«Hilfe, hat sich in meinem Zimmer ein Wirbelsturm ausgetobt? Alle meine Bücher sind zerzaust und liegen zerstreut im Raum. Ach nein! Meine ganze Märchensammlung ist hin. Nanu, irgendwie bringe ich diese schon wieder zusammen. Hier – ich beginne mit dem Märchen vom Wolf und den sieben Geisslein. Wer kennt diese nicht. Aber, wie war das nun? Genau …»
Es war einmal eine Ziegenmutter. Diese hatte sieben junge Geisslein. Ziegenmädchen, schönere lebten noch nie auf dem Erdenrund. Eines Tages machte sich die Mutter auf, um Futter zu holen. Vorher rief sie ihre Kinder zusammen und sprach: «Meine Lieben, ich gehe Futter besorgen. Seid auf der Hut vor dem bösen Wolf. Lasst ihn nicht ins Haus, sonst ist es um euch geschehen. Ihr erkennt den Bösewicht an seiner rauen Stimme und an den schwarzen Tatzen.» Die Geisslein versprachen, sich in Acht zu nehmen und dem Wolf die Türe nicht zu öffnen. Der Wolf war aber nicht nur ein Bösewicht, sondern auch ein listiger Geselle. «Natürlich hat Mama Ziege die Kindlein vor mir gewarnt», brummte er. Stracks ging er zum Krämer, kaufte Kreide und frass sie auf. Anschliessend liess er sich beim Bäcker seine schwarzen Pranken mit Mehl pudern. Dann machte er sich auf zu den Geisslein.
Tock, tock pochte er an die Haustüre und flötete dank der gefressenen Kreide mit Engelsstimme: «Hallo, liebe Kinderlein, eure Mama ist zurück. Schaut, was für gutes Futter ich für euch gesammelt habe. Macht schnell die Türe auf.» Für die Ziegenmädchen war es klar. Diese Stimme. Das konnte nur Mama sein. Alle drängten zur Türe und öffneten sie. Aber welch ein Schreck. «Neeeiiin», kreischten sie und stoben auseinander. Der Wolf grinste böse, packte sie, kettete sie mit einem langen Strick aneinander und machte sich mit ihnen aus dem Staube.
Bald kam die Ziegenmutter nach Hause. «Oh weh», schluchzte sie, als sie sah, was geschehen war und schlug die Vorderfüsse über dem Kopf zusammen. Da half nur eines. Sie ging zu ihrem Zauberspiegel und fragte:
«Spieglein, Spieglein an der Wand,
wo sind meine Kinderlein im grossen Land?»
Der Spiegel antwortete:
«Sind sie bei den sieben Zwergen,
gefangen in den gläsernen Bergen.»
Klagend fiel die Mutter zu Boden. «Oh weh, oh weh, in den gläsernen Bergen. Soooo weit weg. Dorthin schaffe ich es nie.»
Das Schicksal war der Ziegenmutter wohlgesonnen. Däumling kam frohgemut des Weges. Ein winziges und witziges Kerlchen, nicht grösser als ein Daumen. Er hörte das Schluchzen der Ziegenmutter und fand sie im Haus vor dem Spiegel am Boden liegend. Er krabbelte auf sie, hangelte sich zum einen Ohr hoch, zupfte daran und fragte: «Was ist verehrte Dame, kann ich ihnen helfen?»
«Der böse Wolf hat meine Kinder entführt», klagte sie, «weit, weit weg, zu den gläsernen Bergen – ach, wie komme ich nur dorthin?»
Däumling rutschte von der Ziegenmutter runter, öffnete seinen Rucksack und zog ein Paar Schuhe raus.
«Hier», sagte er, «ziehen sie meine Siebenmeilenstiefel an, welche ich letzte Nacht dem Riesen Oger gestohlen habe.» «Hurra», rief die Mutter, «vielen Dank.» Vorsichtig hob sie den Däumling hoch, herzte ihn und gab ihm zum Dank auf jede Wange ein Küsschen. Dann schnürte sie die Stiefel und machte sich auf den Weg. Hui ging das flott, im Sauseschritt. Sieben Meilen bei jedem Tritt. Durch Wälder, entlang an Bächen, über Berge und durch Täler. Den sieben Lerchen nach, welche ihr den Weg zu den gläsernen Bergen wiesen.
Es dauerte nicht lange, da stand sie vor diesen. Ein riesiges Gebirge aus glitzernden Kristallen. Ausser den Lerchen, welche vor Begeisterung in den höchsten Tönen trillerten, war aber weder jemand zu sehen noch zu hören. «Haaallooo Kiiiinder», rief sie, «wo seid ihr?» Ausser, dem wie 7777 silberne Glöcklein klingenden Echo war aber nichts zu vernehmen.
Dann auf einmal … aus dem Wald halten Worte und Schritte. Uuuund links zwei, drei – trapp, trapp, trapp – uuuund links, zwei, drei – trapp, trapp, trapp. Sieben ungastliche Gesellen traten aus dem Unterholz. Im Gleichschritt, einer hinter dem anderen, gemeinsam eine lange Lanze mit sich führend. Die Ziegenmutter schaute unsicher um sich. Auch von den Lerchen war kein Pieps mehr zu vernehmen. Sie machte einen Schritt zurück, schluckte dabei leer. «Entschuldigung verehrte Herren», fragte sie unsicher, «ich suche meine Kinder, die sieben Geisslein, welche bei den sieben Zwergen sein sollen.» Sie hielt fragend inne. Nach einer kurzen Pause fuhr sie zögerlich fort: «Aber … diese scheinen sie nicht zu sein?».
«Hoooh, hoooh, hoooh», erschallte als Antwort ein homerisches Gelächter, «hoooh, hoooh, hoooh – die sieben Zwerge.» Es klang so furchterregend, dass die Glasberge sich weigerten, diese üblen Worte und Töne als Echo weiter zu tragen. Was die sieben Kerle in keiner Weise beeindruckte. «Wir sind die sieben Schwaben», grölten sie, «auf dem Weg, die Welt zu durchziehen, Abenteuer zu erleben und grosse Taten zu vollbringen. Unsere erste Aufgabe ist, für den bösen Wolf die in den gläsernen Bergen eingeschlossenen Gefangenen zu bewachen.» Dabei streckte Herr Schulz, der Anführer des Schwaben-Septettes, seinen rechten Arm hämisch grinsend in die Höhe und schwenkte einen goldenen Schlüssel. Den, mit dem man das Eingangsportal zu den Verliessen in den gläsernen Bergen öffnen konnte. Die Ziegenmutter fiel vor ihm zu Boden, umfasste seine Beine und flehte: «Bitte, lasst mich zu meinen Kindern.» Ruchlos gab Schulz ihr einen Tritt.
«Stopp», erklang auf einmal eine energische Stimme, Einhalt gebietend. Wie aus dem Nichts stand ein kecker junger Bursche in der Waldlichtung. Die Ziegenmutter erhob sich, schaute und rief: «Heja, das ist doch das tapfere Schneiderlein.»
Wie vom Donner gerührt standen die Sieben da. «Wa…, wa…, wasss, da…, da…. das tapfere Schneiderlein», stotterten sie blass geworden und mit zitternden Knien. «De…, de…, der, von dem gesagt wird, dass er Sieben auf einen Streich platt gemacht hat?» «Genau der», antwortete das tapfere Schneiderlein. Aber ohne zu sagen, dass die Sieben nur Fliegen gewesen waren. Kreischend liessen die Schwaben ihre Lanz fallen und rannten Hals über Kopf davon. Zetermordio brüllten sie: «Hiiiiilfe, hiiilfe, reeettet uns vor dem tapferen Schneiderlein.»
Auf der anderen Seite des Flusses hatte ein Angler sein Rute ausgeworfen. Er konnte die sieben Schreihälse nicht verstehen. Er war erst kürzlich aus dem Gebiet der Mosel kommend in die Gegend gezogen, und fragte im Trierer Platt zurück: «Wat, wat?». Die sieben Schwaben verstanden dies als Aufforderung, durch das anscheinend seichte Flussbett zu waten. Wie sich die Schwaben irrten. Das Wasser war reissend, erfasste sie, liess sie nicht mehr los und in der tiefen, kalten Flut ersaufen.
Als die Ziegenmutter und das tapfere Schneiderlein das sahen, führten sie vor Begeisterung einen Ringelreihen auf. Die Freude hielt aber nicht lange an. Mit den sieben Schwaben war auch der Schlüssel für den Eingang in die gläsernen Berge untergegangen. Traurig setzten sie sich auf einen Stein und schämten sich. Die Erfahrung reicher, dass Schadenfreude nur von kurzer Dauer ist.
Das Schicksal erbarmte sich erneut über die Ziegenmutter. Es schickte ein kleines Mädchen vorbei. «Sie wollen auch in die gläsernen Berge», fragte es die Ziegenmutter?
«Ja, sagte sie, «meine sieben kleinen Geisslein sind dort eingeschlossen.
«Meine Brüder auch, verwandelt in sieben Raben», antwortete das Mädchen.» Und es hatte eine gute Nachricht. Vom Morgenstern hatte es einen Schlüssel erhalten. In einem samtenen Täschen trug es ihn um den Hals. Es nestelte ihn raus, rannte zum sieben mal sieben Ellen grossen Eingangstor. Behände folgten ihm die Ziegenmutter und das tapfere Schneiderlein.
Lautlos öffnete sich das grosse Portal. Als erste kamen die sieben Zwerge angerannt. Sie berichteten trauriges. Der Wolf hatte begonnen, alle Märchenwesen einzufangen und einzusperren. Deren Geschichten seien pädagogisch höchstbedenklich und in keiner Weise mehr zeitgemäss. Um ihrer Gefangenschaft zu entkommen, spannten die sieben Schwaben mit dem Wolf zusammen und heuerten bei ihm mit ihrer langen Lanze als Wächter an.
Vor Freude jauchzend rannten die Zwerge los, um die andren zu holen. Und bald kamen sie. Alle. Ein farbenfroher Zug von Märchenwesen strebte dem Ausgang zu. Auch die sieben Geisslein kamen angehüpft, und die sieben Raben angeflattert. «Mama», riefen die Geisslein, «Schwesterchen», die Raben.
Draussen verabschiedeten sich das Rotkäppchen, das Aschenputtel, Frau Holle, Rübezahl, das Rumpelstilzchen und wie sie alle hiessen und machten sich auf den Weg nach Hause, zurück in ihre Märchen. Die sieben Geisslein und ihre Mutter verabschiedeten sich gerade von den sieben Raben und ihrem Schwesterchen, als das tapfere Schneiderlein angerannt kam. «Kommt, kommt», rief es ausser Atem, «ich habe vom Froschkönig gute Nachricht. Der böse Wolf schläft unten am Fluss, müde von seinem bösen Tun.»
Der Froschkönig erwartete sie. «Pst,» deutete er still zu sein, damit der üble Geselle nicht erwachen würde. Dann schritt das tapfere Schneiderlein zur Tat. Mit seiner Schere schnitt er dem Wolf den Bauch auch, füllte schwere Steine ein und nähte den Bauch wieder zu. Bald erwachte der Wolf. Ihm war nicht hunde-, sondern wolfselend. Und ein unsäglicher Durst plagte ihn.
Nach Wasser lechzend quälte er sich zum Flussufer, um zu trinken. Hechelnd beugte er sich zum Wasser. Die Steine im Bauch taten das Ihre. Sie liessen den Wolf vorüber in den Fluss plumpsen und ertrinken. Gab das einen Platsch. Die Geisslein, die Raben, alle wurden von Kopf bis Fuss tropfnass.
Sie legten sich zum Trocknen auf der Wiese an die Sonne. Als diese mit ihren goldenen Strahlen sanft über sie strich, wurden alle verwandelt. Der Froschkönig in einen Menschenkönig, die Ziegenmutter in eine ebensolche Königin und die Raben und Geisslein in Prinzen und Prinzessinnen. Alle verliebten sich ineinander. Und was im ganzen Trubel niemand gemerkt hatte. Auch das tapfere Schneiderlein und das Schwesterchen hatten sich seit ihrer ersten Begegnung von ganzem Herzen lieb. «Komm, es gibt zu tun», sagte das tapfere Schneiderlein zu seiner Geliebten, «wir müssen Hochzeitskleider nähen – natürlich auch für uns.»
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© 2023 Hans Peter Flückiger (Text & Bild)
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