Die Vernissage

Von Johannes Morschl

An einem Freitagabend im Februar 2002 stand der junge Wiener Dichter Franz Gerstl vor der Galerie Mai in Berlin-Mitte. (1) Er zitterte vor Erregung. Nach fast zwei Jahren würde er Anna wiedersehen. Sie wusste jedoch nichts von seinem Kommen, er war unangekündigt gekommen. In den fast zwei Jahren hatte er an kaum etwas anderes denken können als an jene Nacht in Wien, in der Anna und er sich einer leidenschaftlichen Liebe hingegeben hatten, die eigentlich nicht sein durfte. Kurz danach ist Anna nach Berlin gezogen, da ihr diese Liebe als nicht lebbar erschien und sie eine Katastrophe befürchtete. Beim Abschied vereinbarten sie, einander so lange aus dem Weg zu gehen, bis das Feuer der Liebe in ihnen erloschen war und sie wieder wie Bruder und Schwester sein konnten. Nach Annas Abreise verwilderte Franz zusehends und trank zu oft und zu viel Alkohol. Seine Gedichte quollen über von Sehnsucht und Verzweiflung. Er schrieb, als befände er sich im freien Fall in einen bodenlosen Abgrund.

Nach etwa einem Jahr totaler Funkstille bekam er einen Brief von Anna, der aber sein Leiden noch verschlimmerte. Sie teilte ihm mit, in Berlin den Maler Friedrich Metzger kennengelernt zu haben, von dem er vielleicht schon gehört hatte, und seit Kurzem mit ihm zusammenzuleben. Franz schrieb ihr zurück, er könne nicht verstehen, dass sie sich auf einen Mann einlasse, der vom Alter her ihr Vater sein könnte. Er unterstellte Metzger, sie nur als Frischzellenkur für sich zu benutzen und ihr den Saft der Jugend auszusaugen. Danach schrieben sie sich regelmäßig Briefe. In ihrem letzten Brief hatte Anna eine bevorstehende Ausstellung von Metzger in einer Kunstgalerie namens Galerie Mai in Berlin-Mitte erwähnt. Metzger wollte dort Aktbilder ausstellen, für die sie Modell gestanden hat. Nun hielt es Franz nicht mehr länger aus ohne sie. Er musste sie unbedingt wiedersehen, auch wenn das gegen ihre Vereinbarung verstieß, denn unvermindert brannte in ihm das Feuer der Liebe zu ihr. Also fuhr er nach Berlin zur Vernissage von Metzger. Dort wollte er Anna mit seinem Besuch überraschen.

Die Galerie Mai war voll von Leuten. Im Mittelpunkt all der Leute standen der Maler Friedrich Metzger und die Galeristin Luise Mai. Diese begrüßte die Gäste und tauschte mit ihnen Höflichkeitsfloskeln aus: „Schön, dass Sie gekommen sind!“, „Danke! Wir haben uns schon sehr auf diese Ausstellung gefreut“, usw. Der über 60-jährige Friedrich Metzger war ein stämmiger Mann mit faltigem Gesicht, langem grauen Haar, übergroßen Füßen und schwieligen Händen wie von einem Bauarbeiter. Die kleine schlanke Luise Mai war etwa im selben Alter wie Metzger, verriet aber ihr genaues Alter nicht. Von ihrem Aussehen her konnte man sie gut und gerne für mindestens zehn Jahre jünger halten. Mit Metzger verband sie ein geradezu manisches Streben nach Ruhm und Erfolg, sowie eine Vorliebe für junge frische Körper. Sie hielt sich junge unbekannte Künstler als Lovers, die hofften, über den Weg durch ihr Bett auf dem Kunstmarkt groß rauszukommen.

An den Wänden der Galerie hingen großformatige Aktbilder mit Darstellungen von immer derselben jungen Frau in verschiedenen, geradezu gewagten Posen. „Das ist ja hervorragend gemalt“, hörte man es im Publikum raunen. „Diese fließenden Formen und leuchtenden Farben! Aber musste es unbedingt sein, die Vaginas derart in den Vordergrund zu rücken, dass sie einen direkt anblicken?“ Ein paar Männer, die kurzsichtig zu sein schienen, traten so nahe an die Bilder heran, dass man hätte denken können, ihre Nasen würden jeden Moment in den Vaginas auf den Bildern verschwinden. Einige Gäste trauten sich die Bilder nur kurz zu betrachten, da sie dachten, was würden die anderen über sie denken, wenn sie die Bilder zu lange betrachteten. Die Kunstenthusiasten unter den Gästen blieben länger vor den Bildern stehen und studierten deren Komposition und die Maltechnik des Künstlers, was ihnen aber nur zum Teil gelang, denn je länger sie die Bilder studierten, desto leibhaftiger trat die nackte junge Frau aus den Bildern hervor und verwirrte ihr Urteilsvermögen. In ihren Gesprächen überspielten sie dann diese Verwirrung. „Kühne, sehr freizügige Kompositionen! Wie von Aktbildern Modiglianis!“ „Aber nein! Das kann man doch überhaupt nicht mit Modigliani vergleichen! Modiglianis weibliche Akte sind lyrisch, verträumt, und nicht so fleischlich und aufdringlich wie diese Aktbilder von Metzger. Außerdem sind Modiglianis Aktbilder sehr flächenhaft und nicht von so einer pastosen, expressiven Malweise, die viel mehr an den späten Lovis Corinth erinnert.“ „Also bitte sehr! Der späte Corinth hat doch nur deshalb so gemalt, weil er einen Schlaganfall hatte, oder waren es sogar zwei?“ „Na hören Sie mal! Das haben die Nazis behauptet, um eine Begründung zu haben, sein Spätwerk als krankhaft und somit als entartet einzustufen. Die früheren, realistisch gemalten Bilder von Corinth waren ihnen noch durchaus genehm.“ Und so weiter.

In einem Nebenraum der Galerie, der als Büro und Teeküche diente, unterhielt sich Anna mit Uwe, einem mageren langen jungen Maler mit Vollbart und wuscheligem Haar, der große weiße Quadrate auf aschgrau grundierte Leinwände malte. Er war der aktuelle Geliebte von Luise Mai. Uwe zu Anna: „Wie hältst du es bloß mit diesem Metzger aus, der nicht nur von seinem Aussehen, sondern auch von seinen Bildern her seinem Namen alle Ehre macht?“ Anna: „Dasselbe könnte ich dich bezüglich Luise, dieser lüsternen alten Vettel fragen.“ Uwe ging darauf nicht ein und sagte: „Du siehst in letzter Zeit so traurig aus.“ Anna: „Ach, das hat nichts mit Metzger zu tun. Er ist viel sensibler, als du denkst.“ Uwe: „Aber du musst dich von ihm vögeln lassen.“ Anna: „Das geht dich nichts an, was zwischen uns läuft. Ich mag ihn. Er lebt nur für seine Kunst und braucht dafür eine junge Muse, die ihn inspiriert und die er dann über alles verehrt. Diese bin derzeit ich, und bis jetzt gefällt mir diese Rolle.“ Kurzes Schweigen. Uwe: „Warum bist du dann traurig?“ Anna: „Mir fehlt ein sehr vertrauter Freund aus Wien. Ich mache mir große Sorgen um ihn. Er schreibt mir so depressive Briefe. Ich habe Angst, er könnte sich was antun.“ Uwe: „Dann lade ihn doch nach Berlin ein und muntere ihn auf.“ Anna: „Nein, das geht nicht.“ Uwe: „Wegen Metzger?“ Anna: „Nein, nicht wegen Metzger. Ich möchte nicht darüber reden. Reden wir lieber über dich und Luise. Was verlangt denn sie von dir im Bett?“ Uwe wich aus: „Ich denke dabei an meine weißen Quadrate und wie sie eines Tages in der Kunstwelt begehrt sein werden.“ Anna: „Aha, du denkst dir Luise dabei weg. Du übermalst sie im Geiste mit einem weißen Quadrat, während sie auf dir reitet.“ Uwe: „Na, du hast ja eine blühende Fantasie! Die auf mir reiten? Wie soll das gehen? Ich bekomme bei ihr kaum…“ Uwe stockte, denn Luise schaute herein. „Uwe, kommst du mal? Ich möchte dich einer Freundin vorstellen.“ Gehorsamst lief Uwe zu seinem Frauchen.

Anna nippte an ihrem Glas Sekt. Da hörte sie plötzlich Lärm aus dem Ausstellungsraum. Erschrocken schaute sie nach, was da los sei. „Da ist ja der Franz! Wie kommt der denn hierher?“, durchfuhr es sie, als sie Franz erblickte, der mitten im Raum Metzger gegenüberstand. Franz war kreidebleich und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Die Gäste waren an die Wände zurückgewichen. Franz rief: „Diese schlüpfrigen Schmierereien sind eine Beleidigung der Kunst! Diese Schinken sind seelenlos! Es fehlt ihnen die innere Glut, der heilige Wahn echter Kunst!“ Wie sehr verachtete er diesen Metzger. Die Vorstellung, dass der seine Anna begrapschte, war ihm unerträglich. Nur Annas Augen, die von den Leinwänden blickten, hielten ihn davon ab, gegen Metzger handgreiflich zu werden. Er provozierte jedoch weiter: „Du alter Lustmolch! Du krallst dich umsonst an jungen Weibern fest! Deinem nahenden Tod kannst du nicht entrinnen! Schon sehe ich seinen Schädel durch die Farbschichten deiner Wichsvorlagen grinsen!“ Metzger, der normalerweise bei Streits stets die Ruhe bewahrte, verlor diesmal die Beherrschung. Er dachte: „Der Junge braucht eine Tracht Prügel, damit er lernt, wie man sich zu benehmen hat!“ Er forderte Franz auf: „Komm, lass uns auf die Straße rausgehen und das von Mann zu Mann klären!“ Er war zwar nicht mehr der Jüngste, war sich aber sicher, mit diesem durchgeknallten Hänfling noch locker fertig zu werden. Da ging Anna dazwischen: „Franz, beruhige dich bitte!“ Franz, der sie erst jetzt erblickte, starrte sie wie verzaubert an und vergaß Metzger. „Anna“, stöhnte er auf, „was machen die hier mit dir? Die stellen dich wie Frischfleisch in einem Metzgerladen aus! Diese blasierten Idioten geilen sich an deiner Nacktheit auf!“ Anna war erschüttert. Sie dachte, wie schön er ist, selbst in seiner Wut, und spürte, wie nahe sie sich ihm noch immer fühlte. Sie umarmte ihn und drückte ihn an sich. Er klammerte sich wie ein Ertrinkender an ihr fest und begann zu weinen.

Metzger begriff langsam die Situation: „Das muss ihr versoffener Bruder aus Wien sein, um den sie sich immer Sorgen gemacht hat. Der Junge ist ein Psychopath!“ Er überlegte, Anna zuliebe diesem jungen Irren ein Friedensangebot zu machen. Doch angesichts der Umarmung der beiden hielt er es für sinnvoller, erst einmal abzuwarten, was weiter geschehen würde. Instinktiv spürte er, dass zwischen den beiden etwas lief, das nicht ganz koscher war. Er bekam so ein seltsames Gefühl, Anna in diesem Augenblick für immer zu verlieren, und wurde unsicher, was ihm garnicht gefiel.

Luise wollte zuerst die Polizei rufen, da sie eine Prügelei in der Galerie befürchtete. Doch nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, erkannte sie in dem rabiaten Auftritt des jungen Kerls ein publicityträchtiges Ereignis, welches die Ausstellung als skandalumwittert erscheinen ließ. Schon überlegte sie, wie man dies am besten vermarkten könnte. Sie sprach einen anwesenden Journalisten von einer Berliner Tageszeitung an. Der hatte sich bereits einen Titel für seinen Bericht auf der Kulturseite ausgedacht: „Eklat bei der Vernissage von Friedrich Metzger – Die Straße bricht in den Raum der Kunst ein.“ Das war Luise zu nichtssagend. Vielleicht könnte man stattdessen schreiben: „Der heulende Untergang des Mannes inmitten nackter Frauen.“ Nein, das wäre 70er-Jahre, längst passé. Sie beschloss, Uwe zu fragen. Wozu hielt sie ihn schließlich aus? Vielleicht fiel ihm unerwarteter Weise ein knalliger Titel ein. Doch als Uwe allen Ernstes „Das letzte Röcheln des Realismus vor dem Triumphzug der weißen Quadrate“ als Titel vorschlug, griff sie sich auf den Kopf und sagte: „Sag, tickst du noch ganz richtig? Was haben deine weißen Quadrate damit zu tun? Und was sollte das außerdem für ein Triumphzug werden? Ein Schnarchen würde über die Welt kommen.“ Uwe war schwer beleidigt und schmollte. Schließlich gab Luise es auf, weiter über einen Titel für einen Zeitungsbericht nachzudenken. Schon meldeten sich die ersten Kaufinteressenten für Metzgers Bilder bei ihr.

Unterdessen gingen Anna und Franz in den Berliner Abend hinaus. Bald fanden sie eine gemütliche Bar mit gedämpfter Beleuchtung. Sie setzten sich in die hinterste Ecke und küssten sich innig wie Verliebte. Gleichzeitig spürten sie die Tragik ihrer Liebe, die gegen das uralte Inzesttabu einer sexuellen Geschwisterliebe verstieß.

Metzger ging vor die Tür der Galerie, um nach ihnen Ausschau zu halten. Er wartete eine ganze Weile und rauchte eine Zigarette nach der anderen, doch die beiden blieben verschwunden. Als er wieder die Galerie betrat, kam Luise mit strahlendem Gesicht auf ihn zu. „Friedrich, wir haben ein Bombengeschäft gemacht! Alle Bilder sind verkauft! Sag, hast du die geniale Idee gehabt, diesen jungen Irren auftreten zu lassen? Der hätte sich direkt eine Provision verdient.“ Mürrisch verneinte Metzger. Luise ging ihm auf einmal tierisch auf die Nerven. Er wusste, dass er seine Muse Anna für immer verloren hatte.

(1) Die Galerie Mai ist vom Autor erfunden.

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