WARUM?

Von Anna B.

Nach Ende des II. Weltkriegs zog die Familie von Susanne aufs Land in den Osten Österreichs. Das Mädchen war gerade neun Jahre alt geworden. Sie ist ungetauft, die Eltern Kommunisten. In der Stadt war das nicht so besonders ungewöhnlich gewesen, es wurde kaum darüber gesprochen; die Genossen gingen ein und aus, in der Schule gab es einige Mitschülerinnen „ohne Bekenntnis“. Am Land schaut das anders aus. Vor der Roten Armee waren die Nazifreunde aus Angst vor der Rache der Russen in den Westen Österreichs geflohen und beteten seit ihrer Rückkehr fleißig für ihr Heil. Susanne fand zwar die Sprache, die Sitten und Gebräuche, die alten Lehrer und vieles andere ziemlich befremdlich, nahm die Dinge aber hin wie sie kamen und freundete sich mit einigen Mädchen schnell an. Anni, ein Arbeiterkind, deren Schwester auf den Strich ging und deren Vater die Mutter oft schlug war ihre erste Gefährtin, bei der sie manchmal eingeladen war. Schön fand sie dort die Hasen, die sie auch füttern durfte und sie war von der stattlichen Mutter mit der langen wallenden Mähne begeistert. Anni wiederrum kam oft zu ihr auf Besuch, vor allem um das WC zu bewundern; bei ihr zu Hause erledigte man die kleinen und großen Geschäfte in einer kleinen stinkenden Holzhütte im Garten. Eine andere Freundin ging mit ihr in die Klasse; deren Vater war Lehrer am Gymnasium, am Nachmittag saß er an seinem Schreibtisch mit lauter Alben, in denen er Briefmarken aus diversen Ländern mit großer Behutsamkeit verstaute. Von Susannes Mutter bekam er regelmäßig Briefmarken aus England, Südamerika, USA und aus der DDR – alles Länder, wo Verwandten und Freunde der Familie vor oder nach dem Krieges gelandet waren. Susanne war sehr stolz, dass ihre Mutter dem Vater ihrer Freundin beim Sammeln so behilflich sein konnte. Gertraud, so hieß die Freundin, war ein wildes Kind. Mit ihr lernte sie auf Wiesen, in Büschen und im Gestrüpp herumzutollen, auf Schotterhalden zu klettern und von oben runter zu rutschen. Es war streng verboten in den nahen Ziegelwerken mit den Förderwägelchen zu spielen, aber Susanne und Gertraud hängten sich an ihnen an und ließen sich durch Teile der Anlage tragen. Im Sommer badeten sie im Ziegelteich, was auch verboten war. Dabei war ihnen schon etwas mulmig, da vor gefährlichen Strudeln gewarnt wurde. Auch das Fußballspielen auf der Straße und akrobatische Rock & Roll Versuche mit etwas älteren Buben bereitete Susanne Vergnügen.

Als sie ins Gymnasium kam, änderte sich das Leben etwas. Die Buben verschwanden von der Straße, wollten mit ihr auch nicht mehr tanzen; sie gingen in die Hauptschule und Susanne gehörte jetzt zu den „Großkopferten“. Die Lehrer an der Schule flößten ihr Angst ein, alte Knacker mit bösen Gesichtern oder alte Jungfern mit strengem Blick. Alle waren todernst und streng. Warum eigentlich?. Die ersten vier Jahre gingen schnell dahin, Susanne war eine unauffällige mittelmäßige Schülerin, von der die Lehrer*inne ihrer Mutter sagten, sie sei intelligent, aber etwas faul. Das sagten sie über die Mehrheit ihrer Zöglinge. In der Oberstufe fielen ihre Leistungen in den Keller, sie interessierte sich hauptsächlich für das andere Geschlecht, für Tanz, Alkohol und Zigaretten. Besonders Franz hatte es ihr angetan, der sich auch für sie interessierte. Eines Tages ließ er ihr in einer Unterrichtsstunde einen Zettel zustecken auf dem stand: „Einladung ins Krematorium morgen Nachmittag“. Sie erschrak und zerriss den Zettel. „WARUM das? Was soll das heißen? Will er mich verbrennen, weil ich so ein bisserl jüdisch bin und krause Haare habe?“. Sie traute sich nicht, mit irgendjemanden darüber zu reden. Was hätte es genützt? Der Schuldirektor ein alter Nazi, der Klassenvorstand und auch der Geschichtslehrer um nichts besser, beide waren nie nett zu ihr. Der Geschichtslehrer hatte einmal ohne weitere Erklärung zu ihr schauend gesagt: „Die Kommunisten sind Staatsfeinde“. Auch hier tat sich in ihr ein großes WARUM auf. Zu Hause sagte sie nichts, weil sie keine Aufregung erzeugen wollte. Sie stellte Franz zur Rede, der dummdreist meinte, er hätte nur einen kleinen Scherz machen wollen. Das WARUM blieb ihr schmerzhaft in den Knochen. Immer stärker wurde der Wunsch nach dem Tag, zurück nach Wien zu gehen. Dort begegneten ihr aber noch sehr viele WARUMs; nicht nur wegen antisemitischer Ressentiments und Hass gegen Linke.

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© 2023 Anna B.
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Glühwürmchen

Von Ani Nersesyan

-Schau mich an, verdammt!

Mitten auf der Straße bleibe ich stehen, die Hände zu Fäusten geballt. Deine herannahenden schweren Schritte hallen laut auf dem Betonboden inmitten dieser Totenstille.

-Schau mich an.

Ich spüre deine Wärme auf meinem Rücken. Deine Hände ruhen schwer auf meinen Schultern und versuchen mich zu dir zu drehen. Erfolglos.

-Ich will nicht, dass du gehst. Ich wollte es nicht, es tut mir echt leid.

Du atmest geräuschvoll aus und lehnst dich vor – deine Stirn auf meinem Hinterkopf. Dein warmer Atem bahnt sich seinen Weg durch mein zerzaustes Haar zu meinen Wangen und gibt ihnen einen heißen Luftstrom.

-Rede mit mir. Sag mir, dass du mich hasst. Sei nicht still, Fee.

Ich schüttele meinen Kopf nach rechts und versuche mich im Schatten meines eigenen Haares vor dir zu verstecken. Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Ich hab‘ dir nichts zu sagen. Ich habe alle meine Emotionen und Gefühle vor zehn Minuten im Auto herausgeschrien. Ich habe keine Luft mehr, ich bin zu erschöpft, um weiter zu schreien.

Wir stehen einige Minuten in dieser Stellung. Ich – mit meinem Rücken zu dir, du – mit deiner Stirn an meinem Hinterkopf. Deine Arme wandern zwischendurch zu meiner Taille. Du scheinst dich an mir festzuhalten, um nicht zu fallen.

Plötzlich holst du tief Luft und fängst an, eine bekannte Melodie zu summen.

Wir stehen mitten auf der Straße, neben deinem Auto. Schwache Strahlen eines pfirsichfarbenen Sonnenuntergangs beleuchten deinen Rücken und bedecken den nassen Asphalt mit unseren Schatten. Wir sind allein, nur lästige Aprilmücken tanzen im Licht der untergehenden Sonne.

Ich bin zwischen dir und deinem Schatten versteckt, umgeben von deinem Geruch, deiner Stimme, deinen Armen. Seltsamerweise will ich dich nicht loswerden. Es ist jetzt der Moment, als deine Stirn meinen Nacken berührt, während du Celentano summst und uns nach links und rechts schaukelst. Es ist der Moment, in dem ich dich nicht mehr loswerden will. Wenn man mich vor zwanzig Minuten gefragt hätte, was ich will, würde ich antworten: „Alles, außer dir.“

-Willst du mich immer noch loswerden?

Ich sage dir nichts.

Du summst Celentano weiter und bewegst dich, mich in den Armen haltend, im Takt der Melodie.

-Sing noch was, ich habe Celentano satt.

Ich drehe mich um und vergrabe mein Gesicht an deiner Brust. Ich mag deinen Geruch: Ananas, Tabak und Minze.

-Ich werde nicht gehen,- sagtest du und legtest dein Kinn auf meinen Kopf.

-Was willst du, Fee?

-Sing einfach.

Und während du „Don’t cry“ von Guns N‘ Roses zu mir summst, lugt die Sonne kaum noch hinter dem Horizont hervor und löscht miteinander verwobene Schatten vom nassen Asphalt.

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© 2023 Ani Nersesyan (Text & Bild)
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Schwere Reiter – immer weiter westwärts!

Von Michael Wiedorn

An diesem sonnigen Januarsonntag ist es schon frühlingshaft warm. Ich bin voller trügerischer Hoffnung und laufe vom Hohenzollernplatz aus immer in Richtung Westen – immer westwärts, bis ich in unendlicher Zeit – ich bin schon längst beim Marsch verstorben – an der Atlantikküste ankomme. Mein vergehendes Leben hat ein klares Ziel. Ich gehe die Schwerereiterstraße vorwärts. Aus Kaisers´ Zeiten galoppieren riesige Abteilungen feuerschäumender Schlachtrösser an mir vorbei. Rohes, unförmiges Schwarz, das in den Untergang zieht – in den Ersten Weltkrieg. Am Nordbad vorbei – einem roten Klinkerbau – an einem Laden vorbei, in dessen Schaufenstern Bauprojekte gezeigt werden. München baut. München sucht seinen Platz im Einundzwanzigsten Jahrhundert. Schwere Reiter. Männer mit granitharten Körpern wie erstarrte Kriegerdenkmäler reiten auf Pferden, deren pulsierende Muskeln von glänzendem, schwarzem Fell überzogen sind. Verbissene Kindergesichter unter Pickelhauben. Früher standen hier große Kasernen. Auf der rechten Seite der Straße breitet sich eine weite Fläche wie eine Steppe aus. Deutschland hat alle Kriege verloren. Der Kalte Krieg ist vorbei. Die Kasernen sind abgerissen worden. Hier steht nur noch ein verlassenes, altes Ziegelhaus. Ein hoher, schwarzer Eisenzaun – stellenweise rostig rot – wird von grauen Steinpfosten unterbrochen. Die Tore sind von einer schweren Eisenkette verrammelt. In den Fenstern lauert die Nacht langjähriger Verlassenheit. Hier spukt abgelaufenes Leben. Auf der weiten Fläche hinter dem Haus breitet sich die nackte, braune Erde unter der Wintersonne aus.
Auf der linken Seite der Schwerereiterstraße steht eine Reihenhaussiedlung aus dem Dritten Reich. Klein bis kleinlich von gezwungener Gemütlichkeit. Wer nicht gemütlich ist, wird standrechtlich erschossen! Alle Häuser sind in einem geradezu sehenswürdig hässlichem Ocker gestrichen. Kerndeutsche Giebeldächer. Die Häuser sind bewohnt, aber verfallen und verwahrlost. Sie warten wohl auf die Abrissbirne. Das Holz der massiven Fensterläden, die mit abbröckelnder Farbe gestrichen sind, sind völlig morsch. Kleine Steintreppen führen zu den Haustüren hoch. Eine Häuserreihe ohne Vorgärten steht unmittelbar an der Straße. Diese Bauten könnten unbewohnt sein. Die Trostlosigkeit verlassener Zimmer. Vielleicht wohnen in den anderen Reihenhäusern arme Rentner. Ehemalige Wehrmachtsangehörige kurz vor dem Verröcheln und Sozialfälle, die vor Jahrzehnten aus dem reich gewordenen Stadtinneren hier eine bescheidene Behausung zugewiesen bekommen haben. Vom Krieg und der Modernisierung Übriggelassene, Vergessene. In der Jugend granitharte Körper, die von harter Knochenarbeit und dem Zahn der Zeit grau und zerfressen sind. Sie hatten nicht die Ehre zu rechter Zeit zu Denkmälern zu versteinern.
Ich blicke in eine kleine Seitenstraße. Verwahrloste Gärten mit vergessenen Gemüsebeeten, Disteln, Brennnesseln. In der Ferne erhebt sich die Rückseite eines alten Mietshauses in den blauen Himmel. Die Balkone sind schon vor Jahren heruntergestürzt. Die ehemaligen Balkontüren sind bis zur Hälfte mit dünnen Eisenstangen gesichert. München ist arm. Jeder Stadtbewohner baute sich sein Gemüse selber an – auf Anordnung der Obrigkeit wie in jeder anderen Stadt im Großdeutschen Reich. Ich gehe die Schwerereiterstraße, die Leonrodstraße weiter.
Ich überquere die Straße. Eine öde Straße. Auf der Straßenseite, auf der ich gehe, liegen locker bebaute Grundstücke mit behälter- und containerähnlichen Behelfsbauten – grau oder weiß. Auf der anderen Seite, die ich vorhin lief, ziehen sich die verödeten Brachflächen hin. Eine Straßenbahn fährt mit leichtem Surren und gelegentlichem Klingeln genau in der Mitte der Fahrbahn. Ich schwitze. Ich habe keine Lust mehr weiter zu laufen. Aber schon gar keine Lust die ganze Strecke zurückzulaufen. Meine Absicht war bis tief in den Westen Münchens einzudringen. Immer vorwärts und vorwärts – aber ohne die Benutzung eines Verkehrsmittels. Ich sehe endlich einen Platz mit mehreren Menschen und Wohnhäusern. Hier fängt wieder so etwas wie Stadt an. Einige Straßen führen von diesem Platz aus in verschiedene Richtungen. Auf einem Schild an der Straßenhaltestelle lese ich „Rotkreuzplatz“.
Ich will und muss zum Schloss Nymphenburg. Der Stadtplan, den ich dabei habe, meint, dass ich eine Straße schräg zur Fortführung der Leonrodstraße nehmen müsste. Eine Dom-Pedro-Straße. Wer ist oder war Dom Pedro? Vielleicht ein portugiesischer Pfaffe? Ein dicklicher, älterer Herr in Soutane mit Nickelbrille schwebt durch die Korridore einer alten Siechenanstalt mit barocken Gewölben. Alte und Krüppel humpeln und tasten sich an Stöcken und Krücken und in Rollstühlen an Hochwürden, der sie mit der rechten Hand segnet, vorbei, wobei das freudige Lächeln der Erlösung über ihr Antlitz leuchtet. Schwestern mit riesigen Flügelhauben lächeln durch den Gang. Der wachsbleiche Leib des Heilands blutet an der Wand und schwebt wie ein Hammer in der Höhe, der uns alle zerschmettern will. Das Blut Christi!
Ich will weiter. Westwärts, immer weiter westwärts bis zum Atlantik!
Ich überquere die Straßenbahnhaltestelle und den Rotkreuzplatz. In der Dom-Pedro-Straße befinde ich mich in einem Wohnviertel gehobenen Niveaus. München ist reich. Neue Appartementhäuser. Safrangelb, pfefferminzgrün, ocker, grau. Fade Farben. Vier bis sechs Stockwerke hoch. Wohlhabend, aber nicht Spitzenniveau. Ich langweile mich. Ich altere plötzlich um zehn bis zwanzig Jahre. Ich bin ein älterer Herr von gesitteter Farblosigkeit zwischen Gebäuden von fader Nichtssagendheit. Meine Zukunft wird mir Kuraufenthalte in gepflegten Badeorten bringen und kleine Spaziergänge, deren Eintönigkeit und Langeweile mich zermürben werden. Safrangelb, pfefferminzgrün, ocker, grau.
Herr, blute und lasse uns bluten und zerschmettere uns alle! Schwere Reiter! Granitharte Denkmäler reiten auf Pferden vorbei.
Auf rustikalen Holzbänken einer Gaststätte an einer Straßenecke sitzen Leute und trinken ihr Bier. Ich gehe weiter und höre schon von weitem das gleichmäßige Rauschen einer Autobahn. Die Landshuter Allee. Breit und verkehrsreich. Mir zur linken Seite erhebt sich eine neubarocke Kirche in auffällig hässlichem Grün. Die Ränder und die Ecken der Fassaden sind weiß. Ich betrete das Gotteshaus und stehe unter hohen Barockgewölben. Eine fade Nachahmung der bedeutenden Barockkirchen. Ich lese ein Faltblatt. Diese Kirche wurde in der Weimarer Republik erbaut. Ich bin regelrecht vor den Kopf gestoßen. Die Kirche ist ein Damm gegen die Gegenwart. Unter den schweren Gewölben der Kirche sammelt sich die Zeit an und bleibt wie Blei stehen. Die Republik war schon längst ausgerufen und viele Gläubige träumten noch von den Kurfürsten. Ich fliehe regelrecht aus diesem Gebäude und will weiter. Westwärts!
Ich stehe an der Landshuter Allee. Sie ist eine unüberwindliche Grenze und ich weiß vorerst nicht, wie ich weiter komme. Diese Straße ist eine Schneise durch die Stadt. Links von mir liegt eine Unterführung abwärts. Ein düsterer, unterirdischer Gang mit nachgedunkelten Betonwänden. Auf der anderen Seite gehe ich wieder die Treppe aufwärts. Vor mir liegt jetzt ein Sportplatz. Die Straße immer vorwärts! Ich erreiche einen Platz. Rechts von mir erhebt sich wieder eine Kirche. Ebenfalls eine elende Kopie. Der Platz davor ist länglich und zum größten Teil mit Grünanlagen ausgefüllt. Er ist beherrscht von der neubarocken Fassade eines katholischen Alten- und Pflegeheimes. Helles Beige. Die Fassaden sind mit Karyatiden und Rundbögen verziert. Ein Palast des Elends. Athletische Oberkörper aus Stein ohne Unterleib stützen die Steinmassen der Fassade. Aus einem geöffneten Fenster blickt ein fetter, älterer Mann in Unterhemd auf den Platz. Er steht aufrecht und raucht eine Zigarette. Eine vom Leben verbrauchte und verwahrloste Frau um die Fünfzig mit strähnigen, langen Haaren und Jogginganzug verlässt die Anlagen Richtung Heim. Sie trägt Hauspantoffeln. Sie ist in ihrem Leben sehr früh – zu früh – an der Endstation angekommen – stelle ich mir vor.
Ich gehe die Straße weiter. Auf der anderen Straßenseite erhebt sich ein städtisches Waisenhaus. Der Himmel spiegelt sich in den Fensterscheiben. Die Fenster sind mit festen Isolierrahmen in das Gemäuer eingelassen. Das Waisenhaus ist ein Totenhaus. Das Haus wirkt menschenleer. Es ist versiegelt. Kinder, die ihre Eltern verlieren, werden hier eingefroren und bei Vollendung ihres achtzehnten Lebensjahres zum Leben erweckt. Die in den Fensterscheiben sich spiegelnden Wolken sind zu Eis erstarrt. Ich gehe eine Mauer entlang und komme zum weit geöffneten Eingang und wage nicht das menschenleere Gelände um das Haus zu betreten. Ein unbenutzter, verwahrloster Spielplatz. Weit und breit keine Kinder, keine Erzieher. Wäre das Tor mit einer Eisenkette verschlossen gewesen, hätte ich mehr Zutrauen zu diesem Bau gehabt.
Ich wende mich vom Waisenhaus ab, überquere eine Straße und stehe am Anfang des Kanals, der zum Schloss Nymphenburg führt. Am Beginn des Kanals steht ein Heiligtum. Ein bedachtes, kleines Tempelchen. An den vier Ecken wird das Gebäude von kräftigen Steinpfosten gestützt. An allen vier Seiten bildet ein engmaschiges Eisengitter die Fassade. Geht man sehr nahe an das engmaschige Gitter und bemüht sich durchzuschauen, sieht man in der Mitte des leeren Raumes einen erzenen Löwen auf einem Steinpodest. Heinrich der Löwe gründete 1158 München. Niemand kann sich dem Gott nähern. Er blickt geradeaus auf das aus der Ferne weiß leuchtende Schloss. Auf beiden Seiten entlang des schnurgeraden Kanals Spazierwege. Die Routine gelangweilter Spaziergänger an einem langweiligen Sonntagnachmittag. Man plappert Plattitüden und quält seine Umwelt mit gepflegten Niaiserien. Ich habe jetzt genug.
Schwere Reiter! Rohes, unförmiges Fleisch.

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© 2023 Michael Wiedorn
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Der Kanalräumer

Von Michael Wiedorn

Er ist unten. Die Herren haben ihn hinunter in die Rohre verbannt. In den Gestank, den nur noch Ratten bewohnen. Ein kräftiges Tier springt aus dem Schritt des Arbeiters und eilt weg von dessen Körper. Das dicke, feste Gummi einer Watthose umschließt den schwitzenden Mann. Der Erniedrigte wird nie das fröhliche Leuchten der Sonne wiedersehen. Die Sonne würde sich bei seinem Auftauchen im Tageslicht verfinstern. Bäume und Blumen würden vor Abscheu auf der Stelle verdorren. Dunkle Rinnen von Schlamm und Scheiße laufen über seine gemeine Fresse. Ein Schutzhelm behütet seinen kahl geschorenen Schädel. Helme beschützen die kümmerlichen Hirnmassen der Soldaten vor tödlichen Kugeln. Der Soldat krümmt sich schutzsuchend im schmatzenden Schlamm. Wieviele Männer sind schon von der Erde verschluckt worden? Der junge Arbeiter stinkt bestialisch nach frischem Schweiß und hart getrockneter Scheiße. Auf offener Straße wäre er ein Gegenstand der grenzenlosen Verachtung. Seine unterwürfigen Augen blicken aus seinem von einer Dreckkruste verunziertem Gesicht. Eine schroffe Narbe zerteilt seine dumme Visage, die ihm ein Schwert voller Absicht zugefügt hat. Früher erregte der Junge durch sein edel geschnittenes und sensibles Antlitz Aufsehen. Der tägliche Umgang mit gärendem Schmutz und Abwasser lässt den Eiter in schweren, rot leuchtenden Pickeln aufblühen. Auf der Erdoberfläche würde seine gigantische Körpergröße und die durch die harte Arbeit gestählten Muskelgebirge die Zivilisten in die Flucht treiben. Die Stadt schüttet ihre Ausgüsse auf sein Haupt. Seine noch fülligen Lippen leuchten rot wie Erdbeeren.
Sein höchster Ehrgeiz und Stolz besteht darin durchzuhalten. Selig ist, was hart macht. Schläge mit der Hundepeitsche, mit dem Ochsenziemer, granitharte Ohrfeigen empfängt er stolz mit immer versteinertem Gesicht. Es zeigt keine Schmerzen, keine Trauer, keine Freude, sondern immer nur geduldige Härte. Der Kerl verwandelt sich nur in eine nützliche Eisenstange. Nur sein gewaltiger Adamsapfel geht bei Demütigungen auf und ab. Nur seine Augen leuchten himmelblau wie ein wolkenloser Sommerhimmel. Sie blicken sehnsüchtig in die Ferne. Grenzenloser Hass funkelt in ihnen. Sein sehniger Körper bebt wie eine geladene Batterie. Batterien lassen Arbeitswerkzeuge funktionieren. Die stärksten Kämpfer an der Oberfläche würden von seinem frei gelassenen Hass niedergeschmettert werden. Liefe er droben im Tageslicht, beföhle seine Scham und seine Niedrigkeit seinen Blick immer zum Boden gesenkt zu halten. Die Klos der freien Bürger schütten ihre Abwässer auf seinen Schädel. Die Nüstern seines gewaltigen, roten Zinken mitten in der Fresse beben über dem üblen Gestank, zu dem man ihn verurteilt hat. Der Schnabel eines Geiers hackt in die Eingeweide seines Opfers. Die eiserne, kantige Kinnlade zermalmt und vernichtet den ihm gewährten Fraß. Sein rohes Maul könnte Nägel zerkleinern. Man hat ihm den menschlichen Knochenkiefer gegen einen aus Eisen ausgewechselt. Warum hat man ihm nicht ein ganzes Skelett aus Eisen eingebaut? Er liebt es hart zu sein. Die felsige Schroffheit seiner Fresse ist eine Bastion gegen das zersetzende Blau und das sehnsüchtige Leuchten der Augen. Der Verbannte räumt gebückt mit der Schaufel den Schlamm und die Scheiße weg. So sind seine Tage ausgefüllt. So werden alle kommenden Tage verlaufen. Jeder hat seinen Platz im Leben zugewiesen bekommen. Andere Verurteilte werden mit schweren Fuß- und Halseisen zusammengekettet zur Arbeit getrieben.
Im Tageslicht unter normalen Menschen würde er hilflos und schüchtern durch die Straßen taumeln. Sein tierischer Gestank. Seine gehärtete Fresse zeigt aller Welt seine rohe Dummheit. Manche Gestalten haben einen Kuhfladen statt eines Gesichtes. Die Stumpfheit seines Tagesablaufes hat ihn verblöden lassen. Nur seine himmelblauen Augen blicken sehnsüchtig in die Ferne. Wohin blicken sie? Schwarze, feuchte Mauern setzen dem Blick enge Grenzen. Kann er überhaupt sprechen oder käme nur ein hartes Grunzen über seine Lippen? Man bewunderte seine klare, tiefe Männerstimme. Seit Jahren hat er kein Wort mehr gesprochen. Er hat hier nichts zu melden. Man sagt ihm, was er zu wollen hat.
Hinter dem dicken, dreckverkrusteten Gummi des Stiefels und der Stahlkappe dehnt sich das feuchte Fleisch seiner gewaltigen Quanten aus. Weißes, feuchtes Fleisch schwitzt. Nasser, käsiger Gestank wird vom harten Gummi im engen Fußkerker gefangen gehalten. Man bewunderte früher diesen Jüngling für seine Schönheit. In seinen überdimensionalen Füßen steckt mehr Kraft als in jedem noch so trainierten Bizeps. Das Wesen des Mannes liegt in seinen Füßen. Die Gesichtshaut des Kanalräumers glänzt von Schweiß, von Lust. In den Kellern der Eingeweide fließt Braunes und Gelbes. Wirre Labyrinthe, denen niemand entrinnen kann, laufen ohne Ziel und Mittelpunkt immer weiter. Alles fließt oder bleibt an einigen Stellen stehen oder verfestigt sich zu einem verseuchenden Brei. Die Seele des Mannes ruht im Arsch.
Der Arbeiter erscheint tief im Dunkel der Kanalisation. Ein Spross der Scheiße. Keine Mutter nimmt die Schande auf sich ihn zur Welt gebracht zu haben. Einen Mann.

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© 2023 Michael Wiedorn
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Wie die Toten leben

Von Michael Wiedorn

Es ist ein verschneiter Sonntagnachmittag in einem Altenheim in Moosach. Ich steige mit meiner sechsundachtzigjährigen Mutter aus dem Fahrstuhl. Ich öffne die verglaste Flügeltüre und wir betreten einen großen Saal, vollgestellt mit Tischen und Stühlen. Mehrere alte, allzu alte Menschen sitzen über den ganzen Raum verstreut. Haben sie den richtigen Zeitpunkt zum sterben versäumt? Wann versteht man, dass der rechte Zeitpunkt gekommen ist? Sie starren vor sich hin ohne etwas wahrzunehmen. Angesichts des zähen Breies ereignisloser Tage und noch mehr ereignisloser Tage und einer leeren Zukunft, die nur ein immer tieferes sich Verlieren in die sich verdichtenden Nebeln der Demenz bringt, verliert alles jede Bedeutung. Die Behauptung, sie würden auf den Tod warten, würde ihnen zumindest ein Minimum an Spannkraft unterstellen. Durch die großen Fensterscheiben sehe ich auf weiße und graue Schneeflächen und das feuchte, schwarze Holz der laublosen Bäume. Es ist mucksmäuschenstill in dem mit Menschen gefüllten Saal. Was soll man noch sagen? Der Eine würde aus der Tiefe seiner Demenz durch dichte Wolken und Nebel in die Abgründe einer anderen Demenz rufen. Jeder ist hier ein von Nebelwänden abgeschlossener Kontinent. Nachdem ich einige Zeit schon am Tisch mit meiner Mutter sitze, fallen mir einige jüngere Leute um die Sechzig und Siebzig auf. Junge Leute. Wohl die Kinder der Uralten. Sie sitzen ebenfalls schweigsam und noch mehr ratlos an den Tischen. Wie schnell sie sich hier an das Tote angepasst haben!
Meine Mutter musste wegen eines Dekubitus vor kurzem einen Monat lang reglos in ihrem Zimmer im Bett liegen und durfte sich absolut nicht bewegen. Immer den Blick an die Decke oder aus dem Fenster auf den grauen Novemberhimmel gerichtet. Vor ihrem Eintritt ins Altersheim lag sie im Krankenhaus und fiel den Ärzten auf, dass sie nicht das geringste Bedürfnis zu irgendeiner Betätigung hatte. Sie war völlig wach und bei Sinnen und tat buchstäblich nichts. Sie starrte den Tag bloß die leere Wand an. In der Dämmerung blickte sie in das sich verdichtende Dunkel.
Wenn sie weiter hier im Heim bleibt, wird sie hier nicht mehr rauskommen. Sie wird bleiben und bleiben und nichts veranstalten. Sie liegt im Raum wie ein Tisch oder eine Kiste im Raum liegen. Was sollen solche Gegenstände schon veranstalten? Falls sie jemals in ihre eigene Wohnung zurückkehrt, sitzt sie auf ihrem Biedermeierstuhl im Wohnzimmer und wird sitzen bleiben wie eine von anderen hingestellte Sache. Der Fernseher läuft in Endlosschleife um in die lähmende Totenstille Geräusche zu bringen. Leben ist Lärm. Meiner Mutter sind Geschichten und Tatsachen Wurst. Das ist alles für die Lebenden. Auf der Mattscheibe reißt eine junge Frau ihr Maul auf, grinst und plappert irgendetwas. Meine Mutter sieht auf eine Ecke des Zimmers. Ihr Blick steigt die Wand hoch bis zu einem Fleck auf der Zimmerdecke. Dann blickt sie wieder auf die Mattscheibe. Sie ist vielleicht nicht ganz so tot wie die Toten, die im Heim leben. Eine in ihr verbliebene, orientierungslose Anspannung lässt sie den ganzen Tag nervös ihre Hände reiben, als müsste sie eine rätselhafte Verunreinigung abwaschen. So bleibt sie auf dem Stuhl, abgesehen von wenigen, kurzen Fernreisen in die Küche oder aufs Klo. Es vergehen die Tage. Es vergehen die Wochen, die Monate, die Jahre. Abends geht sie ins Bett.
Wir sitzen jetzt in der Cafeteria des Altenheimes. Der endlich erreichte Tod – der Herzstillstand, der plötzliche Blutsturz, der Magendurchbruch – ist eine Kraft des Lebendigen, die hier im Haus fremd und unerwünscht ist, aber sich nicht des Hauses verweisen lässt und hier immer wieder wie ein Einbrecher eindringt. Der Tod ist nicht nur schlohweiß oder grau wie der lautlose Schnee draußen, sondern kann auch schreien und rot leuchten. Rot leuchtet das Blut der Sterbenden.
Eine Altenheimbewohnerin – viel zu jung – um die Sechzig betritt den Saal und arbeitet sich mühevoll auf den Stock gestützt, vorwärts. Vielleicht hat sie einen oder mehrere Schlaganfälle gehabt. Graue Haare, graues Gesicht, graue und braune Kleidung. Die alte, eigentlich gar nicht so alte Frau stemmt den Stock auf den Fußboden und zieht voller Mühe ihren Kadaver nach.
Über der Cafeteria befinden sich die Stockwerke mit den Wohnräumen der Insassen, den Aufenthaltsräumen, in denen die Alten weiter vor sich hin existieren, weiß gestrichenen Korridoren mit einer etwa dreißig Zentimeter von der Wand abstehenden Holzstange, an der sich weißgesichtige Noch-nicht-tote und Nicht-mehr-lebende festhalten und festklammern und sich zögerlich wie Bergsteiger an ihrem Kletterseil vorwärts kämpfen, als würden sie bei einem Sturz abgrundtief auf harte Felsen prallen und statt am Ende ihrer Reise dem Tod sanft und lautlos in den Schoß zu fallen, ihre gläsern gewordenen Knochen brechen und in noch gesteigerter Verkrüppelung und in noch verdünnterer Lebensverdünnung weiter spuken müssen.
„Amerika, Amerika“ – lallt eine zusammenschrumpfte, von Alter und Krankheit gebleichte Greisin, Von hinten sehe ich über der Rückenlehne des Rollstuhles nur die von dünnem, weißem Haar umgarnte Kopfhaut – von Altersflecken übersät. Die Patientin wird zur großen Fensterscheibe, von der man bei Tageslicht bequem auf die Straße blicken könnte, gefahren. Die für die Außenwelt blinden Augen blicken in das Schwarz der nächtlichen Fensterscheibe. „Amerika, Amerika“ – ruft sie laut. Vielleicht wollte sie als junges, hübsches Mädchen – hätte sie damals in prophetischer Vorausschau ihren heutigen Zustand gesehen, hätte sie sich auf der Stelle die Pulsadern aufgeschnitten – mit einem ebenso jungen, hübschen GI in die USA ziehen und Millionärin werden. Vielleicht hat sie einen Sohn, der dort Karriere macht. Der einzige, von seiner Mutter bewunderte Sohn, der über Meere und Kontinente vor der leidenschaftlichen Liebe seiner Mutter flieht. Er schämt sich dieses Wracks, dem er entsprossen. Früher fuhr man mit dem Schiff und brach endgültig alle Brücken zur Alten Welt ab. Nachts besteigt man eine Fähre, stößt für immer vom Ufer ab, vor sich einen weit in den schwarzen Himmel reichenden Fährmann. Die jenseitigen, dunklen Ufer ohne Vogelgezwitscher – völlig lautlos – sind das Ziel. Sie wurden noch nie von Lebenden betreten. Die Alte starrt aus dem Rollstuhl in die nächtlich schwarze Leere. Eine fette Heiminsassin kräht fröhlich: „Dein Liebster ist in Afrika, nicht in Amerika. Er ist in Afrika.“ Sie prustet vor Lachen – das böse Biest. Ihr sich mächtig vorwölbender Bauch bebt und zittert beim Lachen. Die alte Frau am Fenster – dieses gespenstische Überbleibsel ihres eigenen Lebens – reagiert nicht. Die Worte versickern in den Nebeln der Demenz.
Diese Böse am Tisch hält sich auch schon seit vielen Jahren hier im Heim auf. Sie stammt ursprünglich aus dem Böhmerwald. Von ihrer Mundart ist sie nicht von den hier in München Ansässigen zu unterscheiden. Bei ihrem Anblick denke ich an Blasmusik, an Trachtenfeste, an Schweinshaxe. Nimmt sie den Tschechen ihre Vertreibung aus Böhmen übel? Stand sie als junges, sicher blondes Mädchen Fähnchen winkend Spalier um den Führer und die einmarschierende Wehrmacht begeistert zu empfangen? Die Dicke steht noch am Ufer, von dem sich die Fähre entfernen wird. Die Vögel zwitschern noch an ihrem Lebensabend. Die Böhmin spielt mit meiner Mutter und anderen Insassen Mensch-ärgere-dich-nicht. Die Alten vom Tische sind gewissermaßen die geistig wache und noch nicht ganz hinfällige Elite des Hauses. Im Flur hängen Zeichnungen, die die Mitglieder der Zeichengruppe verfertigt haben. Blasse Zeichnungen. Die Affekte, die bei starken Spannungen oder in der Jugend Ausdruck suchen, schlaffen im Alter ab. Frühere Beamte und Verwaltungsangestellte, deren von der Vernunft gedrosseltes Seelenleben nie besondere Ausdrucksmittel suchte. Lieblos gezeichnete Häuschen mit einfallslos gezeichneten Kugelbäumchen, bewohnt von Strichmännchen. Alles in faden Zeichenstiftfarben. Selbst das Rot ist fahl. Einbildungskraft und Welterleben sind ausgetrocknet.
Die Mensch-ärgere-dich-nicht-gruppe bestehend aus besagter Böhmin, meiner Mutter, einem unscheinbaren, pensionierten Beamten und einer zum Skelett abgemagerten Tirolerin trifft sich jeden Abend an diesem Tisch im Aufenthaltsraum. Die Alten sitzen am Tisch schweigend und warten und warten. Sie schweigen und nichts geschieht. Ist die Zeit stehen geblieben? Sind sie zu Puppen erstarrt? „Pack ma´s“ – ruft die Böhmerin in die lähmende Leere. Man versteht und holt die Schachtel mit dem Spiel heraus. Das Totengerippe aus Tirol ist jetzt hellwach. Sie steht doch noch auf unserem Ufer. Aber ihre sehr tief liegenden Augen sind dick violett-schwarz umschattet. Ihre überdimensionierte, knochige Nase ist von einem Netz aus rot-blauen Äderchen überzogen. Ich fürchte die Berührung ihres Körpers, wie es mich ekelt einen Leichnam zu berühren. Jeder, der dieses Haus betritt, wird mit dem Mehltau des langsamen Absterbens bedeckt und zerfressen.
In der ersten Zeit nach ihrem Eintritt ins Heim wollte meine Mutter mit meiner Hilfe fliehen. Eine etwas gar zu alte Prinzessin, die in dunkelster Nacht vom Prinzen in Rüstung und auf einem Schimmel vor dem Drachen in Gestalt der Altersheimverwaltung und der grausamen Tatsache des eigenen Verfalles zu den lächelnden Gestaden der verflossenen Jugend gerettet wird. Während des Rittes auf dem Ross verwandelt sich die Greisin in das junge Mädchen, das sie einmal vor langer Zeit war. Als Geliebter meiner Mutter bin ich ihr Komplize gegen die übrige Welt.
Beim ersten Telefongespräch nach ihrem Unfall – sie lag noch im Krankenhaus – flüsterte sie ins Telefon: „Wir müssen jetzt stark sein! Ich – deine alte Mutter – und die Ärzte müssen darum kämpfen, dass du nicht blind wirst. Du wirst blind! Ich werde dich pflegen müssen. Ich und der Blindenstock werden dich durch dein zukünftiges Leben führen. Du wirst blind!“ Im Nebel des Alterns und Auslöschens verschwimmt ihr Traum von ihrem Sohn als Ritter auf dem Schimmel in ihren Traum meiner Erblindung. Würde ich sie auf ihre Träume ansprechen, würde sie mich wie aus den Wolken gefallen anblicken und sich aufrichtig Sorgen über meinen Geisteszustand machen. Vor ihrem Dekubitus sah sie sich als eine im Kern junge Frau unfreiwillig bekleidet mit einem gealterten Fleischmantel. Immer mitten im Leben stehend, immer aktiv, immer aktiv wie der Hamster im Laufrad, wie ein mit strammem Schritt Marschierender, der nicht kapiert hat, dass er nicht einen Schritt vorwärts kommt. Sie stand nie im Leben. Sie war nie aktiv. Immer das Radio so laut, dass die Mauern zittern. Das Netz des Verlöschens hat sie schon lange gefangen gehalten. Ihr ist jetzt klar, dass sie wieder Windeln tragen muss. Die Pflegerin nimmt ihr die goldfarbenen Ballerinaschühchen, das letzte Zeichen weiblicher Eitelkeit und gibt ihr graue Filzpantoffeln – grau wie das Alter. Ihr wird schlagartig klar, dass sie schon sehr lange sehr alt ist.
Auf einem für sie viel zu großen Stuhl sitzt eine alte Zwergin. Ist sie erst in ihrem Alter so zusammengeschrumpft? Vielleicht hatte sie eine furchtbare Krankheit, die sie verkürzt hat. Die Lehnen rechts und links ihres Körperchens sind viel zu weit entfernt, dass sie sich auf sie stützen könnte. Sie hat die Arme auf den Tisch vor ihr gelegt. Sie blickt mit buchstäblich tierischem Ernst. Ihr Blick und ihre Gestik sind die einer Schimpansin. Was immer die Schimpansin in ihrem Leben gearbeitet hat, jetzt ist sie dazu verdonnert nichts zu unternehmen. Auf ihrem Schädel wachsen nur so wenige und spinnwebartig dünne Haare, dass man das Tier als kahlköpfig bezeichnen muss. Knapp über der Schläfe breitet sich ein großer, schwarzer Fleck aus. Die Greisin lässt den Blick über die anderen Leute im Raum schweifen. Sie ist von vollendeter Nüchternheit. Nichts hat für sie irgendeine Bedeutung. Sie ist von einer tierischen Toleranz gegenüber allen Erscheinungen menschlichen Lebens. Jetzt will sie vom allzu hohen Stuhl herunter. Sie hebt ihre eine Hand um höflicher weise jemandem, der eben an den Tisch getreten ist, ihren Platz anzubieten. Sie ist plötzlich ganz aufgeregt. Ihre Bewegungen sind hektisch beim vom Stuhl Herunterrutschen. Sie wirkt diensteifrig und unterwürfig mit ihrem todernsten Blick, der vor Dienstleistungseifer nicht zu dem herbei Getretenen hoch schauen kann. Ihr Blick ist mit den Füßen und dem Boden genug beschäftigt. Sie zappelt mit ihren winzigen Beinchen und ist von der verständlichen Angst gepackt von der Stuhlleiste ganz tief hinab auf den Fußboden zu stürzen. Ihre Heimat ist die Stille. Bewegungen machen ihr Angst.
Ich beschließe meine Mutter aus dem Heim zu nehmen. Ich kündige schriftlich. Die Heimleitung schickt mir die Kündigungsbestätigung und gleichzeitig einen neuen Vertrag für unbegrenzte Zeit, auf dem die unterste Linie für mich mit leuchtend gelben Farbstiftkreuzchen angezeigt ist, damit ich gleich unterschreibe und den erneuerten Vertrag an das Heim zurückschicke. Ich setze gehorsamst den Kugelschreiber an um zu unterschreiben, als mir wie eine Erleuchtung in den Sinn kommt, dass die Heimleiterin mich als Deppen einschätzt, den die vielleicht nicht starke, aber sehr kluge Hand einer Heimleiterin oder eines anderen Sozialpflegers zum eigenen Wohl an der Nase durch das Leben ziehen muss. „Unterschreiben Sie! Nicht denken, das können Sie sowieso nicht! Tun Sie einfach, was man Ihnen sagt!“ Ich schmeiße den Stift wütend in die Zimmerecke. Der Sohn einer dementen Mutter ist das unmündige Kind eines unmündigen Kindes. Beide sind die lieben Kinder der Heimleiterin.
Ich besuche meine Mutter im Heim. Die Stationsschwester meint: „Sie holen ja morgen vorzeitig Ihre Mutter nach Hause.“ Ich fühle mich übertölpelt. Davon war vorher nie die Rede. Sie halten mich für einen willensschwachen Idioten. Eine weiche Masse, die man nach seinem Willen bearbeiten kann.
Ich sitze mit meiner Mutter und einer Schwester im Zimmer. Es ist sehr spät am Abend. Der Pflegefall wird gerade ins Bett gebracht. Die Pflegerin strahlt geradezu vor Liebe zu meiner Mutter. Die Schwester strahlt und leuchtet. Meine Mutter sitzt direkt neben der Schwester auf dem Bett. Die Angestellte lächelt mit allen Künsten der Verführung ihr Opfer an immer mit verstohlenen Seitenblicken zu mir. Ich sitze auf einem Sessel und schaue zu wie das Publikum im Theater einem Stück zusieht. Die Schwester schwärmt von der Liebe und Geborgenheit, die allen Pfleglingen zu Teil wird. Meine Mutter sieht mit ausdruckslosem Gesicht zur Seite, als wüsste sie nicht in welchem schlechten Stück in welcher Schmiere sie mitspielen soll. Gute Menschen helfen ihren Mitmenschen, indem sie sie wieder zu Kindern machen.
Auf dem Flur läuft hektisch eine Alte nur mit BH und Schlüpfer bekleidet – sonst ist sie splitternackt. Ihr läuft der Dünnschiss die nackten Beine herunter. Sie schämt sich zu Tode. Sie versucht das Schlimmste zu verhindern, in dem sie ihre Finger in das mit Scheiße beschmierte Loch steckt und dann die dreckigen Finger zum Mund führt und sie ableckt.
Hinter einer Glasscheibe glotzt eine Pflegerin mit ausdruckslosem Gesicht und fest zusammenpressten Lippen.

*

© 2023 Michael Wiedorn
Alle Rechte vorbehalten

Und wenn nicht

Von Dorothea Lesche

Dieser Schmerz in der Brust. Wie Krämpfe. Wie Schluchzen. Die Einsamkeit wie ein Schmerz in der Brust. Und um die Einsamkeit herum all die Menschen. Warum merkten sie nichts, all die Menschen.
Von hier und von dort kamen die Menschen auf den Platz, aus der Septembersonne, aus der U-Bahn, von zu Hause, aus dem Büro. Gingen geradewegs auf einen Stand zu oder schlenderten von diesem zu jenem. Fingerten in Äpfeln herum, pieksten Käsewürfel auf Holzstäbchen. Reichten Scheine über den Verkaufstisch, kramten in der Geldbörse nach Münzen. Arme schwangen hin und her, schwangen vor und zurück. Hände, beringt, und Hände, behandschuht, reichten hinüber und reichten herüber. Münder, rotlippig, und Münder, stumm, riefen dies und murmelten das. Und aus jedem Mund tönten die Worte des Arztes. Sie werden sehen, alles wird gut …
Was tat sie hier. Sie hatte sich treiben lassen wollen in dem Gewühl aus Farben, Formen, Gerüchen wie eine Touristin in der südlichen Fremde. Hatte vergessen wollen, bewundern, genießen. Hatte hier und dort etwas für sich entdecken wollen, sich etwas gönnen wollen. Hatte ihren Körper vollsaugen wollen, bis er prall und bunt und duftend auf den Worten des Arztes schwamm. … alles wird gut … gut … gut … Aber ihr Körper, er konnte nichts mehr aufnehmen; die Einsamkeit füllte jede seiner Zellen aus. Kein Platz für etwas, was sie sich gönnen wollte. Was tat sie hier.
Eine Einkaufstasche stieß sie an. Ihre Hände fuhren an ihren Bauch, als ob sie etwas halten wollten in ihm. Mit dem Stoß war die Einsamkeit in die Leibesmitte zurückgeschnellt. Schlug dort Wurzeln. Machte Platz in ihrem Körper. Platz für etwas, das sie sich gönnen wollte. Was. Ihre Arme streckten sich aus, ihre Hände wollten etwas ergreifen, irgendetwas. Es musste doch etwas geben, womit sie ihren Körper vollsaugen konnte. Aber die Hände griffen in den eisigen Atem all der Menschen. Eingefroren die Farben, Formen, Gerüche.
Aus Kisten, aus Kartons, aus Tüten rollten Früchte wie bunte Schneebälle. Rollten näher und näher. Wurden zu Lawinen. Wollten sie zerquetschen. Aus Erde, aus Himmel, aus Haut schlängelten sich Düfte wie giftige Reptilien. Schlängelten sich näher und näher. Wurden zu Stricken. Wollten sie fesseln. Aus Ecken, aus Kanten, aus Rundungen zischten Grün, Rot, Gelb, Grün auf wie Feuerwerksraketen. Zischten höher und höher. Wurden zu Blitzen. Wollten sie verbrennen. Sie musste sofort hier weg. Wohin.
Aber die Einsamkeit wehrte sich. Fuhr aus der Leibesmitte heraus, bis sie wieder jede Zelle ihres Körpers ausfüllte. Bis der Körper erstarrt war wie in einem Eisblock. In der Brust die Einsamkeit wie ein Schmerz. Und um die Einsamkeit herum all die Menschen. Warum merkten sie nichts, all die Menschen.
Ein Ellenbogen stieß sie an. Ihre Hände fuhren an ihren Bauch, als ob sie etwas schützen wollten in ihm. Warum mussten die beiden Frauen ihre Kinderwagen so breit nebeneinander schieben. Sie strahlten über Gewühl und Menschen hinweg, die beiden Frauen. Strahlten jung und bunt und duftend. Jünger und bunter und duftender als all die Farben, Formen, Gerüche um sie herum. So jung, dass es wohl auch ihr erstes Kind war. … alles wird gut … gut … gut … Hier war nichts, das sie sich gönnen konnte. Und es war sowieso kein Platz in ihrem Körper. Sie brach den Körper heraus aus aus dem Eis und schleppte ihn auf den Gehsteig. Dort stand er eiligen Menschen im Weg, Kaffeebechern und Laptoptaschen. Stirnrunzeln bestrafte sie dafür. Auch Kopfschütteln und Schimpfworte. Sie musste sofort hier weg. Wohin.
Die Einsamkeit strebte zurück. Dorthin zurück, wo die Worte des Arztes sie gewärmt hatten. Nächste Woche der Organultraschall. Sie werden sehen, alles wird gut … Dorthin zurück, wo weite Räume, weiß und zartgelb, sie umhüllt hatten, als wären sie die Hoffnung. Wo eine lächelnde Hand auf ihrer Schulter sie verabschiedet hatte, als würde sie sie segnen. … alles wird gut … gut … gut …
Und wenn nicht. Man würde ihre Entzündungswerte messen und entscheiden, ob sie sofort in die Klinik müsse. Auf alle Fälle sei der jetzige Befund für sie völlig ungefährlich. Und auch für ihr Kind. Er hatte sich Notizen gemacht während seines Monologs. Nicht etwa unaufmerksam, sondern als wäre sie für ihn der wichtigste Mensch auf der Welt und er müsse sie für alle Ewigkeiten auf das Papier bannen. Von Zeit zu Zeit hatte er ihr in die Augen gesehen. Den Kopf geneigt, eine Hand an die Wange gelegt, hatte er in ihr Leben gelauscht wie in eine Muschel. Sie hatte gesucht in seinem Blick, gesucht und gesucht. …alles wird gut … gut … gut … Und wenn nicht.
Sie stand immer noch auf dem Gehsteig. Sie musste sofort hier weg. Wohin.
Das Cafe´ am Rande des Platzes. Weit genug entfernt von dem Gewühl aus Farben, Formen, Gerüchen und doch nah genug. In der Sonne saß sie bei einem Espresso wie eine Touristin in der südlichen Fremde. Fast. An einem Tisch drei betagte Herren bei ihrem Weißbier, an einem anderen zwei silbergraue Damen bei Kaffee und Kuchen. Am Tisch neben ihr eine Frau und ein Mann, nicht mehr sehr jung, wohl so alt wie sie selbst. Sie strahlten sich an, die Frau und der Mann, und ein Glanz, weiß und zartgelb, wölbte sich über sie wie ein Heiligenschein. … alles wird gut … Der Mann kramte in einer Tüte, holte eine Schachtel heraus, öffnete sie. Er zog die Spieluhr auf und legte sie auf den Bauch der Frau. Hockte sich nieder und lauschte. Weißt du, wie viel Sternlein stehen …
Sternlein. Sterne. Sternenkinder. Ihre Hand glitt in die Jackentasche und die Finger streichelten das Blatt Papier, knüllten es, drückten es. Drückten sämtliche Einsamkeit hinein. Sie zog die Hand wieder heraus, strich sich über den Kopf. Jetzt ruhten sie in ihr. Sternenkinder.
Weißt du, wie viel … Die Spieluhr leierte Sternlein um Sternlein, die Frau und der Mann strahlten sich an. Sie musste sofort hier weg. Wohin. Dorthin.
In einer Stunde ging der nächste Zug zurück nach Hause. Sie quälte sich aus den Sternlein heraus; den Klumpen Einsamkeit im Papier ließ sie auf den Tisch fallen, bevor er das Paar nebenan treffen konnte. Und die Beschreibung brauchte sie nicht mehr, sie wusste ihren Weg. An ein paar Läden vorüber, an einer Schule, an einem schattigen Hof voller Kinderlärm. Weiter bis zur Kreuzung. Stadtauswärts auf der rechten Seite zeigten Büsche und Bäume eine weite Sehnsucht an. Die Ampel stand auf Rot. Daneben der Wegweiser, hölzern, das Dunkelgrün abgeblättert. Die Buchstaben verschnörkelt, als wären sie mit Sternlein verziert. Wie aus der Zeit gefallen. Aus Zeit und Leben gefallen in die Einsamkeit neben der roten Ampel. Waldfriedhof. Die Ampel rückte auf Grün, auf Rot, auf Grün. Ein Friedhof.
Was tat sie hier. Früher hatte sie sich vorgenommen, diesen Friedhof zu besuchen, früher. Den berühmten Waldfriedhof, landesweit erstmalig angelegt in schattigen Hainen anstatt wie üblich in strikten Gräberfeldern. Was tat sie hier.
Nur eine kleine Runde. Stämme und Äste, Namen und Jahreszahlen, bemoost, uralt. Und sie schritt zwischen ihnen mit ihrem jungen Leben im Leib. Büsche und Bäume machten einer sonnigen Weite Platz, einer reif blühenden Wildblumenwiese, einem schilfumrandeten See. Enten ruhten im Kies. Früher hätte sie die Kamera dabei gehabt. Früher.
Schmale Wege kreuzten breitere; jede Kreuzung forderte eine Entscheidung. Die kleine Runde wurde größer und größer, wurde eine Wanderung; die Entscheidungen überließ sie ihrem Leib. Als vor ihr in der Ferne weiße Holzkreuze, unzählige, leuchteten, kehrte sich ihr Leib ab von dem Anblick des Todes, des unzähligen. Des unzähligen Todes eines einzigen Krieges. Zu Hause würde sie sich ein Bad einlassen, einen heißen Tee trinken, einen spannenden Film schauen. Und jetzt auf einer Bank in der Sonne ausruhen. Sie würde sowieso einen anderen Zug nehmen müssen.
Weit und breit keine Bank in der Sonne. Vor ihr in der Ferne schimmerten durch die Büsche bonbonfarbene Tupfer wie Luftballons auf einem Kindergeburtstag. Ihr Leib strebte darauf zu. Strebte an einem Rasenstück vorbei und an den Gänsen, die mit hastigen Schnäbeln im Gras stocherten. Strebte auf eine Hecke zu, die etwas verbarg. Überall Gänsekot auf dem Weg; sie musste auf ihre hellen Schuhe achten. Und plötzlich stand sie in dem von der Hecke Verborgenen. Sie stand vor einer Spirale aus Gräbern, jedes so groß wie ein Kinderbettchen. Still reihten sie sich aneinander, als würde eines dem anderen Halt geben. Eines wie das andere trug seine bunte Last. Englein und Teddybären, Püppchen und Spielzeugautos, Kerzen und Blumen, Steine mit Worten aus Liebe und Worten aus Leid. Windräder surrten darüber hinweg, als würden sie alle Last und alles Leid davonwehen können.
Am Ende der Spirale lag ein Grabfeld noch erdig rein. Es trug nur ein Blatt Papier, das an einem Stab steckte wie ein Segel auf einem leeren Boot. Das Boot schien im Hafen zu warten. Schon nannten dünne Zahlen auf dem Papier das Datum. An jenem Tag würde das Boot seine bunte Last zu Grabe tragen. Sie strich sich mit der Hand über den Kopf. Sternenkinder.

… alles wird gut … gut … gut … Und wenn nicht.

Warm und rot stand die Bank in der Sonne.

*

© 2023 Dorothea Lesche
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Der letzte Satz

Von Dorothea Lesche

Meine Mutter fürchtete die Schlangen.

So stand er auf dem Papier, der erste Satz. Für ihre Mutter wollte sie diesen Aufsatz schreiben. Thema „Ein Gefühl“, Abgabezeitpunkt 10:00 Uhr. Rechts oben an der Wandtafel lauerte die Zehn: eine Eins und eine Null, ein Doppelpunkt und zwei Nullen, eingekreist in Rot und Gelb und Grün. Der Lehrer liebte es, farbige Kreide zu benutzen und er liebte es, die Kreide schräg zu führen für eine besonders breite Linie. Bevor er diese Kreise schwang, hatte er die Kreidestücke auf einem Punkt hin- und hergedreht, als wollte er ein Feuer entfachen und als wollte und wollte es nicht brennen. Und dann, ganz plötzlich, waren Rot und Gelb und Grün nach oben geschwungen und Flammen loderten über den Tafelrand. Loderten hoch und höher, schlängelten sich weg von der Tafel, schlängelten sich in den Klassenraum, wehten auf und nieder, wehten hierhin und dorthin, als wäre die Zehn ein Sturm, der sie vorantrieb. Wehten zu ihr an den Platz. Schlangen sich um den Tisch und aufs Papier, dass die Hand daraufklatschen musste, um den ersten Satz zu retten. Flammen, rot und gelb und grün, schlangen sich an den Beinen hoch, dass Funken in den Körper sprühten. Schlangen sich um den Hals, dass ihr die Luft wegblieb. Loderten in ihr Gehirn, schlängelten sich um den roten Faden, an dem die Sätze hingen. Wollten Wort um Wort verbrennen. Feuerschlangen. Schlangenfeuer. Ihr Kopf verwandelte sich in ein einziges Glühen, schnellte hoch aus dem Feuer, schüttelte es ab. Ihre Finger wühlten im Haar durch die Schlangen, krallten den Rest des roten Fadens heraus, vergruben ihn unter dem ersten Satz.

Meine Mutter fürchtete die Schlangen.

So stand er noch auf dem Papier, der erste Satz. Die Wörter glühten noch und ihr Körper glühte noch. Sie riss das Tuch von den Schultern. In dem Ahornbraun der Wolle wühlten ihre Finger, als würden sie den roten Faden suchen. Drückten die Wolle zu einem Knäuel zusammen, als könnten sie die Farbe herauspressen und das Leben. Ahornbraun war die Lieblingsfarbe ihrer Mutter gewesen. Und Purpurrot.

Meine Mutter fürchtete die Schlangen.

Warum, Ariadne, warum. Ihre Mutter wollte nie Mama, Mami, Mom sein. Sie wollte auch mit drei Kindern sie selbst sein, Ariadne. Warum, Ariadne, warum.

Es wird eine Zeit geben, da werde ich dir erzählen, warum. Da werde ich dir erzählen von den Schlangen. Ich werde dir erzählen von meinem Unglück, von dem deiner Großmutter und deiner Urgroßmutter. Ich fürchte, es wird auch dein Unglück sein. Ich fürchte die Schlangen. Ich … ich …

Ich fürchte die Schlangen.

So stand er in der Luft, der letzte Satz. Es hatte die Zeit nie mehr gegeben. Dass es so schnell geht, hätte man nicht gedacht, sagten die Leute. Es ist gut, dass es so schnell gegangen ist, sagten die Leute. Was wie schnell geht und was wie schnell gegangen ist, sagten sie nicht. Die Worte der Leute standen leer in heißer Luft, eingerahmt in Schwarz und Weiß. Die Leute liebten es, leere Worte zu benutzen und sie liebten es, die Worte in Schwarz und Weiß zu rahmen. Bevor sie den Rahmen setzten, hatten sie Wort für Wort festgeklopft, als sollte sich keines vorwärtsbewegen. Und dennoch schlängelten sich Worte davon, flammten auf in der heißen Luft, schlängelten sich durch Leben und Sterben und Tod. Spuckten Feuer, bis Leben und Sterben und Tod in Flammen standen. Sie wollte den Leuten eigene Worte, dicht gefüllt, entgegenwerfen. Wollte die Worte der Leute auslöschen. Aber Flammen, schwarz und weiß, schlängelten sich in ihren Mund, wollten Wort um Wort verbrennen. Feuerschlangen. Schlangenfeuer. Ihr Mund verwandelte sich in ein einziges Glühen, schrie das Feuer weg. Ihre Finger wühlten im Haar durch die Schlangen, krallten den Rest des Purpurrot heraus, vergruben ihn unter dem letzten Satz.

Meine Mutter fürchtete die Schlangen.

So stand er noch immer auf dem Papier, der erste Satz. Die Wörter glühten noch immer. Und noch immer sprühten Funken. Sprühten in Stift und Hand, in Brust und Kopf. Brannten sich in ihr Gehirn, wo das Unglück ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer Urgroßmutter um Worte rang.

Sie wollte sich all das Unglück aus dem Gehirn schreiben, wollte es mit ihren Sätzen auf das Papier bannen. Wollte das Unglück unter dem ersten Satz und unter dem letzten Satz vergraben, bevor es ihr eigenes Unglück werden konnte. Sie wollte es besiegen mit einer 1,5 im Abitur. Für ihre Mutter wollte sie diese Note schaffen. Für Ariadne und ihren letzten Satz.

Wo war jetzt der Faden, der rote, purpurrote. Damals hatte sie ihn verloren. Damals, als sie nur noch für diese 1,5 gedacht, gefühlt, gelebt hatte. Damals, als ihre Mutter „Feuer! Feuer!“ schrie und sich im Bett krümmte, als wäre sie von Schlangen besessen. Feuerschlangen. Schlangenfeuer. Ein Kopf, der Kopf ihrer Mutter, verwandelte sich in ein einziges Glühen, zuckte hoch, fiel zurück. Finger, die Finger ihrer Mutter, kratzten auf dem kahlen Kopf, krallten das letzte Blut heraus, vergruben es in der Wolle. Purpurrot färbte sich der Faden.

Ein Tuch aus ahornbrauner Wolle mit einem purpurroten Faden dazwischen. Purpurrot zwischen Laborwerten und CT, zwischen Husten und Erbrechen, in Windeln, am Tropf. Ihre Mutter, die nie Mama, Mami, Mom sein wollte, die sie selbst, Ariadne, sein wollte – Ariadne wollte das Unglück nicht mehr besiegen. Aus Unglück und Blut und Feuer häkelte Ariadne ein Tuch. Ahornbraune Wolle mit einem purpurroten Faden dazwischen. Masche um Masche hin zur 1,5.

Meine Mutter fürchtete die Schlangen.

Sie würde die 1,5 um eine Rose, eine purpurrote, hüllen und würde sie hinabfallen lassen auf das Ahornholz. Auf Ariadne, auf Großmutter, auf Urgroßmutter.

Ich fürchte die Schlangen … der Faden, rot, purpurrot … Meine Mutter fürchtete die Schlangen.

Sie schrieb Satz für Satz.

*

© 2023 Dorothea Lesche
Alle Rechte vorbehalten

Das blaue Bild

Von Barbara Gase

Ines lief ins Badezimmer und ließ sich eiskaltes Wasser über die Pulsadern laufen. Ihr dünnes Long-Shirt klebte am Körper. Sie atmete durch den Mund, wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und wusch die Farbe ab, die sich auf ihren Händen und Armen verteilt hatte. Ein blauer Strudel strömte in den Abfluss. Sie erahnte den schwarzen Schlund, der unter der Öffnung lauerte. Aus dem Dachfenster ihrer Atelierwohnung schaute sie in den großstädtischen Hochsommerhimmel. Harmlose Wölkchen verzierten die blassblaue Endlosigkeit.
Sie eilte barfuß auf dem kühlen Steinboden zurück ins schwüle Atelier. Eine großformatige, auf Keilrahmen aufgezogene, Leinwand lag auf dem Boden und glänzte nass. Farbpigmente, Aquamarin, Preußischblau, Bergblau, Azur, Cerulean, Indigo, überall auf dem Boden verteilt, angerührt in Töpfen und Schalen, versetzt mit feinkörnigem Sand und kaltem bröckeligem Kaffeesatz. Ines nahm den Rundpinsel in die Hand und verteilte die Farbe, dickflüssig und üppig. Die Blautöne in Schichten von grell bis dunkel, voll und ausgelaugt, als hätten sich alle Behälter synchron entleert. Mit einer Rakel verstrich sie die pastöse Masse. Sie ritzte Zeichen mit dem Griff des Pinsels in die noch feuchte Farbe, verwischte alles wieder. Verletzte die Leinwand mit einem Messer, malte neue Farbschichten, einen Dschungel aus Linien, Flächen, Punkten, Sprengseln, Höhlen. Die Leinwand ächzte unter der Last. Der Geruch nach Terpentin und Firnis lag wie eine Nebelwolke im Raum.
Sie hatte ihren eigenen Stil entwickelt. Nächste Woche sollte eine Werkschau in der angesagten Galerie ›Paul Silber‹ eröffnet werden.
Ines holte die Flasche mit der schwarzen Tusche aus dem Regal. Sie glitt in ihrer verschwitzten Hand hin und her. Plötzlich verschüttete sie Flüssigkeit. Wie Quecksilber rollte sie glitzernd über das Bild, bevor sie hineinrutschte in das Gewebe, versackte und einen zerfaserten tiefschwarzen Fleck hinterließ.
Sie hielt inne. Der Klecks wurde zu einer Hand. Sie schälte sich aus der Leinwand heraus, finster und fordernd, und griff nach ihren Waden. Erst packte sie fest zu, lockerte anschließend den Griff und streichelte über ihre Gänsehaut.
Ines schrie auf.
„Geh weg, ich will dich nicht mehr sehen und spüren! Immer wieder kommst du, in jedes Bild!“
Sie lief keuchend und röchelnd im Atelier auf und ab und stolperte zurück zum Bild. Sofort kam die Hand hervorgeschossen und angelte nach ihr. Sie goss die blaue Farbe, die noch im Eimer schwamm, über die Leinwand. Die Hand befreite sich und wollte sie wieder greifen. Ines stieß den Atem aus. Schnaufte. Kälte breitete sich in ihren Beinen aus. Die Füße kribbelten.
Der Deckenventilator gab ein gleichmäßiges Geräusch von sich. Ein Quietschen, wie ein nicht geöltes Scharnier. Ines lief ins Bad und drehte den Wasserhahn auf. Erst schoss es heiß heraus. Sie brüllte. Dann kalt. Der Spiegel über dem Waschbecken beschlug. Sie wischte ihn klar.
Zuerst nahm sie das Klingeln nicht wahr. Aber es hörte nicht auf. Sie benutzte die Gegensprechanlage und drückte den Türöffner. Es war Paul, der Galerist.
Sie lauschte dem Stapfen, das im Treppenhaus immer näher kam.
Paul lächelte, als er schließlich vor ihr stand, und schüttelte seine schwarzen Haare, bis sie in Fransen in die Stirn hingen.
„Was für eine Hitze!“, rief er.
Ines nickte und ließ ihn herein. Er ging ins Atelier und blieb vor dem blauen Bild stehen. Er starrte es an. Er versank im Blau. Er ertrank im Blau und schwieg. Lange. Sie auch.
„Das ist das Beste! Noch viel besser als die, die schon in der Galerie sind“, stieß er hervor, „das bekommt den Platz gleich am Eingang.“
„Es ist noch nicht fertig“, sagte sie und strich sich mit der Hand über das Gesicht.
„Wann kann ich es holen?“
„Nächste Woche.“
Sie stand vor dem Bild, ihm den Rücken zugewandt. Er näherte sich und presste sie an sich. Er tastete mit seinen Händen unter ihrem Shirt und streichelte ihre Brustwarzen. Seine Fingerspitzen umrundeten den Bauchnabel, loteten die Tiefe aus. Seine Lippen berührten ihren Nacken. Paul fasste mit der rechten Hand in ihren Slip. Sie stöhnte auf und drängte sich an seinen Bauch. Ihr langes Haar floss über seine Schulter.
Die Hand auf der Leinwand hatte zugesehen. Nun schnappte und grapschte sie nach ihr. Sie berührte ihren Fuß. Mit einer raschen Bewegung stieß die Hand Paul nach hinten. Er taumelte.
„Was war das? Warst du das?“
Atemlos spuckte er die Sätze aus, seine Lippen vibrierten, und er sackte auf dem Fußboden zusammen. Eine lange Pause entstand.
Schließlich stand er auf und ging um das Bild herum, fixierte es. Betrachtete es wie einen Feind.
„Kann ich es nächste Woche abholen?“
Seine Augen flackerten.
„Ja, klar.“
Sie brachte ihn zur Tür und verschloss sie sofort hinter ihm, ging ins Badezimmer und duschte. Kalte Nadeln massierten ihren Körper. Sie duschte lange, bis die Haut an den Füßen schrumpelte. Sie zog eine dünne Leinenhose an und ein T-Shirt und ging zum Discounter um die Ecke. Ein Tiefkühlgericht, zwei Flaschen Wasser und Weißwein. Zurück in ihrer Wohnung, schob sie die Mahlzeit in den Ofen. Trank gierig die Wasserflasche leer. Sie schaute aus dem Fenster, Schwalben tanzten hoch oben im Azurblau. Im Stehen aß sie vor dem Bild. Schlang das fade Essen herunter.
Die Hand war noch da.
Sie nahm einen Stock und tauchte ihn in ein Glas mit Zinnoberrot. Sie schrieb, sie stach krakelige Buchstaben in die Farbschichten, direkt auf die Hand: ›Ich töte dich‹. Der rote Farbstoff schmiegte sich blutend an das Blau.

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© 2023 Barbara Gase (Text & Bild)
Alle Rechte vorbehalten

Mehr Sein als Schein

Von Alexander Zar

Henry sass an seinem Schreibtisch und verharrte wie eine Säule; es war wieder einmal Weihnachtszeit, die ihm gar nicht behagte und so zog er sich in seine Kammer zurück und wollte möglichst allen Begegnungen aus dem Weg gehen. Er lebte in einem recht kargen Appartement, das er sich gerade noch so leisten konnte. Er hatte das Pensionsalter erreicht und schlug sich mit einigen Zusatzarbeiten durch den Alltag, denn sein bisheriges Leben war ein Hürdenlauf, den er nicht eben mit Glanz bestanden hatte. So verfügte er nur über die staatliche Altersrente, und einige Zusatzeinnahmen halfen ihm, so einigermassen über die Runden zu kommen.

Alle Träume waren längst geplatzt. Es gab Zeiten, da konnte er sich hohen Luxus leisten, doch legte er nie etwas auf die Seite, lebte in dem Wahn, dass sich das Füllhorn über ihn immer ausschütten würde. Immerhin schob er die Verantwortung nicht anderen zu, sondern nahm sich selbst bei der Nase. Er zog sich auch nicht in die glorreiche Vergangenheit zurück, sondern versuchte, eine positive Haltung beizubehalten. Immerhin gelang ihm das recht häufig, aber eben in der Weihnachtszeit und beim Jahreswechsel setzte sich eine depressive Stimmung fest, die er durch Schreiben wegzufegen versuchte.

Er war eigentlich immer den Weg des geringsten Widerstandes gegangen, hatte sich selten verausgabt, und auch in der Liebe war ihm das Glück nie eigentlich wirklich hold gewesen. Einige Beziehungen hatten sich angebahnt, aber sie hatten sich nicht als dauerhaft erwiesen. Falsche Vorstellungen bremsten ihn jeweils aus. Er hatte einen Stolz entwickelt, der sich als grosses Hindernis zeigte. Er wollte nie zugeben, wenn er materiell schwach aufgestellt war. Irgendwie schämte er sich dafür. Nach aussen bot er stets das Bild eines Mannes, dem es eigentlich, was das Finanzielle anbetraf, recht gut ging. Wenn er in Restaurants verkehrte, fiel sein Trinkgeld immer grosszügig auf. War Ebbe im Portemonnaie, begab er sich einfach nicht nach draussen. Er konnte sich immer noch nicht zubilligen, die Wirklichkeit in die Welt hinauszutragen.

Inzwischen war er froh, dass es nicht zu einer Familiengründung gekommen war. Er trug keine Verantwortung für andere, nur für sich selbst, musste sich um niemandem kümmern und nicht für andere sorgen; viele gelangten an ihn, um ihn um Rat zu fragen. Auf die Frage, wie es ihm ginge, antworte er zur Überraschung mancher jeweils mit «katastrophal, keine Milliarden, keine Täschlis». Täschli war für ihn der Ausdruck für junge, hübsche Damen, die man am Arm nahm. Er meinte das in keiner Weise despektierlich, denn er begegnete dem weiblichen Geschlecht jeweils mit ausgesuchter Höflichkeit, griff gerne auf den «Knigge» zurück und ermahnte die Umgebung, wenn sich Primitivworte einschlichen, den nötigen Respekt an den Tag zu legen.

Er hatte bereits viele Versuche unternommen, sich schreiberisch vorwärtszubewegen, doch blieb es meistens in den Anfängen stecken. Sein Durchhaltewille hielt meistens nur kurze Zeit an, und dann verliess ihn der Elan. Bereits recht früh hatte er die ersten Texte zu Papier gebracht, aber bisher hatte er keinen Verlag finden können, der seinem Werk einen Durchbruch zugetraut hätte. So verstaubte eine ganze Anzahl von Manuskripten in der Schublade und vieles war auch wegen der vielen Umzüge auf der Strecke geblieben und der Vergessenheit anheimgefallen. Das Spektrum seiner Schreibarbeiten griff weit; er nahm sich die Gedichtform vor, übte sich in Theaterstücken und verfasste auch einen Roman, der viel Selbsterlebtes miteinbezog.

Lesen gehörte zu seinen Leidenschaften, er begab sich nie ausser Haus, ohne eine Lektüre bei sich zu haben. Langeweile kannte er keine. Die Leselust bezog sich auf viele Felder, vorab wenn es um Zeitungen ging. Er interessierte sich um die politische und gesellschaftliche Entwicklung, die technischen Neuerungen, eigentlich um alles, was um ihn herum vor sich ging. Oftmals verstand er nicht, dass die Menschheit, wie er bei sich dachte, immer mehr dem Abgrund zusteuerte.

Er hielt es jeweils nicht lange bei sich zuhause aus; sonst fiel ihm die Decke auf den Kopf; Persönliches fand sich dort nichts. Er mühte sich auch, den Begriff «zuhause» oder «nach Hause» nicht zu verwenden; die vielen Umzüge hatten es mit sich gebracht, dass sich keine Privatsammlung bilden konnte. Er erinnerte sich gerne an die Zeit zurück, als er im Hotel gewohnt hate; um nichts musste man sich kümmern; dienstbare Geister sorgten dafür, dass man bei der Rückkehr in ein sauber aufgeräumtes Zimmer kam. Die üblichen Reinigungstaten fielen ihm scher, und nur selten konnte er sich aufraffen, zum Staubsauger zu greifen oder einen Wischlappen in die Hand zu nehmen.

Er vermisste es jedoch nicht, auf alte Schätze zurückgreifen zu können, die von der Vergangenheit berichteten. Er wunderte sich jeweils, wenn er eine andere Wohnung betrat, womit sich die verschiedenen Menschen umgaben. Nippsachen standen herum, die von Reisezielen stammten und wohl einen Teil davon als Erinnerungsbleibe darstellen sollten; Fotografien zierten Möbel oder Wände und sollten glückliche Momente vermitteln, die ewig dauern sollten.

Für ihn zählte nur die Erinnerung, die er im Kopf angesammelt hatte und die er abrufen konnte, wenn ihm danach war, was eigentlich selten vorkam. Auch Zeiten, die nicht eben erfreulich gewesen waren, wurden mit einem längeren Abstand verklärt, wogegen er sich wehrte. So empfand er noch heute die Militärzeit, die er absolviert hatte, als eine Ansammlung von wenig Erhebendem und verstand nicht, wie alte Kameraden sie zu lustigen Episoden hochstilisieren konnten. Es waren und blieben für ihn lange Wochen, über die er froh war, als sie vorübergezogen waren.

Wenn er sich ans Schreiben machte, dann verfolgte er kein vorgegebenes Schema. Er griff sich eine Idee auf und begann einmal zu schreiben. Er war überzeugt, dass sich dann ein Faden entspinnen würde, der ihn zu einem Ziel und einem Ende brachte. So kramte er in seinem Gedächtnis nach Episoden, die Eindruck hinterlassen hatten und die er gerne in Papierform vor sich gesehen hätte. Er wunderte sich oft, was zwei Menschen zusammenhielt. Er nahm sich deshalb vor, über die Macht der Gewohnheit zu schreiben. Vielfach war es auch die Angst, alleine sein zu müssen, die eine Zweckgemeinschaft begründete.

Natürlich hatte er in seiner Jugend auch in Flammen gestanden, und die eine war für ihn die Krönung seines Lebens, auch wenn er sie nicht erreichen konnte. Er hätte viel dafür getan, dass sie sich ihm zugeneigt hätte, doch sie kamen nicht zueinander. Aber er hate nie eine Beziehung beobachten können, die einfach brannte, und das Feuer erlosch nie. Irgendwann frass der Alltag den unstillbaren Hunger auf und übrig blieb irgendetwas, aber nicht die grosse Liebe, die keine Grenzen kannte.

Lieder sangen davon, aber vielleicht müsste man sie auch als «fake news» verbannen und verbieten, weil sie etwas vorgaukelten, das der Realität nicht standhalten konnte. Den grossen Themen wich man sowieso aus. Man versteifte sich auf Sterne und – in, um alle Geschlechtlichkeiten einzubeziehen, damit man geschlechterneutral durch die Welt kam. Er las über einen Gasthof Mohr, der angegriffen wurde, weil er diesen Namen trug. Ironischerweise handelte es sich um einen Betrieb, der seit vier Generationen vorn derselben Familie betrieben wurde, die eben den Nachnamen «Mohr» trug. Was früher niemanden gestört hatte, wurde nunmehr zu einem Stein des Anstosses. Der Umgang mit den Menschen anderer Hautfarbe oder Rassen war sicherlich nicht vorbildlich gewesen; aber eine Wortklauberei würde das Unrecht nicht aus der Welt schaffen, dachte er bei sich. Die Einstellung dem anderen Menschen gegenüber musste sich erst ändern; eine andere Wortwahl brachte noch keinen Sinneswandel mit sich; im Gegenteil erschlich man sich so ein gutes Gewissen, dass man nicht zu denen gehörte, die andere in Schubladen pferchte, in die sie nicht hineinpassten.

Seine Geschichte drehte sich nunmehr darum, nachdem er einen Einstieg gefunden hatte, wie Nichtigkeiten das Leben prägten, und die Momente, in denen man über sich hinauswuchs, sich eigentlich als kleine Splitter erwiesen, die kaum Raum und Zeit einnahmen. Routine beherrschte die Szene; wenn man sich einmal selbst beobachtete, was wohl kaum einer tat, dann vollführte man ein festgefahrenes Morgenritual, das sich weiter fortsetzte; man ging die gleichen Wege und nahm nicht wahr, woran man vorüberging; ein Wandbild, das seit Jahren dort klebte, fiel einem höchstens einmal per Zufall auf, ansonsten war man Ewigkeiten daran achtlos vorübergegangen.

Ähnlich verhielt es sich mit eigentlich allem, was man tagsüber in Angriff nahm. Ganz bei der Sache war man höchst selten. Leicht liess man sich ablenken und interessierte sich für den Gesprächspartner nur insoweit, als dass man seine eigenen Anliegen platzieren wollte. Nur wenige Menschen gingen auf den andern wirklich ein und schenkten ihm die ganze Aufmerksamkeit, die er sich eigentlich verdient hätte. Die Ichbezogenheit nahm irgendwie immer mehr überhand. Die Familienverbände fielen auseinander, und man raufte sich nur noch mühsam zusammen, um an Weihnachten den Schein zu wahren.

Er hatte dieses Gehabe längst abgelegt. Nachdem er die Ziele nicht erreicht hatte, die er früher einmal anstrebte und Jahr um Jahr irgendwie sinnlos verstrichen war, gab er innerlich auf und konzentrierte sich darauf, einigermassen zu überleben, ohne in allzu grosse Tiefen zu fallen. Meistens gelang ihm das nicht schlecht, wobei sich immer wieder Momente einschlichen, die ihn lähmten und er kaum zu einer Aktivität fand. Allerdings liess er davon nichts nach aussen dringen, ausser wenn man sich nach seinem Befinden erkundigte und die Antwort blieb «katastrophal» dem Fragenden entgegengeschleudert wurde.

Verwunderung machte sich dann breit. Man nahm es jedoch als Humoreske und quittierte den Kommentar mit einem Lächeln, denn wirklich wissen, wie es dem andern ginge, wollte niemand. Man machte in «small talk,», denn wer schwieg wurde als übelgelaunt, unhöflich oder arrogant taxiert. Im Grunde genommen, dachte er bei sich, war es eigentlich zutreffend, was er von sich gab. Natürlich gab es auch Momente, die ihn ganz zufriedenstellten, doch meistens plagten ihn Finanzsorgen und nicht selten schlich sie die Frage ein, wie er die nächsten Tage überleben konnte, ohne jeden Cent mehrfach umdrehen zu müssen.

Er wunderte sich oft, dass meistens dann, wenn die Klemme riesig erschien, irgendjemand auftauchte und ihm eine Arbeit aufbürdete, die ihm dann doch wieder etwas finanziellen Spielraum verlieh. Dann gab er im Stillen ein Dankstossgebet von sich, auch wenn er mit der Religion nicht sonderlich verbunden war. Er werweisste oft, ob doch etwas Wahrheit in den Religionen steckte; immerhin hatte das Christentum zweitausend Jahre überstanden und konnte sich noch immer behaupten, wobei es mehr mit sich selbst beschäftigt war und durch die vielen Skandale stark an Anziehungskraft verlor.

Obschon sein Rückzug so etwas wie Selbstkasteiung bedeutete, musste er nicht ständig auf die Uhr schauen. Wenn ihm nichts einfiel, wie er seine Weihnachtsstory weiterbringen könnte, dann griff er zu einem Buch, meistens leichte Lektüre, die ihn aber so weit abdriften liess, dass er für diese Zeit vergass, wo er war und dass er sich in einer neuerlichen Periode der Zeitenwende befand. Dieser Begriff war in Mode gekommen, nachdem in der Ukraine Krieg ausgebrochen war. Er hätte auch zur grossen Mehrheit gehört, die es nicht für möglich gehalten hätte, dass der russische Machthaber die alten Politmechanismen wieder in Schwingungen versetzen würde.

Krieg fand zwar überall statt. Viele vergessene Waffengänge spielten sich ab, die in den Medien kaum oder höchst selten vorkamen und deshalb für die breite Bevölkerung inexistent waren.

Die Auseinandersetzung in der Ukraine beherrschte jedoch so sehr die Medienwelt, dass Syrien, wo ein langjähriger Bürgerkrieg noch immer kein Ende gefunden hatte, völlig in den Hintergrund rückte. 20 Jahre hatte die westliche Welt versucht, in Afghanistan eine Ordnung zu implantieren, die nach dem dort gültigen Wertesystem funktionieren sollte. In einem Sturm war das alles weggefegt worden, und die Milliarden, die dort eingesetzt worden waren, verpufften praktisch in einem Tag.

Die Frauen wurden wieder ins Mittelalter gestossen, entrechtet und von jeder Bildung ferngehalten. Religionsfanatiker richteten Schäden an, die Millionen von Menschen betrafen, und die Strassen füllten sich nicht mit Protesten, höchstens manchmal für die Erstreitung eines Klimawandels, der eben eine ganz neue Gesellschaftsordnung erforderte. Die Kluft zwischen arm und reich vergrösserte sich stetig. Ausgerechnet das Land, das sich dem Kommunismus verschrieben hatte und die Partei in China über alles stellte, betrieb einen Turbokapitalismus, wie er kaum anderswo zu finden war.

Die alten Denkmodelle hatten ausgedient, und doch wagten sich noch wenige, das Undenkbare zu denken. Dass der Kapitalismus Wohlstand für viele gebracht hatte, war für ihn unbestritten, aber offenbar war er an seine Grenzen gestossen. Ein Weiterwursteln wie bisher führte seiner Auffassung nach einfach in die Katastrophe. Wachstum um jeden Preis schien ihm nicht mehr das Rezept für die Zukunft zu sein, sondern eher der Weg in einer Spirale nach unten, die solche Schäden hinterlassen könnte, dass der Grossteil der Menschheit nur noch darben würde.

Die wenigen Reichen müssten dann aber mit Aufständen rechnen, die ihnen an den Kragen gingen; schliesslich ging man dort etwas holen, wo es auch lohnenswert war; kaum ein Dieb überfiel einen Bettler, um ihm noch die letzten Cents zu rauben. Die Verteilung der Güter und des Reichtums müssten neu angedacht werden; er sah wohl ein, dass man um das Grundeinkommen nicht mehr herumkommen würde, jedenfalls nicht in einer ferneren Zukunft, und die Staaten mussten das Hauptaugenmerk darauf richten, möglichst viele Bildung der Jugend mitzugeben. Wer nicht bestens ausgebildet war, dürfte in wenigen Jahren kaum mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.

Vielleicht müsste man auch das Erbgefüge unter die Lupe nehmen. Wer ein grosses Vermögen überantwortet bekam, musste sich keine Alltagssorgen machen wie er, der in einem ständigen Kampf ums Überleben war. Saläre wurden gezahlt für eigentlich keine Leistung, vorab im Sport. Dass einer mit dem Fuss und einem Ball gut umgehen konnte, war in seinen Augen keine dreistelligen Millionen wert. Davon müsste die Hälfte abgesaugt werden, um anderen jugendlichen zu ermöglichen, sich zu verwirklichen, nicht nur im Sport, sondern auch in der Musik, der Kunst oder in der Umsetzung einer Idee, die einen materiellen oder auch ideellen Mehrwert mit sich brachte. Dasselbe müsste im Erbrecht geregelt werden. Die Riesenanhäufungen von Geld mit Summen in zweistelliger Milliardenhöhe sollte grösstenteils in Projekte fliessen, die zukunftsgestaltend wären.

Er zählte sich nicht zu den Sozialisten, denn ihre Rezepte, mehr Lohn, weniger Arbeitszeit, mehr Ferien, schienen ihm genauso antiquiert wie der Argumentenkatalog der Gegenseite. Obschon er zu den Randfiguren gehörte, sah er sich, was die Denkweise anging, mitten in der Gesellschaft. Nicht jeder arme Hund beschäftigt sich nur mit sich selbst. Er mühte sich schliesslich auch, eine solches Bild abzugeben. Daran würde sich wohl auch im anstehenden Jahr nichts ändern.

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© 2023 Alexander Zar
Alle Rechte vorbehalten

Anmerkung bezüglich der Rechtschreibung: Der Text stammt von einem Autor aus der Schweiz. In der Rechtschreibung des Schweizerdeutschen gibt es im Unterschied zur in Deutschland und Österreich gültigen Duden-Rechtschreibung kein sogenanntes scharfes ß, sondern durchgängig ein Doppel-s, z.B. nicht groß, sondern gross, nicht weiß, sondern weiss. (Redaktion textmanege.com)

Wissen, das die Welt nicht braucht

Von Michael Kothe

»Liebe Zuschauer, wir melden uns zurück aus der Werbepause. Hier ist die beliebte Quiz-Sendung ‚Wissen, das sie Welt nicht braucht‘. Ich bin Jünter Gauch, und mir gegenüber sitzt Jan Sprockhövel, der sich bis zur 10.000-Euro-Frage vorgearbeitet hat. – Herr Sprockhövel, sind Sie bereit für die 10.000-Euro-Frage?«
»Klar! Bereit wie immer.« Siegessicher grinst der Kandidat den Quizmaster an.
»Na dann, nun die zweiteilige Frage: Wie lautet der Produktname der kleinen blauen Tabletten, die durch ihre vasodilantierende Wirkung den Spaß am Sex steigern sollen, und wer ist ihr Hersteller?«
»Wasowas?«
»Vasodilantierend, also durchblutuungssteigernd.«
»Ach so! Billy Boy.«
»Billy Boy?« Jauch lacht. »Das meine ich gewiss nicht. Es geht um Tabletten. Hellblau, rautenförmig.»
»Ach ja! Viagra. Viagra wollte ich sagen.«
»Das ist richtig! Und nun nenne Sie mir noch den Hersteller, Herr Sprockhövel!»
»BASF? Bayer?« Der Kandidat kratzt sich am Kinn.
Unruhig rutscht Jauch auf seinem Hocker hin und her. »Sind Sie sich sicher? Ich meine, eine kleine Hilfestellung darf ich …«
»Nein, nein, nein! Ich habe mich entschieden. Es ist Bayer. Bayer Leverkusen.«
»Das ist ein Fußballverein!«
»Und ein Pharmakonzern!« Sprockhövel wird heftig. »Bayer! Bayer ist der Hersteller von Viagra. Punktum!«
»Sie bleiben dabei?«
»Unumstößlich! Loggen Sie’s ein!«
»Sie haben’s nicht anders gewollt.« Jauchs Schultern sinken herab, mit einem Seufzer schließ er die Augen und hält den Kopf schief. Nach ein paar Atemzügen sieht er seinen Kandidaten wieder an. »Herr Sprockhövel, das ist … leider falsch. Der Hersteller ist …« Er hebt seine Stimme, ein Tusch ertönt. »Pfizer!«
Sprockhövels Kinnlade klappte herunter. »Das, das ist doch …«
»Herr Sprockhövel, 5.000 Euro haben sie bisher gewonnen und die 10.000-Euro-Frage falsch beantwortet. Also schulden Sie dem Sender 5.000 Euro. Fragen Sie beim Rausgehen am besten die Sendeleitung nach einer Ratenzahlung!«

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© 2023 Michael Kothe
Alle Rechte vorbehalten

Die fiktive Quizshow hat Michael Kothe in seiner aktuellen Anthologie „Muntere Short Stories“ festgehalten. ISBN: 9783756555727. Gibt’s als Printausgabe und als eBook.