„Gabriel“ x 5,5 – Georges Sandes Werk im Fahrstuhl des Grauens

Von Tabita Prochnau

Berlin. Nieselriegen. Vier Grad. Und nein: damit ist nicht der Songbeginn der Band Laing gemeint. Sondern die betongraue Realität an einem Morgen im deutschen Hauptstadt-Dschungel. An einem SCHEISS Morgen, fügt Kurt Krömer in Gedanken hinzu. Da wird ja selbst die Zahnfee noch chronisch depressiv. Wütend stapft er in seinem maßgeschneiderten Herrenanzug von der U-Bahn Mohrenstraße weiter Richtung Wilhelmsplatz. In den Pfützen am Straßenrand schwimmt Benzin. Aber Reinhard May hat gelogen: Der Regenbogen ist bei weitem nicht schillernd-schön, sondern schmierigabstoßend. Zum Kotzen!, denkt Krömer. Nachdenklich rückt er seine Nickelbrille zurecht. Und beim Nachdenken rutscht der Comedian, mit bürgerlichem Namen Alexander Bojcan, immer mehr in seine Rolle als der Berliner Kurt Krömer.

„Moment Mal, is det heute eigentlich noch zeitgemäß? Also, darf man det heute überhaupt noch sagen, Mohrenstraße? Oder is det dann wieder die Schaumkuss-Straße? Ach ne, da jibt’s ja gar kenen „Kopf“, dat jibt’s ja nur beim Negerkuss, ach ne…“

„Kurt, du rassistisches Schwein!“, reißt ihn eine kehlige Frauenstimme aus den Gedanken. Kurt zuckt zusammen. Hat er das alles gerade etwa laut gesagt? Die Frau fängt an zu lachen. Es ist Nura, die Rapperin. „Mensch Kurti, jetzt hab disch nicht so! Komm mal runter, Junge! Du weißt doch, dass isch so was nischt ernst mein!“ Kurt lächelt gequält. Nura konnte er noch nie richtig einschätzen, irgendwie macht ihm die immigrierte Deutsche Angst. Dass sie eine sabbernde Bulldogge an der Leine führt, macht es nicht besser. Kurt hatte schon immer Angst vor Hunden, vor allem vor solchen, die eigentlich als Kampfhunde geführt werden.

„Brauchst gar keine Angst haben, Mann. Chilli ist echt ne liebe, die tut keiner Menschenseele was an, würklisch.“ Vielleicht keiner Menschenseele, aber einem Kurt Krömer? „Mensch, das hab isch dir doch auch vor ein paar Wochen bei der Aufnahme zu deinem Podcast „Feelings“ gesagt. Wirst du jetzt auch noch dement?“ Nein, nur chronisch depressiv, denkt Kurt. Er seufzt.

„West de was? Ick bin hier mit mener Therapeutin verabredet. Ick bin nämlich depressiv, dat hab ick alles in menem neuen Buch geschrieben. Jetzt ist es raus: Ja, ick bin depressiv und hab heute hier wieder meine wöchentliche Sitzung“.

Nura blickt ihn stumm an, dann sagt sie: „Witzig. Isch nämlich auch, Kurti, isch auch. Chilli begleitet mich heute ausnahmsweise.“ Prima, die Rapperin, ihr Hund und der Comedian allesamt bei derselben Therapeutin. Kurt sollte sich das chronische viel zu früh Kommen abgewöhnen. Dann könnte er solch unangenehme Begegnungen umgehen. Die drei betreten das hohe Gebäude und laufen schweigsam nebeneinander zum Fahrstuhl. Kurz bevor sich die Tür hinter ihnen verschließt, hastet noch eine Frau zu gerade so herein.

„Hallooo“, flötet sie überfreundlich, während ihr die überfüllte Tasche von der Schulter gleitet und der Inhalt sich im Fahrstuhl ausbreitet. „Ach du liebe Güte“, stößt sie hervor. Die Frau errötet, als sie sich bückt und eilig versucht, den gesamten Inhalt wieder in ihre Tasche zu befördern. Wiederwillig bückt Kurt sich ebenfalls. Nura steht einfach nur da und glotzt. Chili auch. Mit offenem Maul, aus dem links und rechts die Spuck-Fäden nur so herunter triefen.

„Auu“, Kurt hält sich den Kopf. „Oh, tut mir leid.“, stammelt die Frau und reibt sich die Stirn. „Schon gut“, murmelt Kurt. Dann fällt sein Blick auf das soeben heruntergefallene Buch, das er nun in seiner Hand hält. Es ist „Gabriel“ von George Sand. Vom Reclam-Verlag. Ach du Scheiße. Was ist das denn für eine? Hastig reißt ihm die Frau das Buch aus der Hand und wendet sich ab. Kurt tut es ihr gleich. Vorsichtig schielt er zu ihr herüber. Jap, die ist rot angelaufen. Kurt räuspert sich. Dann peinliche Stille.

Nein, keine Stille. „You`re The First, My Last, My Everything“ dudelt aus dem Fahrstuhl-Lautsprecher. Oh Gott. Das wird ja immer schlimmer.

Still lauschen die drei Barry Whites fröhlichem Gesinge, Chilli hechelt vor sich hin. Ein kleiner Gong und die Tür zum Fahrstuhl öffnet sich. Gottseidank, die rettende Erlösung. Kurt zuckt zusammen, als er auf die Knopfleiste blickt. „Scheiße!“, rutscht es ihm heraus. „Dat is ja noch jar nicht der fünfte Stock!“

„Na, na, na, junger Mann. Was nehmen Sie ägentlich für Wööörter in den Muuund?!“ Ein älterer Herr mit Hut, langem Mantel und brauner Aktentasche betritt den Fahrstuhl. „Wissen Sie eygentlich, was anständige Sprache iest?“ Kurt wird mit jedem Wort des Fremden ein Stück kleiner. Nur sein österreichischer Dialekt mach ihn ein kleines bisschen sympathisch.

Gerade als sich die Fahrstuhltüren zu schließen beginnen, springt ein junges Mädchen herein. „Oh. Mein. Gott. Der ist ja süüüüß!“, kreischt sie aus voller Kehle und bückt sich zur sabbernden Chilli herunter. Kurt schnaubt. Ha, von wegen. Endlich schließen sich die Türen und der Fahrstuhl setzt seine Fahrt nach oben fort. Barry White singt immer noch seinen Disco-Song. Dann rumpelt es leicht und der Fahrstuhl bleibt stehen.

„Soooo, Sie fragen sich sicher alle, warum ich Sie hier versammelt habe“, flötet die komische Frau mit der viel zu vollen Umhängetasche und klatscht dabei in die Hände. Der Mann mit dem Hut schüttelt den Kopf. „Neyn, eygentlich nicht. Iech fraaage miech viel eher, warum Sie den Nootfallknopf gedrüüückt haben.“ Der Mann kam eindeutig aus Wien.

„Nun, also, äh, das ist so…“, beginnt die komische Frau zu stottern und läuft dabei knallrot an. „Nur keyne Paaaniek, atmen Sie eynfach eynmal dieeef eyn und auuus“, meint der Österreicher mit einer Seelenruhe. „Iech mache es Ihnen vor, schauuuen Sie, soooa“. Der Mann stellt seine Aktentasche auf den Boden und hebt langsam die Arme nach oben. Gleichzeitig atmet er tief ein. Als er seine Arme senkrecht über den Kopf ausgestreckt hat, setzt er seine Vorstellung fort.

„Uuuund nuuuun maaachen Sie das gaanze rüüüückwärts. Sie nehmen Ihre Arme nach uuuunten, und atmen dabey laaaangsam und kontrollieeert aus. Diese Üüüübung mache iech mit meynen Stuuudenten auch iemmer.“ Die Frau folgt getreu seinen Anweisungen. Natürlich rutscht ihr dabei wieder die Tasche von der Schulter.

„Ach Mist!“ Sie seufzt. „Nun, wie dem auch sei. Dankeschön!“

„Bieeeeteschön,“ entgegnet der Mann höflich.

„Also: Mein Name ist Beate Blumberg. Ich bin Agentin für Diversität am Badischen Staatstheater in Karlsruhe. Im Bereich Schauspiel läuft bei uns gerade ein ziemlich unbekanntes, wenngleich auch sehr wichtiges Stück. Vielleicht kennt der ein oder andere von Ihnen das Buch „Gabriel“ von George Sand…“ Keiner sagt etwas.

„Ja, icke“, meldet sich Kurt schließlich und Beates Augen werden in freudiger Hoffnung größer. „Dat Buch is doch in Ihrer Tasche!“ Beate wirkt enttäuscht.

„Ja, genau, ist es. Also bis vor kurzem gab es dieses Buch auch nur auf Französisch, George Sand ist ja auch eine französische Schriftstellerin gewesen. Jedenfalls wird das Buch und seine Geschichte, die George Sand vor rund 200 Jahren erfunden hat, gerade erst wiederentdeckt. Nun fragen Sie sich sicherlich, was das Ganze mit Ihnen zu tun hat…“

„Allerdings“, murmelt Kurt lustlos. Beate wirft ihm einen bösen Blick zu. Das sieht bei ihr in etwa so einschüchternd aus, wie ein Eichhörnchen-Baby.

„Als Agentin für Diversität ist es meine Aufgabe, den Spielplan auf diverse Aspekte hin zu überprüfen und dahingehend aktiv mitzugestalten. Auf den Bühnen von heute soll es bunter werden. Das heißt: gender-gerechter, queerer, internationaler und inklusiver. Denn nur diese Vielfalt repräsentiert unsere heutige Gesellschaft auch zeitgemäß. Und jeder weiß, dass es beim Theater wirklich existenziell wichtig ist, mit aktuellen und modernen Themen, die Publikumsplätze möglichst voll zu bekommen. Als Agentin für Diversität bin ich dabei auch für Kommunikation verantwortlich. Denn wer soll besser beantworten können, ob unsere Programme tatsächlich so divers und zeitgemäß sind, als unser potenzielles Publikum, unsere vielschichtige Zielgruppe, selbst?“ Keiner antwortet.

„Und dabei kommen Sie ins Spiel“, fügt Beate einladend hinzu. Dann wieder Stille. Nur Barry White ist nach wie vor von ihr angetan.

„Was ist denn Gabriel so für ein Dude? Wie ist der so, wat macht der?“, fragt Nura.

„Soweyt iech weyß ist „Gabriel“ ein juunger Maaann, der im Aaalter von 17 Jahren erfährt, dass er gar keyn Mann iest“, erklärt der Mann mit dem Hut.

„Hä? Wie jetzt?“, fragen Nura und das junge Mädchen gleichzeitig.

„Sie haben miech schon riechtig verstaaanden, meyne Daamen. Gabriell iest eygentlich eyne Frau, er wurde aber vom Großvater von der Außenwelt isoliert und als Mann aufgezogen“.

„Oh mein Gott, wie crazy ist das denn! So ein TikTok würde safe viral gehen, oh mein Gott!“ Das Mädchen hört auf, Chilli zu streicheln und kramt stattdessen sein Handy aus der Hosentasche.

„Alter Schwede!“, meint nun auch Nura. „Und was hat Mister, äh, Misses, Gabriel dann gemacht?“ „Nun, Gabriel, oder soll iech lieber sagen: Gabrielle?“, fragt der Mann schmunzelnd. Als keiner lacht, fährt er fort. „Gabriel iest dermaßen aufgebracht. Und wüüütend auf den Groooßvater, der ihm das Gaaanze eyngebrockt hat, weyl seyn Erbe natürlich nur an eynen männlichen Naaaachkommen üüübergehen kann. Und der Groooßvater, eyn reycher Füürst, kann eben Gabriels Cousin wierklich überhauuupt niecht leyden.“

„Oh mein Gott, die Story ist ja wirklich besser als Game of Thrones!!! Das müssen sofort meine Follower erfahren, ich geh einfach kurz Live“. Das Mädchen daddelt auf ihrem Handy herum, bevor es fortfährt. „Oh mein Gott, Leute, ihr wisst gar nicht, was hier grade passiert. Ich sitze hier grade im Aufzug, ja? Neben mir ist voll der süße Hund, ja, guckt mal. Sag mal „Hallo“!“ Chilli reagiert überhaupt nicht. Bis auf den Speichel, der schier in Bächen aus ihrem Maul trieft. Angewidert dreht das Mädchen ihre Handykamera.

„Ok, egal. Also hier sind auf jeden Fall so Leute im Fahrstuhl, ok? Und dann hat die eine Frau einfach den Fahrstuhl gestoppt. Die hat den einfach GESTOPPT, ok?! Die ist irgend so eine Geheimagentin, oder sowas und hat uns nach einem „Gabriel“ gefragt. Und jetzt haltet euch fest, weil die Story von diesem Gabriel ist einfach abnormal besser als Game of Thrones ist. Ohne Witz, Leute. Oh-ne Witz!“ Das Mädchen richtet die Kamera auf den älteren Mann. „Hey, Sie, können Sie das, was Sie gerade gesagt haben nochmal erzählen?“

Der Mann mit dem Hut holt Luft, doch Kurt kommt ihm zuvor. „Also sorry, aber ick muss jetzt mal zwischenjehen, ja? Also, damit ich dat auch wirklich checke, ja? Dieser Gabriel ist ne Frau, wurde von seinem Großvater wegen ner Erbanjelegenheit aber als Typ erzogen??? Dat is ja jeisteskrank! Der Alte ist ja schlimmer als men Vater, und von dem hab ick ja schon en Trauma.“ „Exakt!“, ruft der ältere Mann zufrieden aus. „Sie haben es erfasst, meyn Guter!“ „Ok, aber wie geht die Story jetzt weiter?“, fragt das Mädchen ungeduldig.

„Gabriel maaacht siech auuuf zu seynem, beziehungsweise iehrem verhaaassten Cousin, Astooolphe“, fährt der Mann fort.

„Astolphe, ach du scheiße, was ist das denn für ein Name! Astolphe!!!“, presst Nura schallend lachend hervor. Ihre kehlige, dunkle Stimme donnert durch den Aufzug. „ASTOLPHE! Ich kann nicht mehr! Das ist einfachzu geil!“ Der Mann mit Hut zeigt sich weniger belustigt.

„Nun, Astoooolphe“, versucht er fortzufahren, aber Nura lacht noch immer. „Astooolphe…“ Er räuspert sich und würft Nura einen warnenden Blick zu.

„Ok, ok, sorry, Meister. Isch bin schon ruhig”, sagt sie immer noch leicht glucksend.

„Astooolphe und Gabriel begiennen eyne wuuunderbare Kamerraaadschaft. Aber niecht nur das. Astoooolphe verliebt siech in Gabriel und iest daher uuuumso erleychterter, als er erfäääährt, das Gabriel in Wahrheit eyne Frau iest. Uuund sooo werden die beyden eyn Liebespaar.“

„Oh. Mein. Gott. Wie ist das SÜSS!!!“, kreischt das Mädchen. Ihre Kamera hält sie immer noch mitten auf das Geschehen.

„So, und dat is jetzt die Jeschichte jewesen? Die beiden sind ein Paar, knutschen auf der Bühne rum und wir können alle Friede, Freude, Eierkuchen nach Hause jehen?“, wirft Kurt ungeduldig ein. Der Mann mit dem Hut schüttelt den Kopf.

„Da muss iech Sie leyder enttäuschen, meyn Lieber. Im Gegegenteyl: Gabriel uuund Astooolphe haaaaben eyne Beziehungskriese. Schließlich wüüüünscht siech Astoooolphe eyne Frau an seyner Seyte, die ihm uuunterstellt uuund uuuunterlegen iest. Eyne Frau, die gaaanz iehm gehööört uuund deren Zuuuneygung er siech gewiess seyn kaaann.“

„Boah, das ist doch so typisch ey. Totale toxische Männlichkeit. Alter, wenn ich so was höre, ey, wirklisch, da könnte ich ausrasten. Ich könnte solchen Typen echt so eine reinhauen, da wissen die nischt mehr wo oben und unten ist! Das sag ich euch!“, meint Nura energisch.

„Na, na, na, juuuunge Daaaame. Sie müüüüssen eyn biesschen auf Iehren Toooonfall aachten.“

Nura funkelt ihn bösen an. „Nuuun guuut, reeecht haaaben Sie ja, daas muuuss iech Iehnen laaassen“, meint der Mann beschwichtigend. „Aaaber wie deem auch sey: Gabriel wird aam Eeende Ooopfer von seynem maaachtgierigen Groooßvater.“

„Näh! Da könnt ich ja schon wieder kotzen im Strahl! Das ist einfach immer so eine patriarchale Scheiße. Wegen so alten, weißen Männer wie diesem Otto…“

„Iech wiell nur kurz aaaanmeerken, dass der Vooorname des Füüürsten im Buuuuch nieeecht bekaaaant ieeest“, wirft der Mann mit dem Hut ein.

„Ja, mir doch egal. Dieser Honk von Lackaffe halt. Ein patriarchales Kapitalismus-Opfer!“

„Welch hüüüübscher Neologieesmus, eyne wuuuunderbare Wortneuuuschöpfuuung“, bemerkt der Mann.

„Neo-Lo-Was?“, fragt das junge Mädchen mit dem Handy.

„Ne Wortneuschöpfung, du bildungsfernes Wesen. Du kommst etwa auch aus Neuköln, wa?“, meint Kurt trocken.

„Nee. Ich komm aus Berlin.“, antwortet das Mädchen, schnalzt mit der Zunge, rollt mit den Augen und wirft ihre Haare nach hinten, direkt in Chillis feucht-klebrige Schnauze. Chilli bringt brummend ein Art Kläffen hervor und guckt sichtlich empört drein.

„Wunderbar, das war ja wirklich eine fantastische Gesprächsrunde. Wirklich großartig!“, schaltet sich Beate ein und klatscht wieder in die Hände. „Gabriel“ scheint also wirklich ein Stoff zu sein, der zeitgemäß und aktuell ist, Jung und Alt miteinander verbindet und jeden individuell anspricht. Sie haben mir mit dieser Erkenntnis wirklich sehr weitergeholfen. Haben Sie vielen Dank!“ Beate betätigt erneut die Notfalltaste und der Fahrschul setzt sich mit einem leichten Ruck wieder in Bewegung. Und Barry White singt noch immer.

„Als kleines Dankeschön habe ich hier für jeden von Ihnen eine Eintrittskarte für das Stück „Gabriel“ im Badischen Staatstheater in Karlsruhe. Herzliche Einladung!“ Beate kramt aus ihrer vollen Umhängetasche vier Eintrittskarten hervor und drückt jedem eine davon in die Hand. „Nochmals vielen Dank“, meint sie herzlich lächelnd. Dann gongt es wieder und die Türen zum Fahrstuhl öffnen sich. Das Grauen hat endlich ein Ende.

Nur Barry White singt noch ein letztes Mal: „Girl you’re my reality, But I′m lost in a-a-a a dream. You’re the first, you′re the last, my everything”.

*

© 2023 Tabita Prochnau
Alle Rechte vorbehalten

„Schöne Stille“

Von Michelle Pyritz

Stille. 24 Stunden ein und dieselbe Wand. Angst. Und die ständige Sorge darum, was als nächstes passieren würde. Die Haut ist eingefallen. Die Gesichtsfarbe ähnelt einer Leiche. Jeder kämpft nur für sich. Aber ich habe den Kampf längst verloren. So fühlt sich aufgeben an.

Du sitzt dort und hoffst und bangst, dass dein Blick ihn nicht provoziert. Deine Worte nicht zu laut sind. Der Rücken ist nass kalt. Genauso fühlt sich ständige Angst an. Der Kopf ist immer hellwach. Adrenalin stoßt dauerhaft durch die Venen.
Das passiert, wenn dein zu Hause zum Gefängnis wird.

Ich sitze in meinem und alles was ich habe, sind meine Gedanken. Mein Leben lang begleiten sie mich schon. Immer freundlich, immer in Liebe. Aber heute sind sie verändert. Sie sind nicht mehr freundlich, sie haben seinen Ton angenommen. Sie haben seine Worte einfach übernommen, wie eine neu bespielte CD.
Sie sind böse, feindselig und voller Kritik.
Um aus diesem Gefängnis auszubrechen braucht man viel Mut. Diesen habe ich verloren. Die Stimme in meinem Kopf, die mich so treu begleitet hat, ist auch gegen mich.
Wem soll ich trauen, wenn nicht mir selbst?
Wenn sich Hoffnungslosigkeit in mir breit macht, fühlt sie sich wohl. Also gebe ich ihr, was sie will, um mich ein klein wenig besser zu fühlen.

„Warum guckst du schon wieder so depressiv?“, fragt er so, als könne er meine Gedanken lesen. Ich weiß, dass jedes Wort falsch sein könnte. Wie bei einem Tier macht sich mein ganzer Körper bereit für das, was gleich passieren wird.
„Seit wann interessiert dich denn wie ich gucke?“, die feindselige Stimme wird jetzt laut. Meine echte ist mittlerweile vollends verstummt und liegt irgendwo in der Ecke, stumm und traumatisiert.
„Warum bist du so frech? Kann man dir keine normale Frage stellen ohne so eine blöde Gegenfrage von dir zu bekommen? Wie kann man so ekelhaft sein?“
„Der Mensch passt sich an. Das ist meine Geschichte. So wurde ich zum ekelhaftesten Mensch Deutschlands…“, das letzte Wort konnte ich kaum noch aussprechen. Und Bam. Der erste Schlag geht direkt in den Magen. Ich krümme mich auf den Boden und merke die Tritte kaum, die gegen die Rippen gehen. Ja, der Mensch passt sich an. Und der Mensch gewöhnt sich an alles. Ich nehme die Prozedur hin, wie lästiges Beine rasieren im Sommer.
Er setzt mich, nachdem er fertig ist, auf und versucht in meinem Gesicht zu lesen, ob ich jetzt wieder normal und hörig bin.
„Nochmal die Frage. Warum bist du so ekelhaft?“
„Weil du ausgesucht hast mich zu lieben.“

Ruhe. Stille. Das einzige, was ich noch mitbekommen habe, war seine Hand, die meinen Oberkörper gegen den Türrahmen geschleudert hat. Es wurde warm um meinen Kopf. Kein Schmerz, absolute Stille. Sein Gesicht unter Schock, seine Augen weit aufgerissen. Ich höre seine Worte nicht mehr. Alles ist warm. In mir ist kein Schmerz mehr. Ich schaue nach links und sehe überall rot.
Meine nette Stimme ist erwacht und sagt mir, dass ich loslassen soll. Der Schmerz, die Wut, die Angst- das ist jetzt alles vorbei. Es gibt niemanden mehr, der uns weh tun kann. Niemanden, der uns Hoffnung macht und dann am Ende doch nicht hilft. Aber sie muss nicht mehr viel sagen. Es ist nach langer Zeit das schönste Gefühl meines Lebens. Es ist warm, ohne Schmerz. Ohne Angst. Die Stille ist wunderschön – also gebe ich mich ihr hin. Und lasse los.

*

© 2023 Michelle Pyritz
Alle Rechte vorbehalten

Das Sofa

Von Matthias Kümpel

Er saß auf dem weißen Sofa im Wohnzimmer, nippte an seinem Whiskey und sah hinaus in den Garten. „Zweihundert Quadratmeter Familienglück“ hatte sein Vater auf der Kommunionfeier gesagt: eine Rutsche, eine Schaukel, ein Sandkasten, ein Fußballtor, ein paar Bälle. Gleich würden seine beiden Söhne nach Hause kommen und nach einem leisen „Hallo Papi“ in ihren Zimmern verschwinden. Seine Frau würde wahrscheinlich nur einen kurzen Blick auf sein Glas werfen. Er sah auf die Uhr, es war kurz nach fünf.
Er lehnte sich zurück und spürte das kühle Leder des Sofas in seinem Nacken. Eine seltsame Schwere drückte ihn hinunter, tiefer hinein in das kalte Sofa. Wie tief konnte man in einem Sofa versinken? Er griff nach seinem Whiskey, hatte mit jedem Schluck das Gefühl, er müsse seine Hand ein wenig weiter, ein wenig höher nach dem Glas ausstrecken. Konnte man in einem Sofa ertrinken? Er setzte sich auf, hielt sich an der Tischkante fest, schloss die Augen und führte das Glas blind an seinen Mund.
Sein Telefon klingelte. Das Klingeln kam aus dem Sofa unter ihm, über ihm, er wusste es nicht, wollte es nicht wissen, wollte seine Augen nicht öffnen, noch nicht. War das seine Stimme? Mit wem sprach er? Er bemerkte, dass er seinen Mund öffnete und wieder schloss, doch das Sofa verschluckte alle Worte, jeden Laut. Er würde in diesem verdammten Sofa ertrinken! Er mußte irgendwie wieder an die Oberfläche gelangen aber jede Bewegung fühlte sich zäh an, gelähmt, erstarrte in dieser Kälte.
Da war eine Hand, ein Griff, jemand versuchte ihn am Handgelenk zu fassen, ihn festzuhalten! Er kannte diesen Geruch. Alles geschah in Zeitlupe, seine Arme, seine Zunge, atmen, er musste atmen! „Lächeln und Atmen, dann wird alles gut!“, das hatte er doch auf dieser Fortbildung gelernt.

Ich spüre den Schweiß auf meiner Haut, höre den Radiowecker oben aus unserem Schlafzimmer, wache auf zu den ersten Zeilen von „The Sound of Silence“. Der Garten liegt im Dunkeln, im Haus ist es still, ich höre nur ein Flüstern, mein Flüstern: „Es ist nichts passiert“.
Ich stehe auf und betrachte mein Spiegelbild im Glas der Terrassentür. Meine Nase blutet, ich weine. „Es ist nichts passiert“, nein, „es ist nichts passiert“. Meine Füße tragen mich in die Küche: niemand da. Ich werde oben nachschauen. Ich weiß, dass es keinen Sinn macht oben nachzuschauen, aber ich werde oben nachschauen. Im Flur ist es kalt, die Kellertür steht halb offen. Oben ist niemand. „Es ist nichts passiert“, das weiß ich, „es ist nichts passiert“.
Als ich die Treppe wieder hinuntersteige höre ich ihr Handy klingeln. Das Geräusch kommt aus dem Keller. Im Keller brauche ich nicht nachzusehen, das weiß ich, „es ist nichts passiert“. Ich schließe die Tür und lächle und atme.

*

@ 2023 Matthias Kümpel
Alle Rechte vorbehalten

Echo

Von Matthias Kümpel

Müde bin ich, geh zur Ruh
schließe beide Äuglein zu.
Vater lass die Augen Dein,
über meinem Bette sein.

EINS
Ich zuckte zusammen, spürte das Klopfen noch bevor ich es hörte. Mein ganzer Körper schien zu vibrieren. Ich öffnete die Augen: ich lag in meinem Bett. Das Klopfen wurde lauter mit jedem Mal, mit jedem Schlag, als hämmerte jemand mit – war es nur in meinem Kopf? Oder kam es hier aus dem Haus, von unten? Ich setzte mich auf, horchte, wartete auf einen klaren Gedanken. Nein, es war viel zu laut um von irgendwo anders herzukommen, es war in meinem Kopf, direkt in meinem Kopf! Ich ließ mich wieder zurück in mein Bett sinken und schloss die Augen, Schlag um Schlag blieb ich liegen, blieb ich einfach liegen.
Als ich wieder aufwachte war es still. Das Hämmern in meinem Kopf war verschwunden und diese Stille begleitete mich durch den gesamten Tag. Kein Geräusch drang zu mir durch. Erst am Abend, als ich einen Spaziergang durch die Felder rund um unser Dorf machte, kehrten die ersten Töne zurück: Autos auf der nahen Landstraße, ein leise gesummtes Lied hinter einem offenen Fenster, der Ruf einer Krähe und die Glocke der Kirche im Tal. Ich setzte mich auf eine Bank am Rande des Weges und mein Blick wanderte über eine Wiese hinab zu einem Wald. Ich schaute der Dämmerung zu, wie sie langsam aus den Bäumen kroch, lehnte mich schließlich zurück und schloss die Augen.
Plötzlich war es wieder da. Es kam aus dem Wald. Dann noch ein Schlag, regelmäßig jetzt, alle paar Sekunden. Es war nicht das Schlagen einer Axt, eher das eines Hammers gegen Holz. Waren es diese Schläge, die mir in der Nacht den Schlaf geraubt hatten? Aber was hatte sie aus dem Wald bis in mein Schlafzimmer getragen? Ich starrte auf die Bäume, doch mir fiel es schwer den Waldrand zu fokussieren. Mit jedem Schlag geriet er in Bewegung. Oder war ich es, der sich bewegte? Im Takt der Schläge?
Dann wieder Stille. Ich rieb mir die Augen, stand auf und beschloss nach Hause zu gehen, da sah ich für einen kurzen Augenblick eine Gestalt zwischen den Bäumen. Jemanden, den ich kannte. Hatte er zu mir herübergeblickt? Doch die Gestalt war sofort wieder verschwunden und bald war ich mir schon nicht mehr sicher, ob ich überhaupt jemanden gesehen hatte.

ZWEI
Er stand, die Füße schulterbreit, den Stiel mit beiden Händen fest umfasst. Er holte aus zu einem Schlag, aber erst als der schwere Hammer sein Ziel traf, wurde ihm bewusst was er tat, als wachte er plötzlich auf, aus einem tiefen Schlaf. Schlag um Schlag trieb er den Pfahl ein Stück weiter in den Boden. Und mit jedem Hieb waren seine Arme weniger in der Lage den Rückstoß abzufedern. Sie zitterten, sein ganzer Körper vibrierte, und erst als das Kreuz fest im Boden saß, ließ er den Hammer sinken, stützte sich auf dessen Stiel und starrte auf sein Werk. Er stand auf einer kleinen Lichtung, in die noch etwas vom letzten Licht des Tages sickerte. Der Wald ringsherum lag schon im Dunkeln. Nach einer Weile schulterte er den Hammer und folgte einem kleinen, kaum noch erkennbaren Pfad.
Als er den Waldrand erreichte, blieb er stehen, zögerte, trat noch nicht ganz hinaus auf die Wiese, die sich vor ihm erstreckte. Sie führte eine leichte Anhöhe hinauf zu einem Feldweg, und dort saß jemand auf einer Bank. Die Gestalt kam ihm bekannt vor. Er blieb im Schutz der Bäume und beobachtete sie, als sie plötzlich aufstand und direkt zu ihm hinunterschaute. Er trat einen Schritt zurück, zurück ins Dunkel des Waldes, doch die Gestalt hatte sich schon wieder abgewandt und ging Richtung Dorf davon. Hatte sie ihn – hatten sie sich gesehen? Er spürte wie sich seine Gesichtsmuskeln spannten. Er umfasste den Hammer mit beiden Händen, trug ihn vor seiner Brust und folgte mit großen entschlossenen Schritten der Gestalt den Hügel hinauf. Diese war kaum noch zu erkennen in der heraufziehenden Dunkelheit, und doch hatte er das Gefühl, er bräuchte nur seine Hand auszustrecken dann könnte er sie berühren, ihre Schulter greifen. Er spürte den Schweiß auf seiner Haut, seinen Atem, lauter und lauter mit jedem Schritt.

DREI
Ich schreckte hoch und saß aufrecht in meinem Bett. Hatte mich jemand gerufen? „Las mich hier raus!“ Ich kannte die Stimme, und dieses Hämmern, mir mittlerweile so vertraut, dass ich es zunächst gar nicht bemerkt hatte. Seit Tagen begleitete es mich, verfolgte es mich, kroch in mein Ohr, schlich sich in meine Träume und meine Tage. Hatte ich wirklich eine Stimme gehört oder machte mich dieser Lärm in meinem Kopf langsam verrückt? „Mach die Türe auf! Mach auf!“ – Da war sie, die Stimme. Sie kam von unten. Sie kam aus dem Keller. Und ich wusste auch woher ich diese Stimme kannte. „Bitte, Bitte!“ – flüsterte, flehte sie.
Ich stieg langsam aus meinem Bett, zog meine Hausschuhe an und ging die Treppe hinunter ins Erdgeschoß. Als ich unten angekommen war, blieb ich vor der Kellertür stehen. Sie stand offen, die Stimme war verschwunden. Im Haus war es still. Ich ging in die Küche. Draußen rauschte der Regen und schlug mit seinen Tropfen gegen das Küchenfenster. Ich beschloss mir einen Kaffee zu kochen.
Meine Hände zitterten. Die Heizung würde erst in einer Stunde angehen. Ich hörte der Kaffeemaschine zu und meinen Fingerspitzen, die langsam aber bestimmt auf das Linoleum des Küchentischs eintrommelten. Ich schaute zum Fenster. Die Dunkelheit hatte es in einen Spiegel verwandelt. Ich fühlte mich nicht so alt wie das Wesen, das mich dort durch das Fenster anstarrte. Wir sahen uns direkt in die Augen, beobachteten uns, belauerten uns. Wer würde sich als erster bewegen? Die Nacht hatte uns hier gemeinsam eingesperrt und es würde noch etwas dauern bis sie die Welt da draußen wieder freigab. Bis dahin waren wir allein. Als ich den frisch gebrühten Kaffee roch, stand ich auf und goss mir eine Tasse ein. Dann setzte ich mich wieder und wartete im leisen Surren der Neonröhre auf den Sonnenaufgang.
Es war kalt an diesem ersten Novembermorgen. Ich zog mir die Kapuze über den Kopf als ich das letzte Haus des Dorfes hinter mir ließ. Eine Krähe flog so dicht über mich hinweg, dass ich den Schlag ihrer Flügel hören konnte. An der Bank verließ ich den Feldweg und trat auf die Wiese, ging Richtung Wald, zu der Stelle an der am Vortag die Gestalt erschienen war. Das knöchelhohe Gras war bedeckt mit Raureif. Jeder Schritt entlockte dem matten Weiß ein leises Knistern und meine Füße hinterließen darin eine deutlich sichtbare Spur. Die Fichten standen hier dicht und ihre Äste hingen tief hinab. Ich trat ein in das Halbdunkel und spürte sofort die Stille.
Eine Weile folgte ich einem kleinen Pfad. Das Bett aus herabgefallenen Nadeln schluckte meine Tritte. Ich hatte das Gefühl mich hier auszukennen, obwohl ich mich nicht erinnern konnte diesen Wald schonmal betreten zu haben. Nach einiger Zeit stieß ich auf eine Lichtung. Sie war nicht größer als zwei oder drei Meter an jeder Seite. In ihrer Mitte stand, neben einer alten Eibe, ein frisch eingeschlagenes Kreuz. Ganz langsam, als schliefe dort etwas das ich nicht aufschrecken durfte, näherte ich mich.
Auf dem Kreuz ein Name und ein Datum. Und noch während ich darüber nachdachte was für ein Tag heute war, warum dort mein Name, wer dieses Kreuz mit meinem Namen – noch während ich dies alles dachte, sah ich die Bäume an mir vorbei gleiten. Zweige schlugen gegen mein Gesicht, meine Füße rannten. Sie rannten ohne zu wissen wohin. Ich konnte längst keinen Pfad mehr erkennen. Sie rannten und rannten und jeder Schritte hallte in meinem Kopf. Ich weiß nicht wie lange ich gerannt war, bevor ich stehenblieb und mich umsah. In mir spürte ich das schnelle Pochen meines Herzens, meinen lauten Atmen, kein Geräusch außer meinem Atem, kein Wind, kein Tier, außer mir. „Zu still für einen Wald“ hörte ich mich murmeln, während ich mich wieder umwandte, „viel zu still für einen Wald!“, da erblickte ich die Treppe.
Ich stürmte los, jagte die Stufen hinauf, stieß nach einigen Schritten auf die Tür. Sie war verschlossen. Ich schlug mit beiden Händen auf sie ein, hämmerte mit aller Kraft: „Lass mich hier raus! Mach die Türe auf! Mach auf! Bitte, bitte!“

Müden Herzen sende Ruh,
nasse Augen schließe zu.
Lass den Mond am Himmel stehn
und die stille Welt besehn.
(Nachtgebet, Luise Hensel, 1816)

*

@ 2023 Matthias Kümpel
Alle Rechte vorbehalten

Guerilla Sale

Von Christian Knieps

In einem Geschäft für Schlafzimmermöbel. An einem Schreibtisch sitzt ein gelangweilter Verkäufer und schlürft an seinem Kaffee. Beide Füße, an denen weiße Golfschuhe prangen, liegen auf dem Tisch. Es ist nichts los im Laden. Plötzlich ertönt die Eingangstüre, und ein potentieller Kunde kommt in den Laden. Dieser geht schnurstracks zu dem Verkäufer und setzt sich an den Tisch auf einen bereitstehenden Stuhl. Beide mustern sich eine Weile.
Verkäufer ohne sich zu regen:
Kann es sein, dass Sie gar nichts kaufen wollen? Sondern nur hier sind, um Stunk zu machen und meine Zeit zu fressen? Wenn Sie eine Beratung wollen, gehen Sie irgendwo hin, aber stehlen Sie mir bitte nicht meine Zeit!
Kunde:
Lassen wir das dumme Gequatsche! Mein Kumpel hat mir gesagt, dass es hier in diesem Laden einen Verkäufer gibt, auf dessen Beschreibung Sie haargenau passen, und der es schafft, Möbel zu horrenden Preisen zu verkaufen, ohne dass man eigentlich überhaupt was kaufen wollte! Nun, sind Sie das?
Kurze Pause.
Verkäufer:
Wenn es mich interessieren würde, wer Ihr Kumpel ist, würde ich mich jetzt am Kopf kratzen. Der Kunde schaut ihm auf dem Kopf. Anstatt, dass ich mir den Kopf kratze, kratze ich mir den Sack. Gehen Sie, bevor Sie noch mehr meine Zeit stehlen!
Kunde:
Mein Kumpel nannte es Guerilla Sale, was Sie machen würden. Ich bin ganz offen und ehrlich! Ich habe wenig Kohle und möchte auch nichts kaufen, will aber erfahren, wie Sie meinen Verstand brechen, um ein völlig überteuertes Geschäft zu machen, das ich weder brauche noch möchte.
Verkäufer:
Wie viel Bargeld haben Sie dabei?
Kunde:
Zweitausend. Frisch von der Bank abgehoben. Jetzt ist das Konto leer!
Verkäufer:
Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen einen Blankovertrag hinlege, wir tragen die zweitausend Euro als Betrag ein, Sie unterschreiben, gehen nach Hause und bekommen von mir irgendwas geliefert? Irgendwann einmal. Mit ein bisschen Rabatt sogar, wenn ich einen guten Tag habe. Dann wäre das ein angemessener Stundenlohn dafür, dass ich mir schon seit einer gefühlten Ewigkeit Ihr dummes Gewäsch anhören muss!
Kunde:
Man unterschreibt doch keinen Kaufvertrag, in dem zwar die Summe, aber nicht der Lieferinhalt aufgeführt ist!
Verkäufer:
Meine Kunden schon!
Kunde:
Ich werde das nicht unterschreiben!
Verkäufer:
Dann ist das Gespräch hiermit beendet. Sie kennen ja den Weg zum Ausgang. Sind ihn auch hierher zum Stuhl gekommen. Einfach zurückgehen und aufpassen bei der Tür. Die ist von innen geschlossen! Nicht, dass Sie sich den Kopf stoßen!
Der Kunde ist das erste Mal verwirrt. Nach einem Moment des Schweigens steht er auf und nimmt die zweitausend Euro aus dem Portemonnaie und legt sie auf den Tisch.
Kunde:
Ich will was verkauft haben!
Verkäufer:
Und ich will Ihnen nichts verkaufen! Versuchen Sie es an der Ecke bei der Pommesbude! Die verkaufen Ihnen sicher eine Currywurst, Pommes rotweiß, und Sie müssen nicht mal zweitausend latzen. Also, Tschüss jetzt. Gehen Sie mir aus der Sonne!
Kunde:
So funktioniert das nicht! Sie haben hier Angebote stehen, die ich annehmen werde. So funktioniert das in einem Kaufhaus! Sie machen Angebote, ich suche mir eins aus und kaufe es! Sie können nichts dagegen machen!
Verkäufer:
Klar kann ich das! Ich sage Ihnen, dass das, was Sie sich aussuchen, leider schon verkauft ist. Wir haben keine Ware im Angebot! Kurze Pause. Wären Sie jetzt so freundlich, Ihr Geld einzupacken und zu verschwinden! Wenn andere Kunden reinkommen, die wirklich was kaufen wollen, dann spüren sie die schlechte Stimmung, die Sie hier verbreiten und gehen dann wieder! Das wäre mir übrigens sehr unrecht – daher Abmarsch!
Der Kunde lässt sich nicht beirren und die zweitausend Euro auf dem Tisch liegen. Er geht durch den Laden und schaut sich die Schlafzimmermöbel an.
Kunde:
Was ist das für ein Bett?
Verkäufer:
Ist ein verkauftes Bett!
Kunde:
Und das hier?
Verkäufer:
Auch verkauft!
Kunde:
Und das?
Verkäufer:
Wollen Sie jetzt wirklich alle Betten durchgehen, um festzustellen, dass kein einziges hier ist, das ich Ihnen verkaufen kann? Würden Sie jetzt endlich meine Stimmung schonen und abdampfen?
Kunde kehrt zum Tisch zurück:
Nein, das werde ich nicht! Ich bleibe solange, bis Sie mir was verkaufen!
Verkäufer:
Der Laden schließt in dreieinhalb Stunden. Wenn Sie so viel Zeit haben, bleiben Sie einfach sitzen. Dann können wir warten, ob Sie nicht doch einen Blankovertrag unterschreiben, sagen wir mit einer Summe von zehn-, fünfzehntausend. Dann würde sich meine Laune deutlich steigern.
Kunde:
Wo soll ich so viel Geld herholen?
Verkäufer:
Kenne ich Ihre Finanzen? Weiß ich, wie viele Kredite Sie laufen haben? Was Sie angespart haben? Ob Sie nicht irgendein Typ sind, der ein Kaufvertrag unterschreibt, um davon zurückzutreten? Das machen wir übrigens nicht. Wir geben keine Kulanz auf Rückgabe. Nur dass das von vorneherein klar ist. Falls Sie sich doch noch umentscheiden und ein ordentliches Bett kaufen wollen.
Kunde:
Ich habe ein ordentliches Bett!
Verkäufer:
Klar! Wenn das so ist – was machen Sie dann noch hier, außer mich anzunerven?
Kunde:
Ich möchte, dass Sie mir was verkaufen!
Verkäufer:
Wie gesagt, das wird nichts! Ersparen Sie uns doch einfach die nächsten sinnfreien Gesprächsfetzen und verlassen Sie den Laden. Das würde uns beiden den Tag retten. Vertrauen Sie mir dabei, ich habe eine riesige Expertise beim Retten von Tagen!
Kunde:
Ach, wirklich?!
Verkäufer:
Ja! Ihrem Kumpel habe ich ja auch den Tag gerettet!
Kunde:
Sie wissen, wer mein Kumpel ist?
Verkäufer:
Das brauche ich gar nicht! Ich kenne den Typen. Verweichlicht, kommt mit seiner Frau, unter deren Fuchtel er steht. Er will eigentlich nichts kaufen, ist pissed und genervt von meiner Laberei. Die Frau ist an mir interessiert, weil ich ein geiler Typ bin, und der Mann denkt sich, was ein Arsch! Aber ein Arsch mit Ahnung, und weil der meine Frau bearbeitet, muss er sich jetzt aus seinem Schneckenhaus hervorwagen und einen Krieg mit mir beginnen, der schneller als gedacht zu Ende ist. Am Ende haben wir vage was abgesprochen, es wird ein Kaufvertrag unterzeichnet und ich kann eintragen, was ich will. Der Gegenstand wird völlig überteuert verkauft, aber weil das immer noch eine richtig gute Qualität ist, ist auch der Kunde zufrieden und schläft in seinem Bett super, weil er entweder wirklich gut schläft oder weil sein Arsch beim Ficken nicht mehr ganz so tief einsackt, wenn die Frau auf ihm reitet. Egal, am Ende ist das eine Win-Win-Situation. Das, was Sie mit mir hier machen wollen, ist Selbstbefriedigung! Und das ist etwas, das mich nervt. Ich will nicht genötigt werden, für was herzuhalten, woran ich keinen Spaß habe. Ich sage Ihnen daher etwas – für unser beider Wohlgefallen: ich sichere Ihnen zu, dass Sie ein Bett erhalten, das einwandfrei ist und auf dem Sie jede Frau glücklich machen, die Sie hineinbekommen. Dafür fülle ich jetzt schnell und dreckig einen Kaufvertrag über fünfzehntausend Euros aus, den Sie unterschreiben. Die zweitausend behalte ich als Vermittlungsprovision, nicht als Anzahlung. Wenn Sie dann unterschrieben haben, fahren Sie nach Haus, sprechen mit Ihrer Bank und überweisen das Geld bis übermorgen.
Kunde sehr verunsichert:
Wann… Wann könnte ich… könnte ich denn dann mit einer Lieferung rechnen?
Verkäufer bewegt sich das erste Mal mit Schwung und klickt ein wenig im Computer an der Seite:
Vermutlich in diesem Jahrtausend noch. Keine Ahnung, solange, wie es halt dauert. Genauer geht es nicht! Aber machen Sie sich keine Sorgen. Wenn Sie einmal in dem Bett eingeschlafen sind, werden Sie wissen, dass es die richtige Entscheidung war. Er klickt noch einmal, streckt dann die Hand aus. Meine Provision! Bitte! Der Kunde nimmt den Geldstapel und gibt ihn mechanisch an den Verkäufer. Dieser steckt das Geld weg und zieht ein einzelnes Papier aus dem Drucker hervor. Hier bitte eine Unterschrift! Gibt dem Kunden einen Kugelschreiber, dieser nimmt ihn und unterschreibt den Vertrag. Und jetzt finden Sie ja bestimmt den Weg nach draußen! Einen schönen Tag noch.
Kunde ganz verunsichert:
Bekomme ich kein Vertragsexemplar?
Verkäufer:
Warum sollte ich Ihnen denn einen geben? Sie haben ja nicht vor, irgendwas zu reklamieren! Also bis bald! Vielleicht rufe ich Sie an.
Der Kunde steht wie benommen auf und taumelt auf den Ausgang zu. Das letzte im Stück, das man vernimmt, ist der Ton, der ertönt, wenn die Türe geöffnet wird. Alle ab.

*

© 2023 Christian Knieps
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Lagerfeuer-Geständnisse

Von Beat Meyenhofer

– [Leute, heute um 15 Uhr alle bei Tommy für unser erstes Camp in diesem Jahr!], schrieb Kerry seinen Freunden auf WhatsApp. Sie waren eine kleine Gruppe junger weisser Amerikaner, gut aussehend, alle blond bis auf einen, der typische Nachwuchs wohlhabender Familien aus dem Mittleren Westen. Einige von ihnen galten als ausgesprochene Modefreaks. Archer zum Beispiel hatte sich neulich seine schwarze Mähne kurzerhand bleichen und noch ein paar Silberplättchen einflechten lassen.

– „Hab’s auf teenvogue.com gesehen, was soll‘s?“, liess er trocken seine verblüfften Kameraden wissen. Archer gab gerne den Ton an, liebte die kurzen Ansagen. Wenn jemand nicht mitkam, konnte er ja fragen. Nur, wer würde das schon tun? Genau dies bestätigte ihm seine Überlegenheit.

Mittlerweile waren die Oberstufenschüler bereit, auf ihre Motorräder zu steigen, um in ein nahegelegenes Wäldchen zu fahren. Jedes Mal, wenn Kerry aufsass, ächzte seine Maschine, denn er war von klein auf fettleibig und so fuhr er stets alleine. Dafür diente sein Motorrad als Lastesel für ihre Ausrüstung. Wie immer zeigte sich Tom von seiner besten Seite. Ständig versuchte er sich in der Rolle des Sonnyboys, womit er die Nerven seiner Freunde strapazierte. In Archer sah er seinen grossen Rivalen, den galt es auszustechen. So klopfte er mit einladender Geste seinen Soziussitz für die süsse Olivia sauber. Sie war die Zuckerpuppe der Truppe, extrem attraktiv, gleichzeitig aber etwas einfach gestrickt. Die Jungs meinten, bessere Zensuren sähe sie wohl kaum je, bloss würden sie ihr bei dieser Figur auch nie fehlen. Karen sah nicht halb so gut aus wie Olivia, holte hingegen regelmässig gute Noten ab. Dann stellte eine unglückliche Liebschaft Karens Leben auf den Kopf. Ihre Noten sausten in den Keller und ihr Gewicht hob ab zum Mond. Sie verlor komplett die Kontrolle, stopfte alles Essbare in sich rein. Sie ging wie ein Pfannkuchen auseinander. Je mehr die dicke Karen beim anderen Geschlecht um Aufmerksamkeit buhlte, desto weniger stiessen ihre Bemühungen auf Interesse. Schon bald hatte sie alle möglichen Schlankheitsdiäten durch und fühlte sich immer gestresster. Also warf sie das Handtuch und beschloss, ihr Defizit mit übertriebener Fürsorge für die Gruppe zu kompensieren. Das Leben konnte echt mühsam sein, für beide Seiten!

Als Karen bei Sven, dem Benjamin der Truppe, aufsitzen wollte, wurde Sheila richtig laut. Spitze Worte flogen nach allen Seiten und sie weigerte sich strikt, mit Archer zu fahren. Sie wollte auf jeden Fall auf Svens Sattel steigen, denn bei ihm fühlte sie sich viel sicherer. Einmal mehr gab Karen nach und liess ihr diese überraschende Szene ohne ein Wimpernzucken durchgehen. Archer tat als ob. Dafür huschte ein Leuchten über Svens Gesicht: Könnte es sein, dass Sheila ein Auge auf ihn geworfen hatte? Dieser Gedankenblitz liess ihm rote Ohren wachsen. Als Jüngster musste er ständig auf der Hut sein und um seine Position kämpfen. Die Stärkeren sicherten sich mit Leichtigkeit ihre Privilegien, wogegen er oft leer ausging – zum Teufel auch! So kostete er diesen raren Moment des Triumphs aus und schob seinen Hintern ein paar Zentimeter weiter zurück als üblich, um sich möglichst eng an Sheilas Schoss zu schmiegen. Dann endlich fuhren sie los.

– „Hey Leute, da ist der Bach, da unten ist unser Platz!“, rief Karen mit fester Stimme, was die anderen mit freudigem Gejohle quittierten. Mit geübten Handgriffen schlugen die Jungs das Zelt auf. Es war drückend heiss. Die Luft war so feucht, dass das Blätterdach über ihren Köpfen viel intensiver roch als sonst. Kerry warf allen eine gekühlte Cola zu und die Jugendlichen streckten sich auf dem weichen, braunen Boden aus. Wunderbar, Natur pur! Diese Verschnaufpause dauerte viel zu kurz, denn schon explodierte die Stimmungskanone Karen:

– „Leute, ich brauch ’ne Abkühlung! Wer von euch springt mit mir ins Wasser, na?“ Ihre Kameraden streckten sich, durch die Schwüle noch etwas benommen. Dann aber flogen die Hosen wie Oberteile ausgelassen zu Boden und alle sprangen unter Freudengeschrei ins kühle Nass. Sie planschten herum wie die Kinder; schon bald war eine Wasserschlacht im Gange – diesem Freundeskreis anzugehören, war schlicht grossartig!

Jung sein macht hungrig. Bald hatten Archer und Kerry ein prasselndes Feuer entfacht. Friedlich sassen alle darum herum, beobachteten die züngelnden Flammen und zogen sich gelegentlich eine Nase voll Rauch rein. Nur so zum Spass, behauptete Kerry. Während die Mädchen die Tupperware-Schalen vorbereiteten, wachten die Jungs über die Steaks, die über der Glut brutzelten. Ein wahres Festmahl.

– „Hey Arch, mir ist schon klar, dass wir heute Abend nirgendwohin mehr fahren müssen; hör dennoch auf, so viel in dich rein zu kippen! Du weisst genau, dass du es nicht unter Kontrolle hast“, mischte Tom sich ein.

– „Ist mir völlig entgangen, dass du mein Alter wärst“, schoss dieser eiskalt zurück. Im Bruchteil einer Sekunde war die Spannung mit Händen zu greifen. Wieder war es Karen, der es gelang, die dicke Luft schnell wegzuwischen:

– „Mal easy alle, entspannt euch! Habt ihr bemerkt, wie es immer dunkler wird? Ich denke mir, dies ist der perfekte Moment für unsere kleine Geheimnisrunde. Wenn ihr wollt, lege ich schon mal los.“ So erfuhr der Kreis, wie ihre Eltern sie vergangenen Sommer auf eine Rundreise durch Frankreich mitgenommen hatten, auf der sie sich leider unzählige Male übergeben musste. Ihre bescheidenen Französischkenntnisse habe sie partout nicht auf die Reihe gekriegt, sondern sich dauernd darin verheddert. In einem Provinzstädtchen habe sie einen feschen Typen getroffen, der sie angelächelt und immer wieder „baiser, un baiser…?“ gesagt habe. Die korrekte Bedeutung habe sie bis heute nicht herausgefunden. Sie seufzte, keiner lachte.

– „Genau, Missverständnisse sind wie Springminen. Die können an jeder Ecke aufpoppen!“, meinte Sven, der sich ungeduldig als nächster in der Runde vordrängelte.

– „Jetzt halt mal den Ball flach, Kleiner“, warf Kerry ein. „Ihre Eltern werden sie wohl kaum in ein militärisches Trainingslager gebracht haben.“

Sven steckte es weg, denn er wollte auf keinen Fall seinen Einsatz riskieren. Er konnte keinen Augenblick mehr länger warten, seine gruseligen Erfahrungen mit zwei heimtückischen Skorpionen loszuwerden. Ausführlich beschrieb er den Campingausflug mit seinem Vater an einen einsamen See, wo die Viecher mitten in der Nacht seinen Schlafsack hochgekrochen kamen. Alles sei stockdunkel gewesen, ihre beiden Taschenlampen fast hinüber. Da habe er gerade noch… – Die Mädels hielten es keine Sekunde länger aus. Sie kreischten und sprangen wie wild ums Feuer. Derweil sich „Shorty“ mit einem genüsslichen Grinsen an einen Baum lehnte.

– „Das kann ich toppen“, trompetete Tom, „hört gut zu!“ In seinem Abenteuer tischte er drei giftige, langbeinige Spinnen und eine Reihe aggressiver Fledermäuse auf. Er beteuerte, er sei in jener Höhle mehrmals gebissen worden. Er behauptete steif und fest, dass er heute nicht hier sitzen würde, hätte ihn sein Vater nicht im letzten Moment ins Krankenhaus gebracht. Sein linkes Bein sei schon ganz steif gewesen, auch hätte er kaum mehr ein klares Wort sprechen können. Kleinlaut schob er nach, da die eiskalte Angst im Nacken gespürt zu haben.

– „Nun kommt mal wieder runter, alle miteinander“, rief Sheila, „und lasst mich euch eine Geschichte erzählen, die sich ganz in der Nähe zugetragen hat und erst noch hundertpro wahr ist.“

– „Was soll das denn heissen, Sheila? Auch meine Story ist hundertpro wahr!“, wehrte sich Spider Man, währendem er mit einem ärgerlichen Schluckauf kämpfte, den er sich mit einem zu grossen Schluck Bier eingehandelt hatte.

– “Easy, Tommy, is’ schon okay. Also meine Geschichte geschah im letzten Winter an einem späten Nachmittag. Ein total cooler Kerl stand allein da hinten bei den leeren Sportplätzen. Ein paar letzte Sonnenstrahlen fielen auf die Spielfelder. Da war nichts mehr los. Bissig kalt war‘s. Ich schielte immer mal wieder kurz rüber. Der Typ machte mega Eindruck auf mich. Ich konnte es nicht erwarten, dass er zu mir aufschliessen und mich anquatschten würde. Er sah einfach umwerfend aus: seine Lippen, das pechschwarze Haar, seine lässigen Bewegungen – alles liess mich schmelzen. Zuvor hatte er kein besonderes Interesse an mir gezeigt, aber an jenem Tag war das anders.“

– „Und was machtest du? Wie reagierte er denn? Nun red schon!“, unterbrach Olivia.

– „Easy, Liv, dazu komme ich gleich. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und hängte mich lässig in seinen Talk rein. Auch schenkte ich ihm ein paar verführerische Blicke und sparte nicht mit Komplimenten über sein gutes Aussehen, seine modische Kleidung, seinen tollen Haarschnitt. Dabei entging mir nicht, wie sich seine Augen weiteten, als ich ein Wort zu seinen eng anliegenden Jeans fallen liess.“

– “Komm schon, Sheila, nun übertreib mal nicht”, protestierte Tom.

– „Lass sie erzählen, Mann, das ist irre spannend!“, schnitt ihm Karen das Wort ab, damit ihre ältere Freundin fortfahren konnte:

– „Ein argloser Kuss tut nicht weh, oder? Girls, wenn ihr bloss ein einziges Mal seine samtenen Lippen gespürt hättet! Vorsichtig umschloss er meine klammen Finger und taute sie mit seinem heissen Atem auf. Darauf streichelte er zärtlich mein Gesicht, rubbelte meinen Oberkörper, wobei er dabei versuchte, seine Hände unter meine Fleecejacke zu kriegen.“

– „Das ist einfach nicht zu fassen! Und ausgerechnet du willst uns immer glauben machen, wie schlau du doch seist?“, hielt Olivia dagegen.

– „Schau Liv, als endlich mein Traumprinz vor mir stand, wie kannst du da von mir erwarten, dass ich diese Chance nicht packen würde? Er war so lieb zu mir, sagte sogar, er könne es nicht mehr länger mitansehen, wie ich schlotterte. Also öffnete ich vorsichtig meine Jacke. Alles fühlte sich gut an! Auf einmal begann er stockend zu atmen, worauf ich ihn ermahnte, dass Küsse und Petting ok wären, alles andere dagegen nicht. Er nickte, warf mir einen versichernden Blick zu, und wir hatten weiter unseren Spass. Was für ein überwältigendes Gefühl, seine starken Hände auf meinem Körper, seinen heissen Atem in meinem Gesicht! Mädels, ich bin sicher, ihr könnt euch vorstellen, was ich meine!“

– „Ja, schon…! Aber die Risiken…?!“, spuckte Karen geradezu aus.

– „Okay, die Risiken…“, gab die Hasardeurin kleinlaut zu. „Bloss ist das Leben ein Risiko in sich selbst, sagen alle. Ich entschied mich, den jungen Hengst mit innigen Umarmungen runter zu bringen. Es funktionierte, glaubt mir. Doch plötzlich spürte ich ein merkwürdiges Stechen im Unterleib. – Oh mein Gott, er war in mir drin!! Wie war das möglich?? Verfluchte Scheisse! Er hatte mich vollkommen überrumpelt und pumpte wild. Ich versuchte, mich herauszuwinden, kam aber nicht los. Darauf begann ich laut um Hilfe zu schreien, aber es war ja niemand da. Als… – …als er endlich fertig war, drehte er sich einfach um und ging. – –

– „Oh mein Gott, was machtest du dann?“, wimmerte Olivia verzweifelt.

– „Du hättest ihm kräftig zwischen die Beine treten sollen“, meinte Sven.

Sheila fühlte sich leer, war aber dennoch froh, ihre engsten Freunde in ihr Geheimnis eingeweiht zu haben. Sie musste sich erst wieder fangen. Endlich murmelte sie vor sich hin:

– „Was ich dann gemacht habe? – Nun, nichts hab ich gemacht, bin da gestanden und hab gewartet…“

– Olivia sprang zu ihr rüber und hakte nach: „Sheila, bitte! Hast du es deinen Eltern gesagt? Bist du ins Krankenhaus gegangen, oder hast du es der Polizei gemeldet? Raus damit jetzt! WAS in aller Welt hast du da gemacht?“, rief sie.

– „Wie hat er denn ausgesehen?“, fragte Karen ruhiger. „Wer war es? Kennen wir ihn etwa?“

– „Wer es war…?“, murmelte die missbrauchte junge Frau kaum hörbar. “Ich kann mich einzig an seine sanften Lippen erinnern, sein schwarzes Haar, die Liebe, die er… – – ..Mal ganz ehrlich, welchen Sinn hätte es gehabt, meinen Eltern davon zu erzählen?“, fand das Opfer langsam seine Stimme wieder. „Ach, unsere Eltern! Mindestens tausendmal am Tag liegen sie uns in den Ohren mit ihrem „Ich hab dich lieb!“ – aber sie meinen es nicht wirklich. Sie kümmern sich lieber um ihren eigenen Kram, mehr ist da nicht. Da habe ich es vorgezogen, es mit euch zu teilen, hier am Lagerfeuer…“ – –

Mit leeren Blicken starrten die anderen in die Dunkelheit und vermieden jeden Blickkontakt. Tom hatte noch immer mit einem Ständer, der ihm seinen Schritt unangenehm ausbeulte:

– „Verflucht, immer dasselbe mit diesen Tussis: erst machen sie uns an, nur um uns gleich wieder fallen zu lassen!“, platzte er heraus.

– „Wie kannst du es wagen!“, unterbrach ihn Karen puterrot vor Wut. „Das ist absolut inakzeptabel, halt sofort die Klappe!“

– „Ach, hör bloss auf damit!“, blaffte Tom zurück, „Was, wenn sie sich das alles nur ausgedacht hat? Sheila, gib‘s doch zu, alles erfunden, nicht wahr?“

Die ganze Zeit über sassen Kerry und Archer etwas abseits und schwiegen. Plötzlich stand der Anführer auf, ging zum Lagerfeuer und fing an, ziellos in der Glut herumzustochern. Dabei tat er so, als sei er in einem ganz anderen Film, gar nicht richtig da. „Was führt sie im Schild? Warum ausgerechnet jetzt, verdammt?” waren nur zwei der bangen Fragen, die sein junges Gemüt plagten.

*

© 2023 Beat Meyenhofer
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177 B5

Von Olaf Urban-Rühmeier

Am Mittwoch begegnete Jan seinem Doppelgänger. Er hatte ihn lange nicht gesehen. Er war älter geworden, aber Jan erkannte ihn beim genauen Hinsehen. Es ging ihm nicht gut.

Jan war an diesem Mittwoch 36 Jahre alt. Er wirkte auf seine Umgebung immer noch jugendlich. Er hörte oft, dass er auch leicht zehn Jahre jünger sein könnte. Gelegentlich dachte er, was ist so schlecht daran, 36 zu sein? Bin ich eine stehengebliebene Uhr und das Kompliment ist gar keins?

Ein Doktortitel in Soziologie gab ihm etwas Halt. Er hatte seine Arbeit über Identitätsgrenzen von Systemen verfasst, kein Smalltalk-Thema. Gelegentlich starrte er auf die gedruckte Ausgabe seiner Arbeit, im Regal über seinem Schreibtisch und fragte sich, was das war und wer das geschrieben hatte.

Jan war seinem Doppelgänger beim Wehrdienst begegnet. Sie standen in einer Reihe nebeneinander, grün und gleich aussehend und die Vorgesetzten verwechselten sie. Sein Doppelgänger hieß Marius, aber alle nannten ihn nur mit dem Nachnamen Korte. Genau wie er etwas mehr als mittelgroß, mittelblond und schlank.

Umgeben von Rekruten aus dem Rheinland und Westfalen, Männern, die eine Berufsausbildung absolviert hatten und im Leben standen, wirkten sie noch ähnlicher. Korte und Jan entstammten der norddeutschen Tiefebene, hatten gerade ihr Abitur abgelegt und standen am Anfang. Einmal hatten sie aus einer Laune heraus ihre Feldjacken getauscht, so dass jeder mit dem Namensschild des anderen herumlief. Das klappte. Aber das große Gewicht, das jeden in seinen eigenen einsamen Teich zog, war stärker. Es blieb eine Episode, in der ein gegenseitiges Erkennen aufblitzte.

Einige Monate später trafen sie sich auf einer Wehrübung wieder. Jan hatte ein Studium und Korte eine Banklehre begonnen. Die Wehrübung war ein Rückfall in eine Phase der Unmündigkeit. Diese unangenehme Erfahrung verband sie stärker. Wie die zweite Spritze, die einer Impfung erst zur gewünschten Wirkung hilft.

Korte besuchte Jan später an seinem Studienort. Sie gingen in die Mensa und Jan zeigte Korte die Plätze seines neuen Alltags. Abends besuchten sie eine Studentenkneipe. Über die Fragen, die Jan wirklich umtrieben, redeten sie nicht. Wozu war das Studium gut und würde es später einmal ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen? Und: Wie konnte man eine Freundin finden? Als Korte am Sonntagabend in seinen Golf stieg, verabredeten sie, es bald zu wiederholen.

Das passierte nicht. Sie schrieben sich noch gelegentlich, bis auch das einschlief. Jan konnte Kortes Weg auf Social Media verfolgen. Korte studierte später BWL, wurde Unternehmensberater.

Später sah Jan ihn noch einmal. Es war auf einer Tagung, bei der es um den Austausch von Wissenschaft und Wirtschaft ging. Jan hatte Korte auf der Teilnehmerliste gefunden und bald ausfindig gemacht. Es entstand kein Blickkontakt und Korte erkannte ihn nicht. Der Tag ging vorbei, ohne dass sie miteinander gesprochen hätten.

Die Fragen, die er damals nicht gestellt hatte, blieben weiter unbeantwortet. Bis auf die nach seinem Berufsleben: Er war ein Soziologe geworden, ohne Leidenschaft. Als er eines Abends Max Weber las, wurde ihm klar, dass er keine Wahrheit suchte. Die Einsicht traf ihn kaum. Er glaubte schon lange nicht mehr an etwas Endgültiges, Feststehendes.

Was er suchte, war der Moment der Inspiration. Früher als Kind war es ein Gefühl an den Schläfen, das etwas wie einen Strom und großes Behagen bei ihm ausgelöst hatte. Er suchte starke Eindrücke, die jenseits des reinen Denkens lagen.

Jan traf Korte, als er in einem Zug im Bordbistro saß. Ein Klappern hatte ihn aufblicken lassen. Am Eingang des Waggons stand ein Mann. Er hielt sich fest, weil der Zug schaukelte. Er wirkte angestrengt und atmete schwer. Der Mann fand den freien Platz an Jans Tisch und ging darauf zu, ließ sich nieder. „Darf ich?“ Jan nickte.

„Wir kennen uns“, sagte der Mann. Jan erkannte Korte. Gealtert, mit grauen Strähnen und etwas mager. „Korte?“ fragte er. Der nickte und lächelte schwach. „Ich habe dich schon auf dem Bahnhof erkannt, aber du hast mich nicht gesehen. Aber wenn wir im gleichen Bordrestaurant sitzen, dachte ich, kann ich auch gleich zu dir kommen.“

„Ich bin körperlich sehr eingeschränkt. Die Pandemie. Meine Lunge ist beeinträchtigt. Meine Frau und mich hatte es erwischt.“ Der Zug war draußen auf freier Strecke zum Stehen gekommen. Jan sah direkt vor dem Fenster ein Schild mit der Zahl 177 und darunter dem Kürzel B5.

„Irgendwann ging es meiner Frau so schlecht, dass sie mich bat, sie in die Stadt ins Krankenhaus zu bringen. Wir wohnten damals weit draußen. Ich bin losgefahren. Ich bin immer schneller gefahren während meine Frau hustete und röchelte. Ich bin mit hundert in die Kurven gegangen.“ Jan spürte ein tiefes Unbehagen an der Situation. Das unerwartete Wiedersehen, die Gesprächseröffnung. Das alles war viel in kurzer Zeit und er spürte, dass das noch nicht alles war.

„Dann kam der Radfahrer aus einem Feldweg. Ich glaube, er hatte sogar Licht an. Aber was nützt das, wenn du 140 fährst? Er ist vierzig Meter weit geflogen und gegen einen Alleebaum geprallt. Bis zu dem Moment hatte ich gedacht, das schlimmste, was ich erleben könnte, wäre der Tod meiner Frau. Aber es geht mehr. Von einem Moment zum anderen ist dein ganzes Leben ein anderes. Meine Frau überlebte. Der Mann auf dem Fahrrad nicht.“ Korte sah Jan aus tiefliegenden Augen an. Jan erinnerte sich, dass der Rekrut Korte einen sehr sorgsam gestutzten Schnurrbart getragen hatte.

Der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt und rollte langsam in die entgegengesetzte Richtung.

„Wenn ich eines danach gelernt habe: Es gibt nichts, was sicher ist. Ich war Unternehmensberater. Geld war nicht der Antrieb. Dabei sein, wenn etwas passiert. Wenn große Sachen entstehen. Ich habe DAX30-Unternehmen beraten, Ministerien, Wirtschaftsverbände. Der Beweger sein. Die Ursache. Schnell sein und dabei die Kontrolle behalten. Und dann hatte ich irgendwann keine Kontrolle mehr. Meine Arbeit habe ich verloren. Einen verurteilten Todesfahrer will man nicht als Partner haben. Aus und vorbei.“

Er wollte noch mehr sagen, aber dann kam eine lange Durchsage. Der Zug war zurückgerollt in den Abfahrtsbahnhof. Es gab eine Entschuldigung und eine lange Erklärung über Anschlusszüge und Umstiegsmöglichkeiten. Korte stand mühsam auf. „Meine Frau hat sich nach dem Unfall von mir getrennt. Sie hat meine Schuldgefühle nicht mehr ertragen. Ich musste wieder lernen, mich zu behaupten. Aber ich komme voran. Ich hoffe, es gelingt dir auch.“

Auf dem Bahnsteig trennten sie sich. Jan hatte noch Zeit bis zum Ersatzzug. Er schlenderte durch die Bahnhofshalle. Er blickte zum verglasten Dach, über dem Wolken hektisch trieben. Die ersten Zugvögel waren unterwegs. Er verließ das Gebäude. Von rechts hörte er ein schrilles Pfeifen.

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© 2023 Olaf Urban-Rühmeier
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Schwammschädel

Von Henning Brüns

Die Mischpoke ist kein Warensortiment. Sagte schon? Ich komm‘ nicht drauf. Der Karl für den Fall, dass Friedrich mit einer Erkältung im Bett lag. Lang ist es her. Ihr Kapital ist auch nicht mehr. Es war einmal. Und darum geht es ja. In den heutigen Zeiten kann man nicht vorsichtig genug rechnen. Eben schien noch die Sonne und plötzlich scheint es zu regnen. Die Natur siecht dahin und auch die Kosten fressen einen auf. Sagen die Prozessbeteiligten. Nur das Sterben selbst scheint natürlich und folgerichtig kostenlos zu bleiben. Die Kriege können ein Lied davon singen. Vielleicht wurde ich deshalb eingeladen. Jemand hatte sich verrechnet. So geht das aber nicht. Aber was weiß ich denn? Zumal nicht Algebra den Ausschlag gab für mein Erscheinen. Sondern das Karzinom am Hals des alten Patriarchen. Der Brief an mich verschwieg es nicht. Im Übrigen hatte er, das möchte ich betonen, das Leiden gemeinsam mit einem anderen Typ seines Menschenschlags. Wie hieß er gleich? Er stammte von etwas weiter weg. Nördlich des 38. Breitengrads lag seine Heimat. Noch so ein Ausdruck den niemand richtig kapiert. Kim Il Sung war sein Name. Usurpator von Beruf und wie Karl Theodor ein egomanischer Familienmensch. Verwandt waren sie dennoch nicht. So der Tatbestand. Am Tage vor dem Fest der Liebe.
Der letzte seiner Atemzüge kam wie gerufen. Die Glocken läuteten. Der Gottesdienst war vorbei. Die Versammelten hatten Vaters Leiden satt. Und nun auch das. Mittendrin erschien meine ausgehungerte Wenigkeit am Horizont. Populär wie ein Stuhlgang bei Diarrhö. Der letzte Nachkomme des alten Bock. Was treibt er unter uns der Lump? Diese oder ähnlich warme Worte platzierten mich ans Ende der Tabelle. Doch der letzte Platz war mir nicht ein Achselzucken wert. Ich verdrückte mich wie zu früheren Zeiten in die Küche. Zur guten Hilda und ihrer hinkenden Gehilfin. Ihren Namen habe ich vergessen. Obschon ihre süßen Desserts stets superb waren. Da haben wir es wieder. Im Nachhinein bleibt das Gute und Schöne oft fahrlässig anonym. Licht lässt sich nicht konservieren. Glück verschwindet im Nichts der nichtigen Strahlenwelt. Dagegen die Schatten halten die Stellung. Manifest wie Monolithen im Vergessen. Lesen Fährten wie Bluthunde in finstersten Gedankengängen. Auch wenn es schmerzt, ich kann nicht anders, möchte meinen Beitrag leisten. In einer heiteren Erzählung wie dieser müsste meine Trostlosigkeit mühelos zu verkraften sein.
Unwillkommen seit der Empfängnis war mir kein leichtes Los beschieden. Doch verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will mir keine Träne nachweinen. Um zu mir selbst zu finden, war lange Zeit mir jeder Weg zu weit. Irgendwann war ich dann… Sie kennen das sicher. Soweit kam ich aber nicht. Sie sehen, das führt zu nichts. „Über sieben Brücken musst du gehen“ war ein beliebter Song. Damals. Ich konnte ihn nicht ausstehen. Wäre die Schnulze ein Schulze, hätte ich ihr den Hals umgedreht. Wer frei von Schuld ist, der werfe den ersten Stein. Ganz frei nach einem gewissen Herrn aus Nazaret. Schon eher ein Satz nach meinem Geschmack. Am 1. Mai in Kreuzberg war ich dabei. Die Kraftwagen in Flammen sprachen für sich. Aber mit mir sprachen sie nicht. Ungerührt im Hauseingang stand ich nicht allein, eine schwangere Frau bekam es mit der Angst zu tun. Als wäre der Aufmarsch der auf Krawall gebürsteten Knüppelträger nicht genug der Pein, überlisteten auf der Stelle dutzende Pflastersteine die ehrwürdige Schwerkraft. Was folgte, ist kein Ruhmesblatt. Eine chemische Reaktion zum Schutze der Grundwerte zerstreute die Menschenmenge. Tränengas machte sich statt ihrer auf der Straße breit. An den Fenstern im Altbau gegenüber sah ich betagte Damen verwundert durch die Gardinen schauen. Was werden sie gedacht haben? Hat dieser Nebel etwas zu bedeuten?
Steht wieder ein Untergang vor der Tür?Karl regt sich in mir. Wie ein eingefleischter Leibeigener. Habe ich seinen Genius noch nicht befriedigend verspottet? Seine Nachhaltigkeit scheint mir unterbewertet. Bei Geldanlagen unbedingt auf die Langfristigkeit achten. Ich weise auf die steigenden (Un)Kosten hin. Doch lassen wir das. Reisen wir weiter zurück in der Zeit und suchen den Punkt, an dem die Nadel meinen Faden verlor.
„Matschbirne“ war ein stehender Terminus in meiner Kindheit. Die um Jahre jüngeren Zwillinge,
Repräsentanten der legitimen Linie, lachten ihn lustvoll aufs Tapet, sobald sie meiner angesichtig wurden. Mit jedem Tag, der damals am Horizont zerbrach, verhärtete sich ihre unartige Übelkeit. Hör nicht hin, Kleiner. Hilda meinte es gut mit mir. Doch das Gutmütige ignorierte ich. Ich ergötzte mich am Ekel vor mir selbst und spie ihn flüssig auf den kostspieligsten Teppich, der in der Eile aufzutreiben war. Wer an der Wahrheit sich labt, darf für die Lüge nicht mit Rabatten rechnen. Wieder Karl? Oder doch Friedrich? Wahrscheinlich letzterer. Ist Engels eigentlich der Plural von Engel? Nicht ungeschickt im Tölpeln, war ich im Floskeln ebenfalls keine Null. Zu mehr reicht es nicht, lautete das einhellige Urteil. Leider hirnverbrannt das Kind. Wir opfern es rechtzeitig. Das ist unsere Pflicht. Mit einem Augenzwinkern war alles dazugehörige rasch getan. Ausgehalten von Überweisungen, die den massiven Teuerungsausgleich nicht unberücksichtigt ließen, verschwand ich im Niemandsland einer künstlerischen Existenz.
Was bedeutete, niemand zählte die Jahre bis ich in den Schützengraben zurückkehrte. Es waren mehr als gedacht, und weit weniger als erhofft. Es ginge langsam zu Ende. Hieß es. In dem besagten Brief. Kranke Sätze, die mein Gewissen aufschüttelten. Zuvor quälte allein sein Dasein. Über Wochen hatte er üble Laune verströmend wie ein Kadaver in meinem Papierkorb gelegen. Ungeöffnet im Übrigen und in guter Gesellschaft. Das neueste Einschreiben vom Vermieter geduldet sich weiterhin vorbildlich zwischen lauter ungeduldig zerrissenen Dichtungsversuchen. „Ob es mir möglich wäre? Der Vater hätte gefragt.“ Nach mir? Ich solle kommen? Vertraut schallte das einvernehmliche Duett der Zwillinge, ihr wenig zimperliches, in meinen Adern gerinnendes Lachen.
Verknotet in den Wolken saß er in einem Rollstuhl, als ich seinen Raum betrat. Wer war dieser verhärmte Kerl? Doch kein Bild von einem Mann, der mein kindisches Gefühl verdiente. Eher ein Knäuel aus Gedärmen. Eingeschrumpft blickte er aus der Wäsche, die frisch gestärkt seine verfleckte Haut verhängte, als würde sie allein seinen haltlosen Knochenbau in der Vertikale tragen. Zwei teigige Funzeln blinzelten im Fett der erloschenen Jahre. In seinem Schädel war nichts länger der Mühe wert. Früher oder später nistet der Schwamm sich bei jedem ein. Karl hat recht. Sogar schlichteste Geisteskräfte haben mit nachlassenden Preisen im Ausverkauf zu rechnen. Stillschweigen bedeutet sodann nur mehr reines Glück. Gönnen wir uns doch ein gemeinsames Stück! Wenige Schritte sollten genügen. Im Arm seine kalte, knochige Hand. Er grunzte sogar dies und das. Ich hielt die Luft an. Nicht sonderlich rosig roch es aus seinem Munde. Lassen wir lieber andere für uns sprechen, dachte ich und steuerte zurück. Befremdlich ging es zu auf der flimmernden Bühne neben dem Bett, in dem er Erholung suchte. Noch nie Gehörtes kam zu Wort. Immer mehr Raubtiere machten im Wahnsinn des rasant wachsenden Elektroverkehrs fette Beute. Im Amazonas? drohte das Wasser damit, knapp zu werden. Die deutschen Wälder dagegen vermeldeten, sie würden auswandern. In eine der letzten Volksherrschaften auf Erden. Nach Grönland oder Feuerland? Unter uns gesagt, wer kennt sich heute noch aus? Befriedigt nickte Vater gleichgültig ein, ein Speichelfaden seilte sich von seinem Munde ab. Woran wir hängen, sollten wir in Ehren halten.

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© 2023 Henning Brüns
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Die Vernissage

Von Johannes Morschl

An einem Freitagabend im Februar 2002 stand der junge Wiener Dichter Franz Gerstl vor der Galerie Mai in Berlin-Mitte. (1) Er zitterte vor Erregung. Nach fast zwei Jahren würde er Anna wiedersehen. Sie wusste jedoch nichts von seinem Kommen, er war unangekündigt gekommen. In den fast zwei Jahren hatte er an kaum etwas anderes denken können als an jene Nacht in Wien, in der Anna und er sich einer leidenschaftlichen Liebe hingegeben hatten, die eigentlich nicht sein durfte. Kurz danach ist Anna nach Berlin gezogen, da ihr diese Liebe als nicht lebbar erschien und sie eine Katastrophe befürchtete. Beim Abschied vereinbarten sie, einander so lange aus dem Weg zu gehen, bis das Feuer der Liebe in ihnen erloschen war und sie wieder wie Bruder und Schwester sein konnten. Nach Annas Abreise verwilderte Franz zusehends und trank zu oft und zu viel Alkohol. Seine Gedichte quollen über von Sehnsucht und Verzweiflung. Er schrieb, als befände er sich im freien Fall in einen bodenlosen Abgrund.

Nach etwa einem Jahr totaler Funkstille bekam er einen Brief von Anna, der aber sein Leiden noch verschlimmerte. Sie teilte ihm mit, in Berlin den Maler Friedrich Metzger kennengelernt zu haben, von dem er vielleicht schon gehört hatte, und seit Kurzem mit ihm zusammenzuleben. Franz schrieb ihr zurück, er könne nicht verstehen, dass sie sich auf einen Mann einlasse, der vom Alter her ihr Vater sein könnte. Er unterstellte Metzger, sie nur als Frischzellenkur für sich zu benutzen und ihr den Saft der Jugend auszusaugen. Danach schrieben sie sich regelmäßig Briefe. In ihrem letzten Brief hatte Anna eine bevorstehende Ausstellung von Metzger in einer Kunstgalerie namens Galerie Mai in Berlin-Mitte erwähnt. Metzger wollte dort Aktbilder ausstellen, für die sie Modell gestanden hat. Nun hielt es Franz nicht mehr länger aus ohne sie. Er musste sie unbedingt wiedersehen, auch wenn das gegen ihre Vereinbarung verstieß, denn unvermindert brannte in ihm das Feuer der Liebe zu ihr. Also fuhr er nach Berlin zur Vernissage von Metzger. Dort wollte er Anna mit seinem Besuch überraschen.

Die Galerie Mai war voll von Leuten. Im Mittelpunkt all der Leute standen der Maler Friedrich Metzger und die Galeristin Luise Mai. Diese begrüßte die Gäste und tauschte mit ihnen Höflichkeitsfloskeln aus: „Schön, dass Sie gekommen sind!“, „Danke! Wir haben uns schon sehr auf diese Ausstellung gefreut“, usw. Der über 60-jährige Friedrich Metzger war ein stämmiger Mann mit faltigem Gesicht, langem grauen Haar, übergroßen Füßen und schwieligen Händen wie von einem Bauarbeiter. Die kleine schlanke Luise Mai war etwa im selben Alter wie Metzger, verriet aber ihr genaues Alter nicht. Von ihrem Aussehen her konnte man sie gut und gerne für mindestens zehn Jahre jünger halten. Mit Metzger verband sie ein geradezu manisches Streben nach Ruhm und Erfolg, sowie eine Vorliebe für junge frische Körper. Sie hielt sich junge unbekannte Künstler als Lovers, die hofften, über den Weg durch ihr Bett auf dem Kunstmarkt groß rauszukommen.

An den Wänden der Galerie hingen großformatige Aktbilder mit Darstellungen von immer derselben jungen Frau in verschiedenen, geradezu gewagten Posen. „Das ist ja hervorragend gemalt“, hörte man es im Publikum raunen. „Diese fließenden Formen und leuchtenden Farben! Aber musste es unbedingt sein, die Vaginas derart in den Vordergrund zu rücken, dass sie einen direkt anblicken?“ Ein paar Männer, die kurzsichtig zu sein schienen, traten so nahe an die Bilder heran, dass man hätte denken können, ihre Nasen würden jeden Moment in den Vaginas auf den Bildern verschwinden. Einige Gäste trauten sich die Bilder nur kurz zu betrachten, da sie dachten, was würden die anderen über sie denken, wenn sie die Bilder zu lange betrachteten. Die Kunstenthusiasten unter den Gästen blieben länger vor den Bildern stehen und studierten deren Komposition und die Maltechnik des Künstlers, was ihnen aber nur zum Teil gelang, denn je länger sie die Bilder studierten, desto leibhaftiger trat die nackte junge Frau aus den Bildern hervor und verwirrte ihr Urteilsvermögen. In ihren Gesprächen überspielten sie dann diese Verwirrung. „Kühne, sehr freizügige Kompositionen! Wie von Aktbildern Modiglianis!“ „Aber nein! Das kann man doch überhaupt nicht mit Modigliani vergleichen! Modiglianis weibliche Akte sind lyrisch, verträumt, und nicht so fleischlich und aufdringlich wie diese Aktbilder von Metzger. Außerdem sind Modiglianis Aktbilder sehr flächenhaft und nicht von so einer pastosen, expressiven Malweise, die viel mehr an den späten Lovis Corinth erinnert.“ „Also bitte sehr! Der späte Corinth hat doch nur deshalb so gemalt, weil er einen Schlaganfall hatte, oder waren es sogar zwei?“ „Na hören Sie mal! Das haben die Nazis behauptet, um eine Begründung zu haben, sein Spätwerk als krankhaft und somit als entartet einzustufen. Die früheren, realistisch gemalten Bilder von Corinth waren ihnen noch durchaus genehm.“ Und so weiter.

In einem Nebenraum der Galerie, der als Büro und Teeküche diente, unterhielt sich Anna mit Uwe, einem mageren langen jungen Maler mit Vollbart und wuscheligem Haar, der große weiße Quadrate auf aschgrau grundierte Leinwände malte. Er war der aktuelle Geliebte von Luise Mai. Uwe zu Anna: „Wie hältst du es bloß mit diesem Metzger aus, der nicht nur von seinem Aussehen, sondern auch von seinen Bildern her seinem Namen alle Ehre macht?“ Anna: „Dasselbe könnte ich dich bezüglich Luise, dieser lüsternen alten Vettel fragen.“ Uwe ging darauf nicht ein und sagte: „Du siehst in letzter Zeit so traurig aus.“ Anna: „Ach, das hat nichts mit Metzger zu tun. Er ist viel sensibler, als du denkst.“ Uwe: „Aber du musst dich von ihm vögeln lassen.“ Anna: „Das geht dich nichts an, was zwischen uns läuft. Ich mag ihn. Er lebt nur für seine Kunst und braucht dafür eine junge Muse, die ihn inspiriert und die er dann über alles verehrt. Diese bin derzeit ich, und bis jetzt gefällt mir diese Rolle.“ Kurzes Schweigen. Uwe: „Warum bist du dann traurig?“ Anna: „Mir fehlt ein sehr vertrauter Freund aus Wien. Ich mache mir große Sorgen um ihn. Er schreibt mir so depressive Briefe. Ich habe Angst, er könnte sich was antun.“ Uwe: „Dann lade ihn doch nach Berlin ein und muntere ihn auf.“ Anna: „Nein, das geht nicht.“ Uwe: „Wegen Metzger?“ Anna: „Nein, nicht wegen Metzger. Ich möchte nicht darüber reden. Reden wir lieber über dich und Luise. Was verlangt denn sie von dir im Bett?“ Uwe wich aus: „Ich denke dabei an meine weißen Quadrate und wie sie eines Tages in der Kunstwelt begehrt sein werden.“ Anna: „Aha, du denkst dir Luise dabei weg. Du übermalst sie im Geiste mit einem weißen Quadrat, während sie auf dir reitet.“ Uwe: „Na, du hast ja eine blühende Fantasie! Die auf mir reiten? Wie soll das gehen? Ich bekomme bei ihr kaum…“ Uwe stockte, denn Luise schaute herein. „Uwe, kommst du mal? Ich möchte dich einer Freundin vorstellen.“ Gehorsamst lief Uwe zu seinem Frauchen.

Anna nippte an ihrem Glas Sekt. Da hörte sie plötzlich Lärm aus dem Ausstellungsraum. Erschrocken schaute sie nach, was da los sei. „Da ist ja der Franz! Wie kommt der denn hierher?“, durchfuhr es sie, als sie Franz erblickte, der mitten im Raum Metzger gegenüberstand. Franz war kreidebleich und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Die Gäste waren an die Wände zurückgewichen. Franz rief: „Diese schlüpfrigen Schmierereien sind eine Beleidigung der Kunst! Diese Schinken sind seelenlos! Es fehlt ihnen die innere Glut, der heilige Wahn echter Kunst!“ Wie sehr verachtete er diesen Metzger. Die Vorstellung, dass der seine Anna begrapschte, war ihm unerträglich. Nur Annas Augen, die von den Leinwänden blickten, hielten ihn davon ab, gegen Metzger handgreiflich zu werden. Er provozierte jedoch weiter: „Du alter Lustmolch! Du krallst dich umsonst an jungen Weibern fest! Deinem nahenden Tod kannst du nicht entrinnen! Schon sehe ich seinen Schädel durch die Farbschichten deiner Wichsvorlagen grinsen!“ Metzger, der normalerweise bei Streits stets die Ruhe bewahrte, verlor diesmal die Beherrschung. Er dachte: „Der Junge braucht eine Tracht Prügel, damit er lernt, wie man sich zu benehmen hat!“ Er forderte Franz auf: „Komm, lass uns auf die Straße rausgehen und das von Mann zu Mann klären!“ Er war zwar nicht mehr der Jüngste, war sich aber sicher, mit diesem durchgeknallten Hänfling noch locker fertig zu werden. Da ging Anna dazwischen: „Franz, beruhige dich bitte!“ Franz, der sie erst jetzt erblickte, starrte sie wie verzaubert an und vergaß Metzger. „Anna“, stöhnte er auf, „was machen die hier mit dir? Die stellen dich wie Frischfleisch in einem Metzgerladen aus! Diese blasierten Idioten geilen sich an deiner Nacktheit auf!“ Anna war erschüttert. Sie dachte, wie schön er ist, selbst in seiner Wut, und spürte, wie nahe sie sich ihm noch immer fühlte. Sie umarmte ihn und drückte ihn an sich. Er klammerte sich wie ein Ertrinkender an ihr fest und begann zu weinen.

Metzger begriff langsam die Situation: „Das muss ihr versoffener Bruder aus Wien sein, um den sie sich immer Sorgen gemacht hat. Der Junge ist ein Psychopath!“ Er überlegte, Anna zuliebe diesem jungen Irren ein Friedensangebot zu machen. Doch angesichts der Umarmung der beiden hielt er es für sinnvoller, erst einmal abzuwarten, was weiter geschehen würde. Instinktiv spürte er, dass zwischen den beiden etwas lief, das nicht ganz koscher war. Er bekam so ein seltsames Gefühl, Anna in diesem Augenblick für immer zu verlieren, und wurde unsicher, was ihm garnicht gefiel.

Luise wollte zuerst die Polizei rufen, da sie eine Prügelei in der Galerie befürchtete. Doch nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, erkannte sie in dem rabiaten Auftritt des jungen Kerls ein publicityträchtiges Ereignis, welches die Ausstellung als skandalumwittert erscheinen ließ. Schon überlegte sie, wie man dies am besten vermarkten könnte. Sie sprach einen anwesenden Journalisten von einer Berliner Tageszeitung an. Der hatte sich bereits einen Titel für seinen Bericht auf der Kulturseite ausgedacht: „Eklat bei der Vernissage von Friedrich Metzger – Die Straße bricht in den Raum der Kunst ein.“ Das war Luise zu nichtssagend. Vielleicht könnte man stattdessen schreiben: „Der heulende Untergang des Mannes inmitten nackter Frauen.“ Nein, das wäre 70er-Jahre, längst passé. Sie beschloss, Uwe zu fragen. Wozu hielt sie ihn schließlich aus? Vielleicht fiel ihm unerwarteter Weise ein knalliger Titel ein. Doch als Uwe allen Ernstes „Das letzte Röcheln des Realismus vor dem Triumphzug der weißen Quadrate“ als Titel vorschlug, griff sie sich auf den Kopf und sagte: „Sag, tickst du noch ganz richtig? Was haben deine weißen Quadrate damit zu tun? Und was sollte das außerdem für ein Triumphzug werden? Ein Schnarchen würde über die Welt kommen.“ Uwe war schwer beleidigt und schmollte. Schließlich gab Luise es auf, weiter über einen Titel für einen Zeitungsbericht nachzudenken. Schon meldeten sich die ersten Kaufinteressenten für Metzgers Bilder bei ihr.

Unterdessen gingen Anna und Franz in den Berliner Abend hinaus. Bald fanden sie eine gemütliche Bar mit gedämpfter Beleuchtung. Sie setzten sich in die hinterste Ecke und küssten sich innig wie Verliebte. Gleichzeitig spürten sie die Tragik ihrer Liebe, die gegen das uralte Inzesttabu einer sexuellen Geschwisterliebe verstieß.

Metzger ging vor die Tür der Galerie, um nach ihnen Ausschau zu halten. Er wartete eine ganze Weile und rauchte eine Zigarette nach der anderen, doch die beiden blieben verschwunden. Als er wieder die Galerie betrat, kam Luise mit strahlendem Gesicht auf ihn zu. „Friedrich, wir haben ein Bombengeschäft gemacht! Alle Bilder sind verkauft! Sag, hast du die geniale Idee gehabt, diesen jungen Irren auftreten zu lassen? Der hätte sich direkt eine Provision verdient.“ Mürrisch verneinte Metzger. Luise ging ihm auf einmal tierisch auf die Nerven. Er wusste, dass er seine Muse Anna für immer verloren hatte.

(1) Die Galerie Mai ist vom Autor erfunden.

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© 2023 Johannes Morschl
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Ödipus

Von Johannes Morschl

Der Name des Mannes, der hier seine Geschichte erzählt, könnte Ödipus sein, denn seine Geschichte ist jener von Ödipus, wie sie von Homer, Sophokles und anderen erzählt wurde, in gewisser Weise ähnlich, auch wenn es einige nicht unwesentliche Unterschiede gibt.

Ich wurde im Jänner 1941 in Wien geboren. Österreich gehörte damals seit März 1938 zu Hitlerdeutschland. Mein Vater, der von Beruf Maurer war, wurde bereits vor meiner Geburt, im November 1940 zur deutschen Wehrmacht eingezogen und ein Jahr später nach dem Überfall Hitlers auf Russland nach Russland abkommandiert. Aus Russland kam ab und zu Feldpost von ihm, doch irgendwann kam nichts mehr. Als meine Mutter bei der Wehrmacht nach seinem Verbleib fragte, konnte oder wollte man ihr keine Auskunft geben. Erst nach dem Krieg erfuhr sie, dass er noch lebte und sich in russischer Kriegsgefangenschaft befand. Ich muss ehrlich gestehen, dass er mir nicht gefehlt hat. Bevor er nach Russland geschickt wurde, sah ich ihn wohl ab und zu, wenn er für ein Wochenende nach Hause fahren dufte. Er war in einer Kaserne in Niederösterreich nicht allzu weit von Wien entfernt stationiert. Aber ich konnte mich an seine Wochenendbesuche nicht erinnern, ich war ja damals noch ein Baby. Meine Mutter hat mir zwar später, als ich schon etwas größer war, Schwarz-Weiß-Fotos von ihm gezeigt, darunter auch ein Foto von ihrer Hochzeit, aber ich fühlte nichts besonderes dabei. Er war für mich ein Fremder. Außerdem schien es mir normal zu sein, dass die Väter abwesend waren. Ich war ja nicht das einzige Kind, dessen Vater im Krieg oder in Kriegsgefangenschaft war. Allerdings malte ich mir nicht wie andere Kinder aus, wie schön es sein würde, wenn Papa wieder zurückkommt, ja ganz im Gegenteil, ich fürchtete mich davor.

An einem Tag im Mai 1950 stand er dann plötzlich vor unserer Tür. Die Russen hatten ihn aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Meine Mutter hat ihn im ersten Moment garnicht wiedererkannt, weil er so alt und verwahrlost aussah und bis auf die Knochen abgemagert war. Als ich diesen schrecklich aussehenden Mann erblickte, klammerte ich mich an meiner Mutter fest und rief in Panik: „Der Feind ist da! Der Feind ist da!“ Auch in der Folgezeit, als er wieder bei uns wohnte, blieb er für mich ein Feind, ein wie aus dem Nichts aufgetauchter Eindringling in das vertraute Leben von meiner Mutter und mir. In den Jahren seiner Abwesenheit hatten wir ja nur uns. Nachts lagen wir eng aneinander geschmiegt in dem einzigen Bett, das wir besaßen. Dabei griff ich immer nach ihren Brüsten und spielte an ihnen herum, bis ich einschlief. Damit war es ab dem Tag, an dem mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, vorbei.

Unsere Wohnung befand sich im 2. Stock einer grauen Zinskaserne in der Brigittenau, dem 20. Wiener Gemeindebezirk. Sie bestand aus einem Schlafzimmer und einer Küche, die gleichzeitig auch unser Wohnzimmer war. Wenn man die Wohnung betrat, war man gleich in der Küche, da es keinen Vorraum gab. Es gab auch kein Badezimmer, kein Innenklo und nicht einmal einen Wasseranschluss. Wasser musste man von draußen am Gang holen, wo es an der Wand eine Bassena gab, ein kleines gusseisernes Becken mit einem Wasserhahn darüber. Auch das Klo befand sich draußen am Gang. Es wurde von allen vier Mietparteien, die in dem Stockwerk wohnten, benutzt. Mein Vater organisierte eine Matratze für mich, die er in eine Ecke des Schlafzimmers legte. Das war ab nun mein neuer Schlafplatz, auf dem ich mir wie ein Hund vorkam. Manchmal knurrte ich in der Nacht wie ein Hund, um meinen Vater beim Besteigen meiner Mutter zu stören. Es ging bei ihm immer schnell. Nach einer kurzen Zeit des Rammelns und Schnaufens fiel er zur Seite und begann zu schnarchen. Ich litt dabei immer Höllenqualen und wünschte mir, dass er wieder verschwindet.

Er fand bald eine Arbeit am Bau. Dort fing er zu saufen an. Die tranken dort schon während der Arbeit Bier und gingen nach der Arbeit noch ins Wirtshaus. Mit den Besäufnissen war es besonders an den Samstagen schlimm, wenn der Wochenlohn ausbezahlt wurde. Damals gab es noch keine 5-Tage-Woche und der Lohn wurde nicht monatlich, sondern wöchentlich ausbezahlt. An den Samstagen kam mein Vater immer erst spät abends nach Hause, torkelte sternhagelvoll durch die Wohnung und rief wirres Zeug, wie: „Das Gewehr über! Reechts um! Im Schriitt Marsch!“ Oder er rief: „Fliegerangriff!“, warf sich der Länge nach auf den Boden und suchte Schutz unter dem Bett. Manchmal begann er eine unsichtbare Person anzusprechen, offenbar einen Russen. Er streckte die rechte Hand aus und rief: „Towarischtsch! Papirossa! Papirossa!“, was wohl bedeuten sollte, dass er um eine Papirossa-Zigarette bettelte, eine dieser primitiven, billigen russischen Zigaretten mit Machorka-Tabak und einem Mundstück aus Pappe, die von den russischen Wachmannschaften in den Lagern geraucht wurden. Er versoff immer öfter seinen Wochenlohn und wir mussten mit dem wenigen Geld auskommen, das meine Mutter als Putzfrau verdiente. Meine arme Mutter wurde immer unglücklicher. Bald gehörte Streit zu unserem Familienalltag. Wenn mein Vater besoffen war, beschimpfte er meine Mutter als Hure, weil er sich einbildete, sie hätte es in den Jahren seiner Abwesenheit mit anderen Männern getrieben. Meine Mutter schimpfte zurück: „Du Säufer! Du Versager! Du stürzt uns noch ins Unglück!“ Manchmal begann er dann zu heulen und rief: „Ihr Toten, ihr Toten, ich will zu euch!“ Wer weiß, welche Toten er da alle meinte.

Jede Nacht sehnte ich mich danach, wieder neben meiner Mutter im Bett zu liegen, und ich überlegte, wie wir diesen Heimkehrer, der nicht wirklich heimgekehrt, sondern geistig und seelisch im Krieg und in der Kriegsgefangenschaft geblieben war, wieder loswerden könnten. Dann kam dieser Samstag im März 1955, an dem etwas geschah, das alles von Grund auf veränderte. Ich ging damals noch auf die Hauptschule. In meiner Klasse war ich gefürchtet, weil ich bei den üblichen Raufereien unter Klassenkameraden derart wild und verbissen kämpfte, dass selbst die Stärksten vor mir Angst bekamen. Bei diesen Raufereien kämpfte ich im Grunde genommen immer gegen meinen Vater, und meine Gegner bekamen voll meine Wut auf ihn ab. An dem besagten Samstag kam er so gegen Mitternacht stockbesoffen nach Hause und begann wieder meine Mutter als Hure zu beschimpfen. Sie schimpfte zurück und da schlug er zum ersten Mal zu. Meine Mutter hielt sich instinktiv zum Schutz die Arme vor das Gesicht, was sich im nachhinein als sehr gut erwiesen hatte, da sie kein blaues Auge oder andere sichtbare Spuren von Schlägen im Gesicht hatte. Schon davor hatte ich bei jedem Streit zwischen den beiden mit meiner Mutter mitgelitten und hasste diesen Mann, der mein Erzeuger war. Als er aber nun auf sie einschlug, krampfte sich mein Herz zusammen und ich sah rot. Ich holte einen großen schweren Hammer aus seinem Werkzeugkasten, der in einer Ecke der Küche auf dem Fußboden stand, und stürzte mich von hinten auf ihn. Ich schlug ihm mit dem Hammer so lange auf den Kopf, bis er blutüberströmt zusammenbrach und sich nicht mehr rührte. Im ersten Moment erschrak ich über meine Tat, doch dann empfand ich ein Gefühl der Befreiung.

Meine Mutter reagierte erstaunlich gefasst. Aus ihrem Mund kam kein einziger Ton des Entsetzens oder der Klage. Zuerst überprüfte sie, ob er noch lebte oder tot war. Nachdem sie seinen Tod festgestellt hatte, hatte sie auch gleich eine Idee, wie wir den Toten verschwinden lassen könnten. Wir rollten ihn in eine alte Decke ein und banden sie mit einem Strick zusammen. Danach schleiften wir ihn so leise als möglich das Stiegenhaus hinunter, was ziemlich anstrengend war, und bugsierten ihn unten auf einen dreirädrigen Karren, der im Hinterhof stand und von den Hausbewohnern für den Transport von Kohlensäcken und anderem schweren Zeug verwendet wurde. Im Karren lag eine Plane, mit der wir den Toten bedeckten. Dann schoben wir den Karren durch die dunklen menschenleeren Gassen bis zum Ufer der Donau, in deren Nähe wir wohnten. Dort luden wir den Toten ab, schleiften ihn die Uferböschung hinunter, befreiten ihn aus der Decke und rollten ihn in die Donau, die dort mehrere Meter tief ist. Sicherheitshalber hatten wir auch den schweren Hammer, mit dem ich ihn erschlug, mitgenommen. Den warfen wir auch in die Donau. Als wir wieder zu Hause waren, beseitigte meine Mutter sorgfältig die Spuren der Tat. Die Decke, in die wir ihn eingerollt hatten und auf der sich Blutflecken befanden, haben wir wieder mitgenommen und zerschnitten sie zu Hause in kleine Stücke, die wir in unserem Kohlenofen verbrannten.

Nach zwei Tagen meldete meine Mutter meinen Vater als vermisst. Ein paar Tage später kamen zwei Kriminalbeamte bei uns vorbei, stellten eine Menge Fragen und schauten sich in der Wohnung um, konnten aber nichts Verdächtiges finden. Nur als sie in den Werkzeugkasten in einer Ecke der Küche schauten, bekam ich kurz einen Schreck, aber sie konnten ja nicht wissen, dass sich außer dem normalen Hammer und einem kleineren Hammer, die neben anderen Werkzeugen im Werkzeugkasten lagen, noch ein schwerer Hammer darin befunden hatte. Sie befragten auch unsere Nachbarn, ob ihnen irgendetwas aufgefallen wäre, aber die hielten sich bedeckt, denn laute Streits und Handgreiflichkeiten gab es auch bei ihnen. Die Arbeitskollegen meines Vaters sind höchstwahrscheinlich auch von der Polizei befragt worden. Und vermutlich hat die Polizei sich auch in dem Wirtshaus, in das mein Vater nach der Arbeit ging, umgehört. Jedenfalls hatten wir danach Ruhe von der Polizei.

Meine Mutter wusste zwar, dass es Wasserleichen irgendwann wieder nach oben an die Wasseroberfläche treibt, da sich Gase in der Leiche bilden, aber durch die Strömung der Donau würde man die Wasserleiche irgendwo östlicher in Richtung Hainburg und Bratislava finden, falls man sie überhaupt finden würde und sie nicht irgendwo im Gebüsch oder Schilf am Uferrand hängen und unentdeckt bleiben würde, wobei Schilf eigentlich unwahrscheinlich ist, da es nur in eher stillen Nebengewässern der Donau wie den Wiener Donau-Auen wächst. Sollte man sie jedoch finden, so würde man auch die Wunde am Kopf entdecken, würde aber nicht nachweisen können, wer dem Toten die tödliche Verletzung zugefügt hat, bzw. wie es zu dieser Verletzung gekommen ist. Außerdem glaube ich nicht, dass man so eine Tat meiner Mutter oder gar mir, der ich ja fast noch ein Kind war, zugetraut hätte. Jedenfalls wurde meine Mutter nie dazu aufgefordert, eine von der Donau angeschwemmte männliche Wasserleiche in einem Leichenschauhaus zu identifizieren.

Ich fühlte mich damals und fühle mich auch heute nicht schuldig. Ich stelle mir vor, dass mein Vater jetzt bei all den Toten ist, zu denen es ihn immer hingezogen hat. Vermutlich habe ich ihm sogar einen Dienst damit erwiesen, ihn ins Jenseits zu befördern. Nach seinem Tod schlief ich wieder bei meiner Mutter im Bett. Obwohl ich schon 14 Jahre alt war, griff ich wieder so wie früher nach ihren Brüsten, und sie ließ es zu. Ich befand mich damals mitten in jenem Hormonschub, der Jugendliche in diesem Alter verrückt spielen lässt. Mein Penis versteifte sich des Öfteren völlig unvermittelt und befeuchtete meine Unterhose mit Spermatropfen, so als wäre er ein undichter Wasserhahn. Eines Nachts veränderte sich die Beziehung zwischen meiner Mutter und mir. Meine rechte Hand verselbstständigte sich plötzlich und wanderte wie fremdgesteuert zwischen ihre Beine. Sie ließ auch das zu und später noch mehr. Ich möchte aber betonen, dass bei unserem Sex nie etwas Perverses mit im Spiel war. Wir liebten uns immer ganz normal.

Meine Mutter hat sich keinen anderen Mann gesucht und ich mir keine andere Frau. Wir leben heute noch immer zusammen, allerdings in einer größeren und helleren Wohnung, die ich für uns gemietet habe. Ich bin zwar nicht reich, habe aber ein gutes Einkommen. Nachdem ich nach der Hauptschule eine Lehre als Automechaniker gemacht hatte und nach der Gesellenprüfung auch den Meistertitel erwarb, machte ich mich mit einer eigenen kleinen Autoreparaturwerkstatt selbstständig, und die läuft nicht schlecht. Meine Mutter ist heute alt und krank. Sie hat zwei Schlaganfälle hinter sich. Untertags, wenn ich in der Werkstatt bin, kümmert sich eine von mir bezahlte Frau aus der Nachbarschaft um sie. Einmal in der Woche kommt auch eine Krankenschwester vorbei. Nach der Arbeit und an Wochenenden und Feiertagen kümmere ich mich um sie. Nach ihrem zweiten Schlaganfall ist sie inkontinent und geistig verwirrt geworden. Sie weckt mich manchmal mitten in der Nacht, weil sie sich einbildet, es sei Zeit fürs Frühstück, oder weil ihr irgendetwas eingefallen ist, das sie mir unbedingt sofort mitteilen muss. Gestern nachts hat sie mich aus dem Schlaf gerüttelt und in einem seltsam sachlichen Ton zu mir gesagt: „Wenn dein Papa aus Russland zurückkommt, wird alles wieder gut.“ Ich erwiderte: „Mama, Papa ist schon lange tot.“ Sie murmelte: „Mausetot, mausetot.“ Dann begann sie den Donauwalzer von Johann Strauß zu summen, bis sie endlich wieder einschlief.

Jetzt, wo ich das alles aufgeschrieben habe, spüre ich zum ersten Mal Trauer um meinen Vater. Er war seelisch kaputt, als er aus Russland zurückkam, meines Erachtens irreparabel kaputt. Ich werde ab jetzt an seinem Todestag immer zu der Stelle am Donauufer gehen, wo wir ihn in der Donau versenkt haben, und ein paar Blumen in die Donau werfen.

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© 2023 Johannes Morschl
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