Nach wie vor ziemlich aufmüpfig

(Monolog eines alten Mannes)

Von Johannes Morschl

Also, was ich schon immer mal verkünden wollte: Aus meiner Sicht bin ich der Größte, der Einzige und sein nicht vorhandenes Eigentum. Auf der Straße versuche ich immer zu schweben. Manchmal gelingt es mir, aber es gab dabei auch schon unangenehme Zwischenfälle, etwa wenn ich von einem Passanten auf der Straße angerempelt wurde, weil ich ihn in Gedanken verloren schlichtweg übersehen hatte, und der Passant offenbar nicht einsah, warum er, und nicht ich ausweichen sollte. Einmal versuchte mir ein großer Mann so um die Fünfzig sofort eine in die Fresse zu hauen, nachdem ich ihn gedankenverloren beim Schweben frontal gerammt hatte. Da ich aber in jüngeren Jahren eine mehrjährige Ausbildung in der japanischen Selbstverteidigungskampfkunst Aikido gemacht hatte, wehrte ich seinen Schlag mit meinem rechten Arm ab, drehte mich blitzschnell um ihn herum und warf ihn mit meiner linken Hand zu Boden. Auf eine Prügelei lasse ich mich nur äußerst ungern ein, und man muss natürlich darauf achten, auf wen man sich da einlässt. In der Regel ist es sinnvoller, sich bei der Person, in die man gedankenverloren hineingeschwebt ist, zu entschuldigen und möglichst schnell das Weite zu suchen.

Nun ist hier nur von Männern die Rede. „Was ist mit den Frauen?“, wird man vielleicht fragen. In Frauen schwebe ich prinzipiell nicht hinein. Dies verbietet mir meine Achtung vor Frauen. Diese Achtung ist bei mir so stark verinnerlicht, dass ich Frauen auf der Straße automatisch ausweiche. Eine handgreifliche Auseinandersetzung mit einer Frau käme für mich absolut nicht in Frage, wobei es durchaus nicht ausgemacht wäre, ob dabei nicht ich den Kürzeren ziehen würde. – Da fällt mir warum auch immer ein, dass ich als kleiner Junge ein paar mal von meiner Mutter mit einem Teppichklopfer verkloppt wurde. Ich warf mich dabei auf den Boden, und auf dem Rücken liegend versuchte ich ihre Schläge mit dem Teppichklopfer mit den Füßen abzuwehren. Solche Wutanfälle, mit dem Teppichklopfer auf mich einzuschlagen, hatte sie aber nur selten. Einmal ging mein Vater dazwischen und fuhr sie an: „Hör auf! Du erschlägst ihn noch!“ Das mit dem Erschlagen war übertrieben, denn mit dem Teppichklopfer hätte mich meine Mutter nicht erschlagen können. Da wäre wohl eher der Teppichklopfer kaputtgegangen. Aber diese rasende Wut von ihr und dieses merkwürdige Glitzern in ihren Augen, während sie mit dem Teppichklopfer auf mich einschlug! Es kam mir so vor, als würde sie sadistische Lust dabei empfinden. Doch wer weiß, auf wen oder was sie da noch alles eingedroschen hat, der, die oder das überhaupt nichts mit mir zu tun hatte.

Einmal wurde mir von einem Bekannten aus einer Kreuzberger Künstlerkneipe, in der ich in jüngeren Jahren Stammgast war, gesagt, ich würde ihn mit meiner langen dünnen Figur und dem schmalen zerfurchten Gesicht an Figuren des berühmten Schweizer Bildhauers, Malers und Grafikers Alberto Giacometti, der die meiste Zeit in Paris lebte, erinnern. Für mich war das alles andere als eine Beleidigung. Ich fühlte mich geehrt, ja ich fühlte mich als großer Bewunderer von Giacometti zutiefst geehrt, mit einer seiner extrem dünnen, in die Länge gezogenen, zerfurchten Figuren verglichen zu werden. Seit ich mit Figuren von Giacometti verglichen wurde, stellte ich mich mit viel größerem Selbstbewusstsein den Unwägbarkeiten des Lebens. Ich sagte mir, ich sei eine zum Leben erwachte Figur von Giacometti. Als eine derart in die Länge gezogene, zerfurchte Figur hat man es aber nicht immer leicht. Als zum Beispiel einmal sturmartige Windböen durch die Straßen wehten und ich leichtsinniger Weise ins Freie gegangen war, musste ich mich manchmal an Passanten festhalten, um nicht umgeweht und wer weiß, wohin geweht zu werden, sozusagen vom Winde verweht. Das fanden manche Passanten, an denen ich mich unwillkürlich festgeklammert hatte, gar nicht gut. Einmal hielt ich mich an einem großen kräftigen Mann fest, der eine eingedrückte Boxernase hatte. Ich entschuldigte mich sofort, doch er fuhr mich an: „Hau ab, sonst mach ich aus dir Hackfleisch!“ Unwillkürlich dachte ich, na Hackfleisch könnte er wohl kaum aus mir machen, höchstens Hackknochen.

Aus den Lautsprechern meines antiken CD-Players ertönen wieder einmal die Orchester Suiten 1 – 4 von Johann Sebastian Bach. Diese Musik hat etwas Beruhigendes für mich. Es gibt Passagen, die wie eine musikalische Meditation klingen. Es gibt aber auch Passagen, die lauter und hurtiger sind. Da hat man dann das Gefühl, man hopst in einer barocken Gesellschaft von Damen und Herren herum. Manchmal gibt es aber auch Passagen, die ernst und feierlich sind. Sie erheben das Gemüt, es kommt zu inneren Aufwallungen, man droht zu zerspringen. Danach kommen aber wieder langsame, lyrische Passagen, in denen man einen Hauch von Trauer über die Endlichkeit des Lebens herauszuhören glaubt. „Nicht einschlafen!“, sage ich mir dann, „sonst wachst du womöglich nie wieder auf.“ „Na und?“, antworte ich mir. „Dann habe ich dieses Leben eines Hungerleiders, der sich der Malerei und Literatur verschrieben hat, endlich hinter mir.“ Hätte doch etwas Erhebendes, zu den Klängen der Orchester Suiten 1 – 4 von Johann Sebastian Bach ins Jenseits zu entschweben. – Vielleicht gibt es im Jenseits eine zeit-verkehrte Welt, wo man sein Leben noch einmal von hinten nach vorne lebt, vom Tod bis zur Geburt und dem vorgeburtlichen Leben im Mutterleib.

Na endlich ist es heraus, um was es dir eigentlich geht: Du willst wieder in die Arme deiner längst verstorbenen Mutter. Auch willst du wieder von deinem großen kräftigen Vater auf den Schultern getragen werden. Du willst wieder Kind sein, und kein alter Mann mehr, der immer hinfälliger wird, wenn du auch noch relativ problemlos die Treppen zu deiner Wohnung hoch kommst, deine tägliche Morgengymnastik machen kannst, und nach wie vor ziemlich aufmüpfig bist, sozusagen im Widerstand gegen diese Welt, und da du Teil dieser Welt bist, bis zu einem gewissen Grade auch im Widerstand gegen dich selbst, was sich in depressiven Phasen mit starken Selbstzweifeln und suizidalen Gedanken ausdrückt. Du hast aber auch mit den Jahren gelernt, dich mit einem gewissen Stoizismus da wieder herauszuholen, – mit dem Annehmen von dem, was du nicht verändern kannst.

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© 2024 Johannes Morschl
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