiedsbrief in seinem Nachtkästchen hinterlassen, in dem er seinen Auftritt vorab angekündigt hatte.

Seine Frau hatte ihn verlassen, seine Freundin die Affäre mit ihm endgültig aufgekündigt. Aus dem Brief gingen jene Zerwürfnisse hervor und sein final unabwendbarer Wunsch, ein Urteil zu fällen, ein aufsehenerregendes.

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© 2023 Oliver Fahn
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Oliver Fahn, *1980, Pfaffenhofen an der Ilm, verfasst regelmäßig Kurzgeschichten für Kulturmagazine und Anthologien. Darüber hinaus hat Fahn gemeinsam mit Polina Jäger drei Bücher veröffentlicht: „Wohin die Fährten führen“, „Absturz“ und „Lebewohl“.
Kontakt unter: oliver.fahn@gmx.de