Halleluja

Von Johannes Morschl

Ein grauer Montagmorgen Anfang März 2017 in Berlin-Steglitz. Es ist kurz vor 10 Uhr. Der 62-jährige Dichter Kalle Trübwitz sitzt mit einem ausgebeulten Trainingsanzug bekleidet auf seinem Bett und sinniert vor sich hin. „Passend, das trübe Wetter heute, passt sowohl zur allgemeinen Weltlage, als auch zu meiner Stimmung. Fühle mich wie ein Schiffbrüchiger, der sich nur noch an seinen Gedichten festklammern kann, doch bekanntlich schwimmen Gedichte nicht, man kann damit nur absaufen. Gleich kommt Agatha, meine polnische Putzfrau. Kann mich selbst nicht zum Putzen aufraffen, bin viel zu viel mit meinen Gedichten beschäftigt. Nichts ist schwieriger, als Gedichte zu schreiben. Das Schreiben von Prosa ist ein Witz dagegen. Agatha ist mit ihren 54 Jahren schon Witwe. Ihr Mann ist an Leberzirrhose gestorben, war Alkoholiker. Ist nahezu klischeehaft, dass der polnische Mann Alkoholiker war. Man bedenke nur, wie viele deutsche Alkoholiker es gibt, ja allein schon in Berlin gibt es unzählig viele. Agatha hat eine Tochter namens Andzelika, die noch bei ihr wohnt. Die habe ich aber noch nicht kennengelernt. Agatha ist gläubige Katholikin. Sie geht jeden Sonntag in die Kirche und singt auch in einem Kirchenchor mit. Ich mag sie, sie ist geradeheraus, sagt offen, was sie denkt. Wir duzen uns seit einiger Zeit. Sie ist mein bestes Publikum. Lese ihr immer mein neuestes Gedicht vor. Sie ist so verlässlich entsetzt über meine Gedichte. Fühle mich dadurch als Dichter bestätigt. Habe ja den Anspruch, mit meinen Gedichten zu irritieren. Lese meine Gedichte nur noch Agatha vor, nehme an keinen Lesungen mehr teil, da glotzt man mich nur verständnislos an, wenn ich meine Gedichte vortrage.“

Es läutet an der Wohnungstür. Kalle steigt aus dem Bett und öffnet. Draußen steht Agatha. „Guten Morgen, Kalle!“ Er: „Sei gegrüßt, Agatha, mein rettender Putzengel in dieser hoffnungslos verstaubten Welt!“ Sie tritt ein. Er hilft ihr galant aus ihrer Jacke und fragt: „Wie geht es dir?“ Sie: „Ach, ich mach mir Sorgen um Andzelika. Sie hat sich von ihrem ich weiß nicht wievielten Freund getrennt, und in die Kirche geht sie auch nicht mehr.“ Kalle: „Das finde ich interessant. Stell sie mir doch einmal vor.“ Agatha: „Gott behüte! So, wie sie derzeit drauf ist, würde sie sich womöglich noch in dich alten Verrückten vergucken.“ Kalle: „Das wär doch was! Statt Die Schöne und das Biest: Die Schöne und der alte Verrückte.“ Agatha: „Wechseln wir lieber das Thema. Wie geht es dir? Hast du wieder eines deiner schrecklichen Gedichte geschrieben?“ Kalle: „Wie sollte ich in einer Welt, die mir wie ein Albtraum vorkommt, auch anders schreiben können?“ Agatha: „Möge unser von Papst Franziskus heilig gesprochener Papst Johannes Paul II., unser Karol Wojtyla aus Wladowice, gnädig vom Himmel auf dich schauen und dich auf hellere, die göttliche Schöpfung bejahende Gedanken bringen.“ Kalle: „Findest du es nicht absurd, wenn ein Papst den anderen heilig spricht? Wäre es da nicht einfacher, wenn sich jeder Papst gleich selbst heilig sprechen würde?“ Agatha: „Über so etwas lästert man nicht, du unverbesserlicher Atheist!“ Kalle grinst und sagt: „Setz dich. Ich muss dir unbedingt mein neuestes Gedicht vorlesen.“ Agatha: „Das habe ich schon befürchtet.“

Sie setzt sich auf einen Stuhl. Kalle setzt sich aufs Bett, schlägt ein Schreibheft auf und liest vor:

„Schwundzeit
ist angebrochen,
aus Hirnrissen
quillt Hirnrissiges.

Noch blubbern
in löchriger Erinnerung
die lüstern schimmernden
Perlmütter.

Eine Traumfegerin
fegt durch die nächtliche Stund,
in die du dich verirrwischst,
du armer Hund.“

Agatha: „Das Gedicht ist wieder schrecklich. Ich glaube, du brauchst dringend eine Frau. Das ewige Alleinsein tut dir nicht gut. Außerdem solltest du in die Kirche gehen, das bringt Licht und Frieden in die Seele.“ Kalle: „In eine Kirche gehe ich aus Prinzip nicht. Und was soll ich mit einer Frau? So etwas geht bei mir nie gut aus. Die Frauen, mit denen ich zusammen war, sind mir alle davongelaufen. Sie konnten meine Fundamentalopposition gegen die Welt nicht ertragen.“ Agatha: „In deinem Gedicht ist aber eindeutig die Sehnsucht nach einer Frau zu erkennen. Du fantasierst von lüstern schimmernden Perlmüttern und einer Traumfegerin in der nächtlichen Stund. Hast du mit der Traumfegerin etwa gar mich gemeint, weil ich bei dir putze?“ Kalle: „Wo denkst du hin? Ich bin doch kein Lustgreis, der von einer im Vergleich zu mir fast noch jugendlichen Frau wie dir fantasiert!“ Agatha: „Na, da bin ich mir nicht so sicher. Glaubst du, ich habe nicht gemerkt, wie du mich beim Putzen immer beobachtest, so als wäre ich eine dieser lüstern schimmernden Perlmütter?“ Sie schweigt kurz und sagt dann: „Ach, wenn Bartosz, mein Mann, noch leben würde! Wenn er zu viel Wodka getrunken hat, war er nicht auszuhalten, aber im nüchternen Zustand war er ein guter Mann. Gott hab ihn selig!“ Sie bekreuzigt sich und setzt fort: „Seit seinem Tod war ich mit keinem Mann mehr zusammen. Das ist ungesund und widerspricht dem göttlichen Schöpfungsplan. Gott hat Mann und Frau erschaffen, damit sie sich vereinigen.“

Sie bekommt auf einmal ein Glitzern in den Augen und blickt Kalle mit einem seltsamen Lächeln an. Kalle: „Wie guckst du mich auf einmal an? Wie soll ich das interpretieren? Du wirst doch nicht etwa unkeusche Gedanken haben und dich mit mir, dem alten verrückten Atheisten vereinigen wollen? Das würde deinem Gott aber gar nicht gefallen, Schöpfungsplan hin oder her.“ Agatha blickt nach oben und sagt: „Lieber Gott, verzeih mir bitte, was ich jetzt gleich machen werde. Siehe darin den Versuch deiner dir treu ergebenen Dienerin, einen alten verbohrten Atheisten mit zwar unkonventionellen, aber durchaus deinem Schöpfungsplan entsprechenden Mitteln zu bekehren.“ Sie beginnt sich zu entkleiden. Kalle erschrocken: „Agatha, was tust du da?!“ Die nackte Agatha geht langsam auf ihn zu. Er rutscht auf seinem Bett aus der Sitz- in die Liegeposition und zieht sich die Bettdecke über den Kopf. Beim Bett angelangt, zieht Agatha mit einem Ruck die Bettdecke weg. Kalle: „Agatha, bitte hör auf damit! Zieh dich wieder an, du erkältest dich noch! Und wer soll dann bei mir putzen?“ Agatha ist aber nicht mehr zu bremsen. Sie sagt: „Hier steht deine lüstern schimmernde Traumfegerin!“ Kalle korrigiert: „In meinem Gedicht schimmern die Perlmütter lüstern, die Traumfegerin fegt nur, ohne lüstern zu schimmern.“ Agatha bleibt davon unbeeindruckt. Sie blickt wieder nach oben, diesmal aber nicht zu Gott, sondern zu ihrem verstorbenen Mann, und sagt zu ihm: „Schau weg, Bartosz, wenn ich jetzt lüstern schimmere, sonst hört das Schimmern wieder auf. Spiel lieber mit den Engeln Karten und trink ein Gläschen himmlischen Wodka.“

Dann bekreuzigt sie sich wieder, zieht Kalle mit energischen Griffen aus und setzt sich auf ihn. Kalle ist derart geschockt, dass er zu keiner Abwehr fähig ist. Da durchfährt es ihn: „Oh Schreck, lass nach! Ich spüre, wie sich mein Schwanz versteift! Er will, obwohl ich nicht will, doch habe ich keine Chance gegen die Übermacht des Triebes.“ Agatha führt seinen erigierten Schwanz in ihre Muschi ein. Kalle wird von einer Woge der Lust überschwemmt, seine letzten Widerstände brechen. Flugs beginnen beide zu vögeln, Agatha oben und Kalle unten. Mittendrin ruft Agatha „Halleluja!“ Kalle ruft unwillkürlich auch „Halleluja!“ Dabei erschrickt er über sich selbst, weil er weiß, dass Halleluja Lobet Gott bedeutet, aber er beruhigt sich gleich wieder, da ihm das Halleluja wie ein dadaistisches Lallen vorkommt, und er ist schon immer ein Fan des Dadaismus gewesen. Anschließend beginnt Agatha das Halleluja nach Georg Friedrich Händel zu singen, obwohl der ein Protestant war, aber sie hatte es schon in einem ökumenischen Chor aus Katholiken und Evangelischen in Berlin gesungen: „Hal-leluja, halleluja, halleluja, halleluja!“ Kalle singt mit: „Hal-leluja, halleluja, halleluja, halleluja!“ Sie vögeln und singen immer weiter, bis sie schließlich gleichzeitig zum Orgasmus kommen, wobei sie beide ein in die Länge gezogenes, jubilierendes „Hal-le-lu-jaaa!“ singen.

Dies ist insofern bemerkenswert, als ein gemeinsamer gleichzeitiger Orgasmus beim Vögeln eher selten der Fall ist, da die Klitoris, das Orgasmus auslösende Organ der Frau, dabei nicht oder zu wenig stimuliert wird. Meistens bekommt beim Vögeln nur der Mann einen Orgasmus. Aber Agatha hat es so geschickt angestellt, dass ihre Klitoris von Kalles erigiertem Schwanz ausreichend stimuliert wurde. Außerdem befinden sich in der Vagina bis zu 9 cm lange Ausläufer von den tausenden Nervenfasern der Klitoris, die beim Vögeln stimuliert werden können. Deshalb ist es aus medizinischer Sicht durchaus möglich, dass eine Frau auch durch den Scheide-Penis-Verkehr einen Orgasmus bekommen kann, auch wenn dies wie gesagt eher selten der Fall ist. Wie auch immer, jedenfalls sinkt Agatha nach dem gemeinsamen Orgasmus auf Kalle, und sie umarmen und küssen sich. Kalle empfindet ein höchst verdächtiges, den Irrsinn dieser Welt überdeckendes Glücksgefühl. Er denkt sich: „Hoffentlich wirkt sich das nicht negativ auf meine negative Dichtkunst aus! Die Negation der Negation führt nach der dialektischen Logik Hegels zum Positiven, und dies wäre mein Untergang als Dichter. Ich könnte dann nur noch Gedichte schreiben, die jeder versteht. Brr! Gar nicht auszuhalten diese Vorstellung.“

An dieser Stelle breche ich die Geschichte Halleluja ab. Dies hat aber nichts mit einem literarischen Coitus interruptus zu tun, einer höchst unsicheren Verhütungsmethode, sondern mit meinem eigenen Erschrecken über das Positive als Resultat der Negation der Negation. Ich befürchte, diese Story müsste nun positiv weitergehen, und dies wäre dann mein Untergang als Schriftsteller. Lieber ein vorzeitiger Abbruch, bevor das Ganze in eine längere Love-Story ausartet. Allein schon beim Gedanken daran wird mir schwummerlich. Obwohl, es würde da durchaus Möglichkeiten geben, dies zu sabotieren. Zum Beispiel könnte Kalle Andzelika, die Tochter von Agatha kennenlernen, und die beiden würden sich ineinander verknallen. So etwas kommt auch im realen Leben vor. Ich kannte früher einen alten, inzwischen schon verstorbenen Maler, der eine Geliebte hatte, die seine Tochter hätte sein können. Und natürlich würde Agatha davon erfahren, dass Kalle es auch mit ihrer Tochter treibt. Das schreckliche Ende der Love-Story könnte dann sein, dass Agatha Kalle zum Essen bei sich einlädt und Strychnin in sein Essen mischt. Eine Dosis von 30 bis 120 Milligramm Strychnin, von den Schleimhäuten aufgenommen, kann tödlich sein. Wenn die Love-Story so enden würde, könnte ich eventuell mit ihr leben. Deshalb liebe ich ja auch Shakespeare. Welch genial ausgedachtes tragisches Ende hat sein Liebesdrama Romeo und Julia.

(2017)

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