Ein Mann will nach oben

Von Michael Wiedorn

Wir hatten auf eine Anzeige der „Zweiten Hand“ geantwortet. Wir trafen uns in einem Restaurant in Moabit in einem Hinterzimmer. Unter den Mitbewerbern fiel mir ein derbes, junges Mädchen mit langen, roten Haaren und Hornbrille auf. Ihre Bewegungen waren so hart wie die eines Mannes. Sie wirkte sehr intelligent, aber es dürfte ein sehr trockner und nüchterner Verstand gewesen sein. Ein Verstand, der Zahlen und Statistiken liebt. Es waren etwa noch zwanzig oder dreißig andere Bewerber gekommen. Wir hatten uns bei einem Meinungsforschungsinstitut beworben, das gerade im Aufbau war. Ein sehr sehr freundlicher Herr in meinem damaligen Alter – um die Dreißig – ein einziges Lächeln über sämtliche Backen – war der Chef des jungen Unternehmens.
Er war schon früh gereift – zurückhaltend ausgedrückt. Eine fertig ausgebildete Glatze. Er war schlank und mittelgroß. Schwach ausgebildete Gesichtszüge an einem für den Körper etwas zu großem Kopf. Aschblonder Haarkranz und Brille. Er hatte die die Leute für sich einnehmen sollende Heiterkeit eines Vertreters. Er versuchte seinem Gesprächspartner zu vermitteln, dass er ihn ernst nimmt, dass er die Gedanken und Ideen jedes Menschen, auch der Benachteiligsten und Behindertsten, interessant und bemerkenswert findet. Vielleicht ist er einer, der im Gespräch mit jemandem, einem Dritten spöttisch zuzwinkert. Er hatte viele Fähigkeiten und Kenntnisse, die ihm Erfolg im Geld Verdienen versprachen, auf die er auch stolz war, die auch die Grundlage seines Selbstverständnisses waren. Er sah sich nicht als Geldgeilen, dem es nur um Rendite und Sozialprestige geht. Er sah sich als jemand, der helfen will. Arme Studenten und Rentner konnten sich ein Paar Pfennige bei ihm verdienen. Er bewunderte das Institut für Meinungsforschung von Adorno. In den folgenden Jahren meiner Mitarbeit verwirrte mich das immer wieder.
Wir hatten Befragungen für anlaufende Kinofilme, Haushaltsbefragungen, Zigarettenbefragungen, in denen Konsumenten bis aufs Unterhemd über ihren Konsum von Mineralwasser, Tiefkühlkost, Haustierfutter ausgequetscht wurden. Das Institut war der Laufbursche der PR-Abteilungen der Firmen, wir Befrager waren die Laufburschen des Instituts. Er träumte von einem Meinunsforschungsnstitut, das rein der Erkenntnis und anschließender Revolution der Gesellschaft dienen sollte.
War er ein Hochstapler? Ich brauchte dringendst Geld, wurde voller Misstrauen Mitarbeiter und rechnete schon fest damit um meinen Lohn geprellt zu werden. Ich wurde korrekt auf Heller und Pfennig entlohnt.
Bei meiner ersten Auftragsannahme stand ich in einer von Fragebögen überquellenden, viel zu kleinen Altbauwohnung. An der einen Wand im großen Zimmer hing ein Porträt von Karl Marx, nicht aus durchgehenden Linien gezeichnet und nicht aus zusammenhängenden Flächen bestehend, sondern aus schwarzen Kugeln zusammengesetzt. Ein modernisierter Marx. Auf der anderen Seite hing ein Plakat für die Internationalen Jugendfestspiele 1952. Heldische, saubere Jugend blickt stolz in die lichte Zukunft des Sozialismus. Hier hatten wir einmal eine von einem amerikanischen Marktinstitut aus Seattle organisierte Befragung über aktuelle Popmusik. Wir Mitarbeiter hätten garnicht mitmachen dürfen. Ein Musikstück wurde ganz kurz angespielt, nach etwa zwei Minuten gestoppt und wir mussten in einem Fragebogen unseren ersten Eindruck dadurch darstellen, dass wir mit einem Kreuzchen zu jedem Stück eine auf dem Fragebogen angegebene Eigenschaft zuordneten. An den Wänden gähnende Leere. Der Marx und die Jugendfestspiele waren abgehängt. Vielleicht aus Platzmangel. Unser Institut stand in der Tradition von Adorno. War Adorno nicht auch ein Musiktheoretiker? Er hasste die Unterhaltungsindustrie. Bach, Beethoven, Wagner wurden doch von den Nazis gefeiert. Man muss mit der Zeit gehen. Dieser reaktionäre, elitäre Bildungsdünkel. Der Jungunternehmer würde im Bass der Nachdrücklichkeit sprechen – „es muss einmal gesagt sein!“ Und am Schluss versöhnlich lächeln. Sein Ehrgeiz war es, eines der größten Meinungsforschungsinstitute Deutschlands aufzubauen. Er zeigte mir einen Artikel in einer Fachzeitschrift über uns. Die Firma gehörte schon zu den ersten zehn Instituten. Er strahlte mich ganz stolz an. Ich dachte: Höhere Leistungen zum Zehnten Parteitag. Begeisterter Applaus in der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik. Ich sah ihn ausdruckslos an. Er fühlte seine Begeisterung von mir recht abgekühlt.
Die Zimmer der Wohnung waren bis oben zur Decke an der einen Wand mit ausgefüllten Fragebögen, auf der anderen Seite mit unausgefüllten Fragebögen eingemauert. Ich kam mittags vorbei und holte mir Arbeit mit einem Blatt mit Bildern aus einem Kinofilm. Ich erhielt die mir zugesprochene Menge von Papier. Er lächelte mich verschmitzt an, zwinkerte mir zu und meinte, für die Befragung müsse ich von niemanden die Adresse angeben. Er sah mich mit vor Freude, mir etwas Gutes zu tun, mir ein Geschenk zu machen, weit geöffneten Augen an. Er gab mir mit einem nochmaligen Zwinkern noch einmal hundert Bögen hinzu. Er lächelte mir freundschaftlich zu. Mir war es recht. Mir war es garnicht recht. Der Tag war restlos ausgefüllt mit stumpfsinniger, langweiliger Schreibarbeit. Mein Chef gab mir eine Chance superleicht ohne Schwitzen schweinisch viel Kohle zu verdienen. Ohne ihn müsste ich Säcke auf dem Bau schleppen, dreckige Klos putzen oder würde als Penner im tiefsten Elend verrecken. Er zeigte mir die bisherigen Befragungsergebnisse. Nicht, dass ich bei der Auswertung durch unerwartete und untypische Antworten negativ auffalle!
Es ging bei diesem Auftrag um einen amerikanischen Kriegsfilm. Auf den Fotos strahlten stramme Jungs von der amerikanischen Luftwaffe bei der Welteroberung. Blondinen strahlten die Uniformen der jungen Krieger an. Die Kraft und Schönheit der Kampfhubschrauber. Die eleganten Pirouetten, die die Helden mit ihren Maschinen zogen.
Mein Auftraggeber lächelte mich spöttisch an. Wer fällt schon auf die Werbung rein? Die Masse der schlichten Gemüter. Die Werbung ist nur ein Selbstbetrug der Konzerne. Man soll sich nicht von der Werbung verarschen lassen, sondern man soll selbst die Werbebranche verarschen. Er lächelte mich mit der Erwartung der Zustimmung an. Ich lächelte verlegen zurück. Ich konnte mit so entschiedenen Urteilen über den geistigen und seelischen Zustand der Massen noch nie etwas anfangen. Ich wollte einfach ohne Mühe Geld verdienen. Ich brauchte dringend das Geld. Ich bin korrupt. Ich mache den ganzen Tag über sinnlose Verrenkungen, strecke den ganzen Tag über die Zunge raus und schlenkere mit den Ohren und erhalte dafür eine Million.
Er sah in diesen kommerziellen Aufträgen eine Durststrecke bis zu den eigentlichen Aufträgen, bei denen es um die kritische Erforschung unserer Gesellschaft gehen wird. Ich nahm mein Paket. Mein Chef zog seine Augenbrauen zusammen und sprach mit von tiefer Überzeugung und Bekenntnis tief gewordener Stimme: „Die Wirtschaft produziert nichts, was irgendein ein wahres Bedürfnis befriedigt. Ihr Zweck ist es, Menschen zu manipulieren und künstliche Bedürfnisse zu erzeugen.“ Nach Beendigung des Satzes erhob er den beim Sprechen konzentriert auf ein vor ihm liegenden Fleck starrenden Blick auf mich und sein Gesicht löste sich in ein freundschaftliches, kumpelhaft zuzwinkerndes Lächeln auf. Ich packte meine Arbeit in Plastiktüten und verließ die Wohnung. Für die ersten Bögen suchte ich Leute und befragte sie. Ich musste die typischen Reaktionen auf die Fragen in Erfahrung bringen. Niemand interessierte sich für die Interviews und noch weniger für den beworbenen Film. Die mitmachten, machten es nur aus Gefälligkeit mir gegenüber oder aus mir demonstrativ gezeigter Langeweile. Sie erklärten, sie hielten Werbung für schwachsinnig, aber sie wollten mal sehen, für welchen Schwachsinn sie befragt werden sollen. Die Masse der Einfältigen, das ist der weitaus überwiegende Teil der Menschen, lässt sich von der Werbeindustrie an die Leine legen. Der dumme, strohblonde Hans mit roten Backen, strotzend vor ländlicher Gesundheit lässt sich geduldig und gehorsam an der kurzen Leine vorführen und macht unterwürfig auf Befehl Männchen. Die Herren führen ihn durch die Konsumparadiese und zwingen ihn zu verschlingen und zu schlucken, was die hohen Herren ihm vorsetzen. Er will nichts. Er kann nichts wollen, sondern macht ferngesteuert nur die Schnappbewegungen, die die hohen Herren von ihm verlangen.
Ich stand vor der Mensa der TU. Eine Studentin betrachtete die Bilder der Werbung. Sie blickte verächtlich auf den strohblonden, strohblöden Hans, der sich stolz mit seiner erstandenen BMW-Maschine produziert. In den Trailern für den Kriegsfilm zieht er voller Stolz und Freude, für sein Vaterland den Heldentod sterben zu dürfen, in den Krieg. Die hohen Herren müssen garnicht ziehen und zerren, sondern lenken ihn wie einen Kampfroboter. Ich befragte noch einige andere. Ich setzte mich dann auf eine Bank in den Grünanlagen am Steinplatz und wusste jetzt welche die immer wieder kehrenden Grundmuster der Meinungsäußerungen über diese Werbung waren. Es gibt nichts Oberflächlicheres und Faderes als Meinungen. Nach einigen ausgefüllten Bögen gingen mir die Ideen aus. Ich sprach wieder eine Studentin an. Ich befragte dann noch mehrere Leute auf der Straße. Auch die älteren Semester äußerten ihre tiefe Verachtung. Wer möchte schon als Einfaltspinsel gelten, dass er die Werbung gläubig wie das Wort Gottes aus dem Munde des Herrn Pfarrers einschlürft. Wer möchte so roh erscheinen, dass er sich an Kriegsfilmen aufgeilt? Ich hatte wieder genug neue Formulierungen und setzte mich wieder auf eine Bank.
Wenn ich meine Interviews ausgefüllt hatte, kam ich manchmal um drei Uhr nachts in sein Büro um sie abzuliefern. Mein Brötchengeber war Tag und Nacht wach. Er arbeitete wohl ohne Pause vierundzwanzig Stunden am Tag. Er erzählte mir, dass er sich fast ausschließlich von starkem Kaffee und von Zigaretten ernähre. Er hatte ein hehres, stolzes Ziel. Er wollte reich werden – steinreich. Er wollte hohes gesellschaftliches Ansehen. Zu den Allerersten gehören. Er rackerte sich in den allzu großen Fußstapfen Adornos ab. Er empfing mich um drei Uhr früh und ich hatte die Absicht nach dem Besuch bei ihm das Nachtleben unsicher zu machen. Er zeigte eine vergnügte Miene. Der Krampf gut drauf zu sein trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirne. Er sah krank und bleich aus. Es war Hochsommer und seine Haut hatte schon lange vergessen, was mal in längst verflossenen Zeiten eine Sonne war. Seine käsig graue Haut war voller roter Flecken und blau schimmernder Adern. Er aber war immer gut drauf. Er war ein junger Mann, der energiegeladen die Zukunft eroberte und keine Zeit zum Schlafen hatte. Er liebte die Taten, die die Welt revolutionieren. Die hehre Jugend, die für eine lichte Zukunft kämpft. Die Interviewer waren meistens Studenten, die durch ihren Kleidungsstil ihre Zugehörigkeit zur linken Gegenkultur ausdrückten. Mein Chef hasste Lethargie und Sümpfe. Er sah richtig alt aus. Er sah wohl schon mit Achtzehn nicht alt, aber schon recht reif aus – gänzlich ledig der körperlichen Reize der Jugend, ohne jedes Leuchten. Vielleicht hatte er schon in der Jugend Geheimratsecken. Er war schon immer ein Vernünftiger. Beim Nachkorrigieren meiner Bögen entdeckte er immer wieder Fehler und befand meine Texte meistens als zu knapp und mager. Ich musste dann meine Formulierungen weiter ausfeilen. Ich war ganz ungeduldig und wollte weiter ins Nachtleben.
Er fuhr einen Sportwagen. Feuerrot mit blitzend strahlender Stoßstange. Er fand den Kult um Statussymbole einfach nur lächerlich. Er verachtete aus tiefstem Herzen die alten Säcke, deren ganzer Stolz es ist, dass sie ökonomisch es zu etwas gebracht haben und mit Sportwägen junge Mädels ködern. Sie protzen mit PS und blitzend strahlender Karosserie. Er erzählte immer wieder mit spöttischem Grinsen von den Treffen bedeutender und bedeutendster Marketing-Experten aus USA, China, Frankreich – aus aller Welt. Sie kamen natürlich mit Ferraris und Porsches, damit es die Anderen auch sehen. Sie trugen goldene Rolex-Uhren mit Brillanten geschmückt und hoben ganz verkrampft ihre Handgelenke, um damit zu brillieren. Sie erzählten von ihren Apartments in Manhattan und Monte Carlo. Mein Chef lächelte und schwieg taktvoll. Eine Welt der Leere und des bloßen Scheines. Die hübsche Studentin stimmte zu – konnte dem nur zustimmen – und lächelte verträumt. Er lud das Mädel zu einer Spritztour mit seinem Sportwagen ein. Es war jetzt Sommer und das Dach war zurückgekurbelt. Die Sitze waren aus cremefarbenem Leder. Beim Einsteigen in den Wagen stieß sie spitze Freudenschreie aus. „Warum nicht?“ – schrie sie. Er nickte zustimmend und lächelte verschmitzt und mit sich zufrieden. Er ließ den Motor an mit dem Stolz eines Mannes, der zeigt, was er hat und was er kann. Während der ganzen Fahrt kam sie garnicht auf die Idee ihn nur mit einem flüchtigen Seitenblick wahrzunehmen. Ihre Augen schweiften selig lächelnd die Hausfassaden und sie strich immer wieder die im Wind flatternden, langen Haare zurück. Er zeigte einem schlichten, jungen Menschen aus einfachen Verhältnissen durch ein Schlüsselloch einen klitzekleinen Einblick in eine weitere Welt – in eine bessere Welt.
Er und seine Firma expandierten und expandierten. Sie verbreitete sich weiter. Er hatte schon vier Filialen hier in Berlin. Eine sogar am Ku’damm. Ich war einige Male in einer Zweigstelle, die in einem hässlichen Geschäftsgebäude – einem grauen, renovierten Kasten mit Resopalfenstern – untergebracht war. Unendlich viele menschenleere, nur mit Büromöbeln ausgestattete Zimmer. Nur in einem Zimmer saß die Sekretärin und empfing und vergab die Fragebögen. Ich verstand garnicht, wofür die anderen Zimmer verwendet werden sollten. Hier beginnt die ruhmreiche Zukunft eines Weltkonzernes. Es stank geradezu nach Bankrott. Die frisch gestrichenen Wände in den noch nicht und niemals genutzten Räumen hallten „Es geht zu Ende“.
Der Chef ernannte einen Vizechef zur Mitregentschaft des neu entstandenen Firmenimperiums. An die äußere Erscheinung des Stellvertreters erinnere ich mich nicht mehr so genau. Ein schlanker Mann um die Vierzig mit gewelltem, längerem Haar. Er trat recht dünkelhaft auf. Er versuchte hohe Kompetenz für komplexeste wirtschaftliche Zusammenhänge darzustellen. Seine betont maßvolle Eleganz. Er zeigte demonstrativ seine intellektuelle Überlegenheit über die Masse seiner Mitmenschen. Der Chef gab ihm die unbeschränkte Vollmacht in seinem Namen zu unterschreiben. Der Vizechef unterschrieb und unterschrieb mit Begeisterung im Namen des Chefs. Der Stellvertreter hatte jetzt die Mittel das aufwendige Leben eines Chefs zu führen zur Verfügung. Er unterschrieb und unterschrieb und erwarb für sich eine Eigentumswohnung und Edelmetalle und vor allem einen geilen Sportwagen. Der noch garnicht geborene Konzern sackte immer mehr zusammen und zerbröckelte. Die Kapitaldecke brach eines Tages ein und verschlang die bis jetzt hoffnungsvolle Zukunft des Betriebes. Betrügerischer Bankrott.
Der ehemalige, gestürzte Chef steht in einem fremden Treppenhaus und öffnet mit einem Dietrich das Schloss zu einer fremden Etagenwohnung. Er schlüpft in das Dunkel der aufgebrochenen Wohnung und nimmt die von ihm mitgebrachten Blechkanister mit in das Apartment seines ehemaligen Stellvertreters. Er schließt lautlos die Wohnungstüre hinter sich. Im halbdunklen Flur öffnet er die Kanister und schüttet den Inhalt sorgfältig über den Parkettfußboden, dann zündet er ein Streichholz an und lässt es fallen. Er erschrickt über das plötzlich auflodernde Feuer und die Geschwindigkeit, mit der es sich ausbreitet.

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