Aller guten Dinge sind sieben

Von Hans Peter Flückiger

«Hilfe, hat sich in meinem Zimmer ein Wirbelsturm ausgetobt? Alle meine Bücher sind zerzaust und liegen zerstreut im Raum. Ach nein! Meine ganze Märchensammlung ist hin. Nanu, irgendwie bringe ich diese schon wieder zusammen. Hier – ich beginne mit dem Märchen vom Wolf und den sieben Geisslein. Wer kennt diese nicht. Aber, wie war das nun? Genau …»

Es war einmal eine Ziegenmutter. Diese hatte sieben junge Geisslein. Ziegenmädchen, schönere lebten noch nie auf dem Erdenrund. Eines Tages machte sich die Mutter auf, um Futter zu holen. Vorher rief sie ihre Kinder zusammen und sprach: «Meine Lieben, ich gehe Futter besorgen. Seid auf der Hut vor dem bösen Wolf. Lasst ihn nicht ins Haus, sonst ist es um euch geschehen. Ihr erkennt den Bösewicht an seiner rauen Stimme und an den schwarzen Tatzen.» Die Geisslein versprachen, sich in Acht zu nehmen und dem Wolf die Türe nicht zu öffnen. Der Wolf war aber nicht nur ein Bösewicht, sondern auch ein listiger Geselle. «Natürlich hat Mama Ziege die Kindlein vor mir gewarnt», brummte er. Stracks ging er zum Krämer, kaufte Kreide und frass sie auf. Anschliessend liess er sich beim Bäcker seine schwarzen Pranken mit Mehl pudern. Dann machte er sich auf zu den Geisslein.

Tock, tock pochte er an die Haustüre und flötete dank der gefressenen Kreide mit Engelsstimme: «Hallo, liebe Kinderlein, eure Mama ist zurück. Schaut, was für gutes Futter ich für euch gesammelt habe. Macht schnell die Türe auf.» Für die Ziegenmädchen war es klar. Diese Stimme. Das konnte nur Mama sein. Alle drängten zur Türe und öffneten sie. Aber welch ein Schreck. «Neeeiiin», kreischten sie und stoben auseinander. Der Wolf grinste böse, packte sie, kettete sie mit einem langen Strick aneinander und machte sich mit ihnen aus dem Staube.

Bald kam die Ziegenmutter nach Hause. «Oh weh», schluchzte sie, als sie sah, was geschehen war und schlug die Vorderfüsse über dem Kopf zusammen. Da half nur eines. Sie ging zu ihrem Zauberspiegel und fragte:

«Spieglein, Spieglein an der Wand,
wo sind meine Kinderlein im grossen Land?»

Der Spiegel antwortete:

«Sind sie bei den sieben Zwergen,
gefangen in den gläsernen Bergen.»

Klagend fiel die Mutter zu Boden. «Oh weh, oh weh, in den gläsernen Bergen. Soooo weit weg. Dorthin schaffe ich es nie.»

Das Schicksal war der Ziegenmutter wohlgesonnen. Däumling kam frohgemut des Weges. Ein winziges und witziges Kerlchen, nicht grösser als ein Daumen. Er hörte das Schluchzen der Ziegenmutter und fand sie im Haus vor dem Spiegel am Boden liegend. Er krabbelte auf sie, hangelte sich zum einen Ohr hoch, zupfte daran und fragte: «Was ist verehrte Dame, kann ich ihnen helfen?»
«Der böse Wolf hat meine Kinder entführt», klagte sie, «weit, weit weg, zu den gläsernen Bergen – ach, wie komme ich nur dorthin?»
Däumling rutschte von der Ziegenmutter runter, öffnete seinen Rucksack und zog ein Paar Schuhe raus.
«Hier», sagte er, «ziehen sie meine Siebenmeilenstiefel an, welche ich letzte Nacht dem Riesen Oger gestohlen habe.» «Hurra», rief die Mutter, «vielen Dank.» Vorsichtig hob sie den Däumling hoch, herzte ihn und gab ihm zum Dank auf jede Wange ein Küsschen. Dann schnürte sie die Stiefel und machte sich auf den Weg. Hui ging das flott, im Sauseschritt. Sieben Meilen bei jedem Tritt. Durch Wälder, entlang an Bächen, über Berge und durch Täler. Den sieben Lerchen nach, welche ihr den Weg zu den gläsernen Bergen wiesen.

Es dauerte nicht lange, da stand sie vor diesen. Ein riesiges Gebirge aus glitzernden Kristallen. Ausser den Lerchen, welche vor Begeisterung in den höchsten Tönen trillerten, war aber weder jemand zu sehen noch zu hören. «Haaallooo Kiiiinder», rief sie, «wo seid ihr?» Ausser, dem wie 7777 silberne Glöcklein klingenden Echo war aber nichts zu vernehmen.

Dann auf einmal … aus dem Wald halten Worte und Schritte. Uuuund links zwei, drei – trapp, trapp, trapp – uuuund links, zwei, drei – trapp, trapp, trapp. Sieben ungastliche Gesellen traten aus dem Unterholz. Im Gleichschritt, einer hinter dem anderen, gemeinsam eine lange Lanze mit sich führend. Die Ziegenmutter schaute unsicher um sich. Auch von den Lerchen war kein Pieps mehr zu vernehmen. Sie machte einen Schritt zurück, schluckte dabei leer. «Entschuldigung verehrte Herren», fragte sie unsicher, «ich suche meine Kinder, die sieben Geisslein, welche bei den sieben Zwergen sein sollen.» Sie hielt fragend inne. Nach einer kurzen Pause fuhr sie zögerlich fort: «Aber … diese scheinen sie nicht zu sein?».

«Hoooh, hoooh, hoooh», erschallte als Antwort ein homerisches Gelächter, «hoooh, hoooh, hoooh – die sieben Zwerge.» Es klang so furchterregend, dass die Glasberge sich weigerten, diese üblen Worte und Töne als Echo weiter zu tragen. Was die sieben Kerle in keiner Weise beeindruckte. «Wir sind die sieben Schwaben», grölten sie, «auf dem Weg, die Welt zu durchziehen, Abenteuer zu erleben und grosse Taten zu vollbringen. Unsere erste Aufgabe ist, für den bösen Wolf die in den gläsernen Bergen eingeschlossenen Gefangenen zu bewachen.» Dabei streckte Herr Schulz, der Anführer des Schwaben-Septettes, seinen rechten Arm hämisch grinsend in die Höhe und schwenkte einen goldenen Schlüssel. Den, mit dem man das Eingangsportal zu den Verliessen in den gläsernen Bergen öffnen konnte. Die Ziegenmutter fiel vor ihm zu Boden, umfasste seine Beine und flehte: «Bitte, lasst mich zu meinen Kindern.» Ruchlos gab Schulz ihr einen Tritt.

«Stopp», erklang auf einmal eine energische Stimme, Einhalt gebietend. Wie aus dem Nichts stand ein kecker junger Bursche in der Waldlichtung. Die Ziegenmutter erhob sich, schaute und rief: «Heja, das ist doch das tapfere Schneiderlein.»
Wie vom Donner gerührt standen die Sieben da. «Wa…, wa…, wasss, da…, da…. das tapfere Schneiderlein», stotterten sie blass geworden und mit zitternden Knien. «De…, de…, der, von dem gesagt wird, dass er Sieben auf einen Streich platt gemacht hat?» «Genau der», antwortete das tapfere Schneiderlein. Aber ohne zu sagen, dass die Sieben nur Fliegen gewesen waren. Kreischend liessen die Schwaben ihre Lanz fallen und rannten Hals über Kopf davon. Zetermordio brüllten sie: «Hiiiiilfe, hiiilfe, reeettet uns vor dem tapferen Schneiderlein.»

Auf der anderen Seite des Flusses hatte ein Angler sein Rute ausgeworfen. Er konnte die sieben Schreihälse nicht verstehen. Er war erst kürzlich aus dem Gebiet der Mosel kommend in die Gegend gezogen, und fragte im Trierer Platt zurück: «Wat, wat?». Die sieben Schwaben verstanden dies als Aufforderung, durch das anscheinend seichte Flussbett zu waten. Wie sich die Schwaben irrten. Das Wasser war reissend, erfasste sie, liess sie nicht mehr los und in der tiefen, kalten Flut ersaufen.

Als die Ziegenmutter und das tapfere Schneiderlein das sahen, führten sie vor Begeisterung einen Ringelreihen auf. Die Freude hielt aber nicht lange an. Mit den sieben Schwaben war auch der Schlüssel für den Eingang in die gläsernen Berge untergegangen. Traurig setzten sie sich auf einen Stein und schämten sich. Die Erfahrung reicher, dass Schadenfreude nur von kurzer Dauer ist.

Das Schicksal erbarmte sich erneut über die Ziegenmutter. Es schickte ein kleines Mädchen vorbei. «Sie wollen auch in die gläsernen Berge», fragte es die Ziegenmutter?
«Ja, sagte sie, «meine sieben kleinen Geisslein sind dort eingeschlossen.
«Meine Brüder auch, verwandelt in sieben Raben», antwortete das Mädchen.» Und es hatte eine gute Nachricht. Vom Morgenstern hatte es einen Schlüssel erhalten. In einem samtenen Täschen trug es ihn um den Hals. Es nestelte ihn raus, rannte zum sieben mal sieben Ellen grossen Eingangstor. Behände folgten ihm die Ziegenmutter und das tapfere Schneiderlein.

Lautlos öffnete sich das grosse Portal. Als erste kamen die sieben Zwerge angerannt. Sie berichteten trauriges. Der Wolf hatte begonnen, alle Märchenwesen einzufangen und einzusperren. Deren Geschichten seien pädagogisch höchstbedenklich und in keiner Weise mehr zeitgemäss. Um ihrer Gefangenschaft zu entkommen, spannten die sieben Schwaben mit dem Wolf zusammen und heuerten bei ihm mit ihrer langen Lanze als Wächter an.

Vor Freude jauchzend rannten die Zwerge los, um die andren zu holen. Und bald kamen sie. Alle. Ein farbenfroher Zug von Märchenwesen strebte dem Ausgang zu. Auch die sieben Geisslein kamen angehüpft, und die sieben Raben angeflattert. «Mama», riefen die Geisslein, «Schwesterchen», die Raben.

Draussen verabschiedeten sich das Rotkäppchen, das Aschenputtel, Frau Holle, Rübezahl, das Rumpelstilzchen und wie sie alle hiessen und machten sich auf den Weg nach Hause, zurück in ihre Märchen. Die sieben Geisslein und ihre Mutter verabschiedeten sich gerade von den sieben Raben und ihrem Schwesterchen, als das tapfere Schneiderlein angerannt kam. «Kommt, kommt», rief es ausser Atem, «ich habe vom Froschkönig gute Nachricht. Der böse Wolf schläft unten am Fluss, müde von seinem bösen Tun.»

Der Froschkönig erwartete sie. «Pst,» deutete er still zu sein, damit der üble Geselle nicht erwachen würde. Dann schritt das tapfere Schneiderlein zur Tat. Mit seiner Schere schnitt er dem Wolf den Bauch auch, füllte schwere Steine ein und nähte den Bauch wieder zu. Bald erwachte der Wolf. Ihm war nicht hunde-, sondern wolfselend. Und ein unsäglicher Durst plagte ihn.

Nach Wasser lechzend quälte er sich zum Flussufer, um zu trinken. Hechelnd beugte er sich zum Wasser. Die Steine im Bauch taten das Ihre. Sie liessen den Wolf vorüber in den Fluss plumpsen und ertrinken. Gab das einen Platsch. Die Geisslein, die Raben, alle wurden von Kopf bis Fuss tropfnass.

Sie legten sich zum Trocknen auf der Wiese an die Sonne. Als diese mit ihren goldenen Strahlen sanft über sie strich, wurden alle verwandelt. Der Froschkönig in einen Menschenkönig, die Ziegenmutter in eine ebensolche Königin und die Raben und Geisslein in Prinzen und Prinzessinnen. Alle verliebten sich ineinander. Und was im ganzen Trubel niemand gemerkt hatte. Auch das tapfere Schneiderlein und das Schwesterchen hatten sich seit ihrer ersten Begegnung von ganzem Herzen lieb. «Komm, es gibt zu tun», sagte das tapfere Schneiderlein zu seiner Geliebten, «wir müssen Hochzeitskleider nähen – natürlich auch für uns.»

*

© 2023 Hans Peter Flückiger (Text & Bild)
Alle Rechte vorbehalten

https://geschichten-gegen-langeweile.com

Das Märchen vom Pinguin

Von Charlotte Zorell

Als ich gestern spazieren ging, traf ich einen Pinguin. Ich war sehr erstaunt. Der Pinguin stand unter der Markise eines geschlossenen Kiosks, neben ihm auf dem von Kaugummiflecken übersäten Asphalt lag eine ölige Kartonbox und mehrere Plastikgabeln. Der Pinguin sah elend aus. Die weißen Stellen seines Fracks waren dreckverschmiert. Als ich näher kam, sah ich, dass der Pinguin weinte. Das erschütterte mich am meisten.
„Brauchen Sie ein Taschentuch?“, murmelte ich.
„Es geht schon“, schnaufte der Pinguin. Über seinen Schnabel liefen Tränen und tropften auf den klebrigen Boden. Es war wirklich ein sehr trauriges Bild. Ich war unschlüssig, ob ich weitergehen sollte oder nicht. Ein wenig verlegen standen wir nebeneinander.
„Möchten Sie, dass ich eine Weile bei Ihnen bleibe?“, nuschelte ich.
„Ja bitte“, röhrte der Pinguin. „Vielen Dank.“
„Wo wohnen Sie denn?“, fragte ich und dachte mir im selben Moment: dumme Frage.
Der Pinguin blinzelte mich an. Ich blinzelte zurück. Dann sagte ich: „Dumme Frage.“
Der Pinguin schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht“, sagte er, „ich weiß gar nicht, wo ich wohne.“ Dann heulte er laut auf. „Das ist schrecklich!“, schluchzte er, „ich weiß ja gar nicht, wo ich zuhause bin!“
„Wenn Sie möchten, können Sie mit zu mir kommen“, beeilte ich mich zu sagen.
„Danke, aber es geht schon“, schnarrte der Pinguin. „Bitte machen Sie sich keine Umstände wegen mir.“
„Schon gut“, sagte ich. „Ich habe heute nichts mehr vor. Deshalb bin ich alleine spazieren. Sonst würde ich vermutlich nur vor dem Fernseher oder auf Instagram festhängen.“
„Wohnen Sie alleine?“, fragte der Pinguin.
„Ja“, sagte ich.
„Sind Sie einsam?“, fragte der Pinguin. „Bitte entschuldigen Sie die indiskrete Frage.“
„Das ist schon in Ordnung“, sagte ich. „Smalltalk mag ich ohnehin nicht.“ Dann zögerte ich. „Ich bin seit kurzem alleine, ja. Einsam, naja, ich weiß nicht.“ Ich zögerte wieder. „Ich wurde vor kurzem verlassen“, gestand ich dann. „Ich habe Liebeskummer. Sehr großen Herzschmerz.“
„Aaaah!“, heulte der Pinguin auf. „Das habe ich auch!“ Die Tränen schossen nur so aus seinen dunklen Augen. Der Pinguin sah aus wie ein zerflossenes Aquarell. Ein Schauern lief durch seinen Leib. Die kleinen, unergiebigen, aus dem Pinguin-Torso herausragenden Flügel erzitterten in einem Schub von Verzweiflung. „Ich habe ganz fürchterliches Herzweh! Ach, am liebsten würde ich mir das Herz aus der Brust reißen, gegen die Wand schmeißen und dann auf dem Herzschmerz herumtrampeln!“
„Aber beruhigen Sie sich doch, Herr…Pinguin“, stotterte ich unbeholfen. Ich versuchte, eine Hand auszustrecken, um den glatten Pinguinkopf zu tätscheln. Der Pinguin warf den Schnabel zurück. „Ich möchte sterben!“, schrie er. „Ich habe keine Hoffnung mehr!“
„Ja, es ist schrecklich!“, sagte ich, „Sie können nicht essen und Sie können nicht schlafen und Sie glauben, es wird nie vorüber gehen!“
„Ganz genau!“, weinte der Pinguin.
„Aber es geht doch vorüber“, sagte ich. „Es ist doch in der Weltgeschichte immer vorüber gegangen.“
„Es ist nur“, heulte der Pinguin laut und voll Inbrunst, „Pinguine bleiben doch ihr Leben lang zusammen! Verstehen Sie? Pinguine bleiben doch ihr Leben lang zusammen! Das ist nun einmal so. Das ist die Natur. Wie kann es sein, dass mir so etwas passiert, wenn es gegen das Gesetz der Natur geht? Das ist so peinlich! Ich schäme mich.“
„Ach wo, Sie müssen sich doch nicht schämen“, sagte ich. Eine lange Pause entstand, der Pinguin weinte kullernde Tränen, ich fühlte mich ganz und gar unnütz. Ich hatte noch nie einen Pinguin getröstet. Wenn ich es mir recht überlegte, tröstete ich allgemein ganz selten jemanden. Es waren ja auch nur so wenige da, die man trösten konnte, und ganz oft war man anderweitig beschäftigt, mit seiner eigenen Zerstörung, mit seinen eigenen Wunden, die man sich beeilte zu schließen, um ganz rasch und effizient weiterleben zu können, mit glatten Gesichtszügen, die nichts verrieten. Die große, sehr reelle, sehr kindliche Trauer des Pinguins verunsicherte mich. Manchmal hatte ich das Gefühl, als würden meine Augen nur imstande sein, nach innen zu weinen. Ich weinte mich alleine in den Schlaf und hoffte, dass mich irgendwer anrief und fragte, wie es mir ging. Aber mein Handy blieb stumm oder spielte bittere Musik und die Melancholie fraß mich auf.
„Bitte“, riss ich mich aus meinen eigenen Gedanken, „wer sagt denn, dass das für jeden Pinguin gilt? Wo steht denn das geschrieben? Vielleicht ist das auch nur eine unwahre Legende.“
Mit trüben Augen starrte mich der Pinguin auch. „Wie meinen Sie das?“, hickste er. „Ein Pinguin trifft einen anderen Pinguin und dann machen sie ein Pinguinbaby und dann bleiben sie ihr Leben lang zusammen, wissen Sie das nicht?“
„Naja, vielleicht ist das ein Irrtum“, sagte ich schulterzuckend. „Natürlich tut es weh. Ich hätte auch nie gedacht…naja, dass ich jetzt immer noch oder wieder alleine bin. Aber so ist es nun mal. Manchmal scheitert es eben. Ob jetzt an den großen oder den kleinen Dingen, das ist unwichtig.“
Schluckauf vibrierte im gewölbten Pinguinbauch. Eine Weile schwieg er. Dann hickste er: „Aber das ist doch der Lauf des Lebens.“
„Ein Menschenleben ist einem Pinguinleben gar nicht so unähnlich“, sagte ich.
„Bleiben Menschen nicht ihr Leben lang zusammen?“
Eine Weile schwieg ich. Dann sagte ich: „Nicht unbedingt.“
Wir standen nah beisammen, der Verkehr rauschte an uns vorbei, der Autolärm ein hässlich-erstickender, es wirbelte uns den Dreck der Welt um die Köpfe. Die vorüber eilenden Menschen sahen ergraut und müde aus. Überall Zerrissenes, im Wind wirbelnde Plastikfetzen, Wolkenschnipsel, die den Himmel langsam verdunkelten, es sah nach Regen aus.
„Rauchen Sie?“, fragte ich schließlich.
Der Pinguin schüttelte den Kopf. „Ich eigentlich auch nicht“, sagte ich, „ich blase nur so gern Trübsal.“
„Es sieht nach Regen aus“, sagte ich, in den Himmel sehend. Schon jetzt war die Stadt eine schwere, unheilvolle, vermüllte Masse. Wie konnte diese Welt Gesetze hervor bringen. Es war ganz und gar verfehlt.
„Es liegt an mir“, sagte der Pinguin. Er starrte auf seine kleinen, unbeholfenen Füße. „Es ist meine Schuld.“ Er klang sehr resigniert. Dann hob er den Kopf. „Ich mag diese Art von Pinguinen gar nicht, diese Art, die ich mögen sollte“, sagte er mit erstickter Stimme. „Können Sie sich das vorstellen?“
„Durchaus“, sagte ich.
„Es ist schrecklich“, sagte er gedämpft. „Ich habe alles kaputt gemacht.“
„Ein Menschenleben ist einem Pinguinleben gar nicht so unähnlich“, wiederholte ich.
„Ist das bei Menschen auch so?“, fragte er.
„Durchaus“, sagte ich. „Bei Menschen ist eigentlich alles so. Menschen sind alles. Das macht es auch sehr schwierig, aber auch sehr schön. Eigentlich weiß man nie so genau mit Menschen. Sie sind immer für eine Überraschung gut. Es gibt viele böse Überraschungen, aber auch viele sehr schöne. Die Natur wird vom Menschen eigentlich ständig überrumpelt. Oder auch umgekehrt.“
„Das ist sehr weise“, sagte der Pinguin. „Haben Sie sich das gerade ausgedacht?“
„Ach“, sagte ich seufzend, „ich suche auch nur nach einer Erklärung für das Große Ganze. So wie alle anderen auch.“
„Ich habe Angst“, sagte der Pinguin. Ein Windstoß trug den Geruch von Unwetter mit sich. Irgendwo weinte ein Kind. Das Weinen von Kindern rührte mich immer sehr. Es klang dem Pinguin-Weinen gar nicht unähnlich. Es war ja wirklich erstaunlich, dass aus Kindern so vieles und alles werden konnte, dachte ich bei mir. Sogar ein Pinguin.
„Ja, das ist leider so“, sagte ich. „Mehr kann ich da auch nicht sagen, außer, dass Angst zum Leben gehört, weil es ja auch Angst vor dem Leben ist, in gewisser Weise.“ Ich überlegte. „Ich weiß noch nicht, wie ich mit der Angst Schluss mache. Vielleicht bin ich doch einsam, wenn ich es mir so recht überlege. Ich habe schon sehr lange nicht mehr so viel mit jemandem gesprochen.“
„Das ist doch gut“, sagte der Pinguin mit hellerer Stimme. „Zumindest das habe ich nicht vermasselt.“
„Sie haben gar nichts vermasselt“, sagte ich. „Sie wissen nur ein wenig mehr, wer Sie sind.“ Das Pinguinmärchen würde ich auf jeden Fall von meiner Liste der unerschütterlichen Normen streichen, schwor ich mir. Die Liste der Schein-Prinzipien, die ich auflösen wollte, wurde immer länger.
„Möchten Sie etwas essen gehen?“, fragte ich.
„Sehr gern“, sagte der Pinguin. „Ich watschele dann einfach hinter ihnen her, ja? Ich bin langsam bei Fuß.“
„Das macht mir nichts“, sagte ich lächelnd. „Ich auch.“

*

© 2023 Charlotte Zorell
Alle Rechte vorbehalten