Der Löwe

Von Michael Wiedorn.

Eine geballte Faust knallt mir gegen Kinn und Backenknochen. Ein Fuß tritt haßgestählt gegen meine weichen Eingeweide. Mein Inneres liegt jetzt ungeschützt vor den musternden Blicken der feindlichen Außenwelt. In der glühenden Mittagssonne hängt einer Antilope der Darm aus der aufgerissenen Bauchdecke heraus. Gierige Fliegen umschwirren das Fleisch. Ich brauche keine zarte Haut, sondern Eisen als Außengrenze zur Welt.

Ich gehe durch die Straßen und mir schlägt die Feindschaft meiner Mitmenschen ins Gesicht. Ich habe hier nichts zu suchen. Die Karosserie eines auf mich zu rasenden Autos rammt mich. Die bereiten Zähne eines hungrigen Löwen. Das erwartungsvolle Rot des Rachens. Ich habe nur einen Augenblick geträumt und habe mein Leben verwirkt. In der Sonne erhitztes Metall dringt in feuchtes Fleisch ein. Der Körper ist weich.

Mitschüler verprügelten mich immer wieder. Ich erinnere mich nur bruchstückhaft. Ein Tritt gegen die Bauchdecke ließ mich jaulen und jodeln und heulen. Der Schmerz ließ mich groteske Tänze aufführen. Ein Stein schlug mir in die Fresse, daß noch heute mir die Nase vor Schreck schief im Gesicht hängt und mein Nasenbein gebrochen ist. Was lauert in mir, das andere Menschen abstößt. Mein Herz, meine Gedanken, Gedärme und Scheiße.

Unmittelbar vor mir erhebt sich jemand. Er läßt sich nicht zur Seite schieben. Der Löwe – der König der Steppen und Wüsten erhebt stolz das Haupt. Das hingestürzte Opfertier liegt ihm wehrlos zu Füßen. Die Kraft des Löwen, die mich vernichtet, kann ich fühlen. Mein Dasein schwindet dahin. Bevor ich meine Absichten, meine Gedanken und Gefühle ausdrücken kann, versickern sie. Ich bin feige.

Eine Herde von Antilopen rennt in panischem Schrecken. Die Hufe schlagen auf die Erde, die dröhnt und brüllt. Die Herde rast in grauenhafter Angst weiter. Die sandfarbenen Leiber der Löwen stürzen sich auf ihre Opfer und schlagen die Zähne ins Fleisch der Opfertiere. Ich lag mit blutströmender Nase – ich bewunderte die Blutorkane in meinen Adern – auf einer Steinbank. Ein Taschentuch versuchte die herausdrängenden Ergüsse meines Inneren zurückzuhalten.

Blut tränkt das Steppengras. Es flutet und verwandelt die Landschaft in ein schmerzensrotes Meer. Die Erde saugt gierig.

Mit bleichen Gesichtern standen meine Schulkameraden um mich herum. Fürchteten sie zu Mördern geworden zu sein?

Nach der Pubertät frug mich jemand, ob ich meine Gesichtsnarben in einer Schlägerei erworben habe. Viele Narben. Große Narben. Die Frage erregte mich. Damals waren sie rot und deutlich erkennbar. Der Hautarzt hatte mir die eitergefüllten, von irregeleiteter Lebenskraft genährten Pickel mit Eis herausgefroren und -geschnitten. Der Schmerz und seine Male vertrieben mich aus der Kindheit.

Die bedrohten Tiere aus Steppe, Wüste und Wald knien ängstlich und bewundernd vor dem Herrn der Schöpfung. Der Löwe verschlingt zitterndes Fleisch. Der Löwe ist unser aller Gott.

© 2020 Michael Wiedorn
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Ereignis nahe der Möckernbrücke

Von Michael Wiedorn.

Auf der anderen Seite der Möckernbrücke ist etwas geschehen. Ein Auto steht mitten auf der Fahrbahn quer. Niemand sitzt im Wagen. Ein kleiner Lieferwagen rast über die Brücke aus der Richtung des Zwischenfalles auf mich zu, kurz bevor er mich erreicht hat, biegt er rechts ab und fährt ein kurzes Stück weiter. Plötzlich hält das Auto. Wird der Fahrer nachdenklich oder fällt ihm etwas Vergessenes ein? Dann fährt der Wagen in die eingeschlagene Richtung weiter. Ich wundere mich. Mein Weg hätte mich eigentlich in die Grünanlagen gegenüber des Technikmuseums führen sollen. Ich entschließe mich die Möckernbrücke zu überqueren. Beim Näherkommen sehe ich außer dem querstehenden Auto noch einen reglosen Körper auf dem Straßenpflaster liegen. Die Härte des Straßenbelages kontrastiert zur Weichheit und Verwundbarkeit des Körpers. Eine heftige Erschütterung zertrümmert ein kompliziertes Ineinander von Blutgefäßen, Knochen, zarten Häutchen, hinter denen sich lebenssichernde Flüssigkeiten stauen und fließen. Eine alte Frau mit gelber Bluse.

Ich ging nachts auf einer verregneten, von Herbstlaub rutschigen Straße lange vor der Morgendämmerung im Dunkeln. Mein Fuß stieß unerwartet gegen etwas Hartes. Gleichzeitig schlug ein steinharter Stoß gegen meine Schläfe und ich lag auf allen Vieren auf dem Straßenpflaster. Mein Gesicht blutete und ich war hilflos. Wäre jemand vorbeigekommen, hätte man mich als besoffenen Idioten eingeschätzt. Blut befeuchtete meine Augenbrauen. Plötzlich!

Leute stehen am Straßenrand. Zwei Frauen unterhalten sich angeregt und aufgeregt. Zwischen heftigem Kopfnicken blicken sie unternehmungslustig auf den leblosen Kadaver auf dem Boden, der von den ankommenden Autos umfahren wird. Jugendliche lachen gelegentlich und ganz abgehackt, als verleugneten sie mit Häme ihr Schuldgefühl. An diesem langweiligen, ereignislosen Nachmittag schlägt das Schicksal zu. Leben und Tod. Beim Anblick des schlaffen Fleisches, das von seiner Umwelt ausgesperrt ist und nicht das Geringste tun kann, spüren wir unser Blut kraftvoll in den Adern kreisen. Für das Opfer ist heute der Tag, der alles zerstört hat. Wir können unsere Glieder bewegen, wie wir wollen. Wir können gehen und laufen, wohin wir wollen. Wir sind Täter und keine Opfer. Zwei nicht wie Sanitäter angezogene Männer betätigen sich an der verunglückten Frau. Sie ist unförmig. Sie ist stumm. Sie ist ein unbeseelter Gegenstand. Diese alte Frau ist weder Mann noch Frau. Darf man ein Unfallopfer einfach so berühren und bewegen? Vielleicht hat das Opfer Verletzungen an der Wirbelsäule? Sollte ich mich aufraffen und die mit dem Körper beschäftigten Leute fragen, wer sie sind und ob schon der Notarzt gerufen worden ist? Trägheit und Schüchternheit lähmen meine Handlungsfreiheit. Ich stehe gaffend da. Hier wird ein Verbrechen gedeckt. Unter unseren Augen wird ein Mensch umgebracht und wir wollen nichts wahrnehmen. Man wird mich zu Recht verurteilen. Der Lieferwagen, der vorhin über die Möckernbrücke gefahren ist, plötzlich anhielt und dann weiterfuhr. Fahrerflucht! Der Lieferwagen tötete die Alte und ließ sie verbluten. Ein alter Mann sieht mit großen, leuchtenden Augen auf den blutigen Kleider- und Fleischhaufen und genießt den milden Frühlingsnachmittag. Aufregend wie ein Fernsehkrimi! Wir stehen aufrecht auf unseren Beinen.

© 2020 Michael Wiedorn
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Im Bann der Spinne

Von Michael Wiedorn.

Ich betrete das Badezimmer in dem Internat, in dem man mich als Schüler untergebracht hat. Es ist später Nachmittag. Alle Wasserhähne sind besetzt. Der Raum dampft vom Schweiß nackter Männer. Ich kenne keinen. Eine alles aufweichende, feuchte Wärme. Ein Fettsack mit kräftigem, kohlrabenschwarzem Haar und eben so schwarzem Schnauzer, der seinen Mund wie ein gefräßiger Dschungel überwuchert, drückt gierig Waschcreme aus einer Flasche in seine aufgeregt zitternde Hand und schmiert sich dann über seinen schwabbelnden, käseweißen und behaarten Körper. Mich ekelt es und ich fühle mich beengt. Ein Alb legt sich mir auf die Brust.

Die schwüle Feuchtigkeit würgt mir den Atem ab. Ich werde später wieder kommen. Am Abend stehen wir Schüler an einer Mauer und starren auf eine Spinne, die ein Spinnennetz vom oberen Rand einer Steinstufe bis zur Decke hinauf gewebt hat. Hinter dem Netz kauert eingesperrt ein Junge, der mit strahlend bewundernden Augen das sich verdichtende Netz anstarrt. Ein Häftling begeistert sich für die Härte seiner ihn bei lebendigem Leib begrabenden Gitterstäbe. Würde der Gefangene aus seiner Verzauberung erwachen, hätte er nicht die geringste Chance zu entweichen. Der Ausweg ist versperrt.

Ein älterer Schüler kommt auf uns zu. Er blickt erbleichend auf die Spinne und das eingesperrte Opfer und beginnt uns alle anzubrüllen, ob wir völlig irre seien. Er nennt uns einen exotischen Namen, der die Spinne bezeichnet. Uns wird mit voller Deutlichkeit klar, daß wir alle und vor allem der eingesponnene Junge in höchster Todesgefahr schweben. Auch uns hat die Spinne verzaubert und wir glauben jetzt zu erwachen. Unser neu dazugekommene Erlöser ruft am Handy die Feuerwehr an. Der Junge hinter dem Netz ist geschrumpft. Er ist totenstill und reglos. Jetzt verschwindet sein Gesicht. Wir können ihn nicht mehr sehen. Wo ist die Spinne?

Auf dem Spinnennetz zeichnen sich die schwachen Umrisse eines Fisches ab, dessen Augen und das sich auf- und zuschnappende Maul sich immer öfter und öfter mir zuwenden. Die Fläche der Umrisse des Fisches blinken immer stärker in immer kräftigerem Gold und Azurblau auf. Ich stehe unmittelbar vor dem Fisch. Ich habe grauenhafte Angst und beobachte, wie mein Körper zu dem älteren Schüler mit dem Handy in der Hand hinübergeht. Unser Erretter macht uns klar, wie dumm und verantwortungslos wir unseren Kollegen seinem Schicksal überlassen haben. Wir haben Schuld auf uns geladen. Die Farben auf der Haut des Fisches verwandeln sich durch übermäßige Blutzufuhr in ein wildes Strömen. Der Fisch blickt gelassen auf mich. Trotz des vorherigen Weggehens meines Körpers stehe ich direkt am Spinnennetz mit dem Tier. Aus seinem autschnappenden Maul kommen leise und immer deutlicher vernehmbare Brülllaute – wie von Raubtieren auf der freien Wildbahn – auf.

© 2020 Michael Wiedorn
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Knülle

Von Johannes Morschl.

Ein Sonntagabend Anfang Dezember in Berlin. Nach dem Rauchen seines obligaten Abendjoints wandert der allein lebende alte Dichter Hans Walter Knülle in seinem Wohnzimmer auf und ab und führt Selbstgespräche. „War der Urknall, aus dem das Weltall entstanden ist, wirklich der Anfang? Muss nicht schon vor ihm etwas dagewesen sein, das ihn verursacht hat? Das ist wie bei einem Furz, der kommt auch nicht aus dem Nichts. War der Urknall etwa gar ein gewaltiger Urfurz? Doch wer soll ihn gelassen haben? Bei mir könnte man zwar sagen, sein Name ist Hans Walter, wenn er furzt, so knallt er, aber wenn ein Furz von mir auch noch so laut knallt, kommt er nie und nimmer gegen den Urknall an.“ Knülle kratzt sich am Kopf. „Was fällt mir da wieder für ein Schwachsinn ein! Ist meiner Größe als vermutlich größter lebender deutscher Dichter nicht würdig.“ Dann reimt er aus dem Stegreif: „In einsam rauchiger Abendstunde bricht es bitter aus des Dichters Munde: Oh Welt, ich geh an dir verzweifelnd zugrunde.“ Er stockt und sagt dann: „Hat es überhaupt noch einen Sinn, zu dichten? Ist nicht sowieso alles sinnlos angesichts des todsicher kommenden Todes? Der Tod hat aber auch sein Gutes, zumindest für mich. Dann habe ich meine ewige Ruhe von der Qual des mühseligen Dichtens, das so gut wie gar nichts einbringt. Es heißt, die Deutschen seien ein Volk der Dichter und Denker, aber dieses Volk interessiert sich nicht die Bohne für Gedichte. Es ist geradezu selbstmörderisch, hauptberuflich deutscher Dichter zu sein, noch dazu, wenn man so mittellos ist wie ich und auf Almosen vom Staat angewiesen ist. Da befindet man sich immer am Rande der Obdachlosigkeit, des Flaschensammelns und Bettelns. Ich sage mir aber, wer im Wohlstand lebt, lebt zu angenehm, um so bissig über die Welt dichten zu können wie ein armer Hund. Da fehlt das Magenknurren, das Infragestellen der Welt aus dem knurrenden Magen heraus.“

Knülle kratzt sich wieder am Kopf. „Wenn dereinst ich sterbe, dann veranstalte man bloß keine Trauerfeier. Ich hasse Trauerfeiern und erst recht diese heuchlerischen Trauerreden, in denen die verstorbene Person schöngeredet wird, von der man, als sie noch lebte, vielleicht gedacht hat, was für ein Ekelpaket sie sei. Man sehe es bei mir so: Er ist endlich dieser Welt entkommen, an der er immer gelitten hat und die ihn immer verkannt hat, ja die ihn mit voller Absicht verkannt hat, weil er sie grundsätzlich infrage stellte und nicht bloß über irgendwelche Missstände und Ungerechtigkeiten lamentierte. Aber wer soll schon wegen mir eine Trauerfeier machen? Ich habe mich von allen Freunden und Bekannten zurückgezogen, da mir ihr Geschwätz zunehmend auf die Nerven ging und mich ihre guten Ratschläge in Rage brachten. Ich konnte die Welt von Anfang an nicht ertragen. Bin auch nur deshalb Dichter geworden, weil ich die Welt von Anfang an nicht ertragen konnte. Da blieb mir fast gar nichts anderes übrig, als Dichter zu werden, obwohl mir das Talent zum Dichten wahrlich nicht in die Wiege gelegt wurde. Ich wuchs in einer Familie auf, in der man höchstens jene verkürzte Version von Schillers Glocke aufsagen konnte: ‚Loch in Erde, Bronze rin, Glocke fertig, bim bim bim.‘ Schon als pubertierender Gymnasiast erkannte ich, das Zeug zu einem großen Dichter zu haben. Allerdings gibt es bei mir die absonderliche Besonderheit, ein großer Dichter zu sein, dem eigentlich das Talent zum Dichten fehlt, der aber gerade deshalb ein großer Dichter ist, weil er mit jedem seiner Gedichte gegen sein fehlendes Talent zum Dichten ankämpft. Aus diesem Krampf – Quatsch, ich meine natürlich Kampf – entsteht oft Ungeheuerliches, das ich selbst nicht immer verstehe. Früher beging ich den Fehler, meine Gedichte bei Leseabenden offener Lesebühnen vorzutragen. Da glotzte man mich immer an, als verstünde man nur Bahnhof, und wenn ich mit dem Lesen fertig war, herrschte betretenes Schweigen.

Einmal und danach nie wieder sandte ich meine Gedichte an einen renommierten Verlag, der auch Gegenwartslyrik herausgab. Man sandte sie mir postwendend zurück und schrieb: ‚Damit können wir leider nichts anfangen.‘ Vermutlich dachte man, meinen Gedichten nach zu schließen müsse es sich bei mir um einen Irren handeln. Aber sind nicht so einige große Dichter an der Welt irre geworden? Kann man überhaupt ein großer Dichter werden, ohne an der Welt irre geworden zu sein? Man denke zum Beispiel an Friedrich Hölderlin, der ein paar Monate in einer Heilanstalt für Geisteskranke zwangsinterniert war, als ‚unheilbar geisteskrank‘ entlassen wurde und in einem Turm in Tübingen in geistiger Umnachtung endete. Oder man denke an Georg Trakl, der Zuflucht zu Opium, Morphium und Kokain nahm und sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs nach der Schlacht von Grodek, an der er als Sanitätsleutnant in der österreichisch-ungarischen Armee teilnahm, mittels Injizierens einer Überdosis Kokain aus dem Leben beförderte. Er war da erst 27 Jahre alt. ‚Alle Straßen münden in schwarze Verwesung‘, heißt es in seinem letzten Gedicht Grodek. Auswegloser geht es nicht mehr.

Gegen die Fälle Hölderlin und Trakl scheine ich ein harmloser Fall zu sein. Aber der Schein trügt, ich bin durchaus kein harmloser Fall, nur ein unauffälliger Fall, da ich mich so weit als möglich von den Menschen zurückgezogen habe. Ich bin inzwischen fast der Einzige, der noch Kenntnis von meiner Existenz hat, und auch da bin ich mir nicht immer sicher, ob es einen so großen Dichter wie mich in dieser der Dichtung so abholden Zeit überhaupt geben könne.“

Plötzlich erscheint Knülle ein Zwerg mit roter Zipfelmütze, der die Hose herunterlässt und in gebückter Haltung auf den Fußboden kackt. Knülle ist entsetzt, schließt die Augen und sagt sich: „Ist es mit mir schon so weit, dass ich halluziniere? Bin ich jetzt reif für die Psychiatrie?“ Er atmet ein paar Mal tief durch, in der Hoffnung, dadurch wieder in die ganz normale und banale Realität zurückzukommen. Als er die Augen wieder öffnet, ist der kackende Zwerg aber noch immer da. Knülle denkt sich: „Da muss ich jetzt durch.“ Er fragt den Zwerg: „Wer bist du?“ Der Zwerg: „Ich bin Godot.“ Knülle: „Ich wusste gar nicht, dass Godot, auf den die beiden Obdachlosen Estragon und Wladimir in Becketts Stück Warten auf Godot von Anfang bis Ende des Stücks sinnlos warten, ein kleiner Scheißer mit Zipfelmütze ist. Das wird bei Beckett nirgendwo erwähnt.“ Der Zwerg: „Was interessiert mich Beckett, dieser irische Alkoholiker und Schopenhauer-Fan mit dem zerfurchten Raubvogelgesicht? Aber wenn ich dir einen Rat geben darf, dann lass das Dichten sein, es kommt bei dir nur Wirrwarr raus.“ Knülle: „Was heißt hier Wirrwarr? Ich habe meine künstlerischen Prinzipien. Meine Devise lautet: ‚Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen‘, wie Adorno in Minima Moralia schrieb.“ Der Zwerg: „Da hast du dir ja den passenden Spruch ausgesucht. Chaos passt zu dir, du warst schon immer ein Chaot. Geh lieber an die frische Luft, geh unter die Leute, anstatt dauernd in deiner Bude zu hocken, sie voll zu qualmen und nur unsinniges Zeug zu dichten.“ Knülle empört: „Nicht nur, dass er mir ins Zimmer scheißt, wird er auch noch frech!“

Aber so plötzlich, wie der Zwerg erschienen ist, ist er auch wieder verschwunden. Auch sein Kackhaufen ist verschwunden. Knülle atmet erleichtert auf und sagt sich: „Kein Wunder, dass ich schon halluziniere. Das kommt nicht nur vom Kiffen, sondern vor allem auch, weil ich zu wenig esse.“ Er gibt sich den Befehl: „Essen Sie, Knülle, essen Sie doch!“ Gehorsamst schmiert er sich ein Butterbrot und belegt es mit Gurkenscheiben. Beim Essen des Brotes beschleichen ihn düstere Gedanken. „Vielleicht bilde ich mir nur ein, ein großer Dichter zu sein, bin aber in Wirklichkeit als Dichter eine Katastrophe.“ Zutiefst deprimiert sagt er sich: „Das Einzige, was man nach meinem Tod mit Sicherheit über mich sagen wird können, ist: Auch er stammte von den Affen ab.“

© 2020 Johannes Morschl
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