Undeutsch

Von Achim Koch

Berlin
Mitte

Es war ein regnerischer Tag im Mai, und ich dachte noch, bei dem Wetter würden sich nur wenige ins Zentrum wagen. Doch auch damit hatte ich mich geirrt. In der letzten Zeit hatte ich mich häufig geirrt. Oder mich irren wollen.
Wer kennt sich selbst schon wirklich gut, will sich wirklich gut kennen. Gerade in dieser Zeit will man oft nicht alles zu Ende denken, obwohl man zumindest ahnt, dass man es sollte. Gerade in dieser Zeit benutzt man auch gern das Indefinitpronomen man. Indefinit fühlt man sich geschützter, unbeschriebener, anonymer. Ich habe das Gefühl, jetzt beginnt die Zeit des Indefinit für mich und viele andere. Wie indefinit müssen wir werden, und wird es uns schützen? Denn ich bin kein mutiger Mensch. Eigentlich bin ich so unmutig wie fast alle anderen, so unmutig, dass ich nicht einmal das Wort feige für mich denke oder gar ausspreche.
Aber heute ist es anders. Heute geht es um etwas. Heute will ich es wissen. Ich werde in die Stadtmitte fahren. Trotz des Regens. Und es ist fast schon absehbar, was wohl geschehen wird. Zunächst gab es nur Gerüchte. Dann kurze Berichte aus anderen Orten. Informationen hinter vorgehaltener Hand. Schwarze Listen. Schließlich wurde es genauer: Spätnachmittags auf dem Opernplatz.
Ich kämpfte mich durch den Regen. Allein und mit gesenktem Kopf. Dann wurde ich von anderen überholt. Irgendwann wurden wir immer mehr. Man lief nicht mehr im eigenen Tempo, sondern in dem aller anderen. Schließlich dicht an dicht. Manchmal angerempelt. Ohne miteinander zu sprechen, aber mit einem gemeinsamen Ziel.
Bei dem Regen wurde es an diesem Abend schon früh dämmrig. Als wir den Platz erreichten, waren dort schon viele tausend Menschen zusammengekommen. Unter ihnen Studenten, immer wieder Uniformierte, aber auch Ältere und Familien mit Kindern, Menschen, die in kleinen Gruppen zusammenstanden, sich fröhlich begrüßten und laut miteinander scherzten.
Plötzlich wurden Scheinwerfer eingeschaltet, die den gesamten Platz grell ausleuchteten. An den alten Fassaden hellten große Screens auf, die dort angebracht worden waren und auf denen das Geschehen übertragen wurde. Wir sahen auf den Bildschirmen, dass junge Leute, Studenten, viele von ihnen in Uniform mit Mützen und Kinnriemen, in der Mitte des Platzes Holz aufstapelten. Durch Lautsprecher, die um den Platz aufgestellt worden waren, erklangen Testsignale. Auch eine Tribüne mit Mikrofonen und der Fahne erkannte ich. Immer mehr Menschen drängten sich auf den Platz. Ich drückte mich an ihnen vorbei, immer auf der Suche nach einem mir bekannten Gesicht. Doch ich fand niemanden und entschied mich für einen ruhigen einen Platz am Eingang zur Alten Bibliothek.
Plötzlich hörte ich ein lautes Raunen. Menschen vor mir streckten ihre Köpfe, sahen zur Universität hinüber, zeigten dorthin. Einige begannen sogar zu klatschen. Ein LKW fuhr von der Allee herein. Die Menge bewegte sich in diese Richtung, wurde aber durch Ordner und Polizisten zurückgedrängt. Dann hörten wir Gesang. Ein Zug marschierte mit Fackeln auf den Platz, viele in schwarzen und braunen Uniformen, auch Jugendliche, andere im Wichs der Studentenverbindungen, doch auch Professoren in ihren wehenden Talaren.
Viele auf dem Platz begannen wieder zu klatschten, einige sangen mit. Es waren jetzt Zehntausende. Sie wurden immer ausgelassener. Fahnen wehten. Auf einem langen Stab wurde der Kopf der Büste von Magnus Hirschfeld herumgetragen, als habe man seinen wirklichen Kopf abgeschlagen und aufgespießt.
Eine heitere Feststimmung kam auf. Ein fremder Mann in einer teuren Lodenjacke knuffte mir an die Seite und sah mich aufmunternd an. Ich hatte mich wohl zu sehr zurückgehalten. Er riss seinen Arm hoch, blickte immer noch auffordernd zu mir. Langsam zog ich mich zur Seite zurück. Noch einmal drehte er sich zu mir um und schüttelte den Kopf. Plötzlich stand ich in einer kleinen Gruppe braun uniformierter Kinder, die kleine Papierfahnen in der Hand trugen und damit über ihren Köpfen schwangen. Die Eltern fotografierten sie mit dem Handy. Danach blickten sie noch einmal stolz auf die Kinder und dann wieder weit über den Platz.
Einige Studenten versuchten den Holzstapel auf dem Platz mit Zeitungspapier und Ästen anzuzünden, doch durch den Regen war alles zu nass geworden. Lautes, aufmunterndes Rufen aus der Menge, Scherze, lautes Gelächter. Dann erschienen Feuerwehrmänner mit Kanistern und gossen Benzin über das Holz. Ein Streichholz wurde entflammt. Eine hohe Flamme und lautes Geschrei aus tausenden und abertausenden Kehlen. Beifall. Gesang. Ich versuchte mich weiter an die Seite zur Allee zu stellen. Einige Männer in meiner Nähe ließen Flaschen mit Wodka von Hand zu Hand wandern. Jeder nahm einen Schluck. Auch die Frauen. Als eine Flasche auch mich erreichte, gab ich sie stumm weiter. Verhohlener Protest der Umstehenden. Aber auch spöttisches Gekicher. Dann plötzlich wieder lautes Gebrüll. Ich stieg auf ein niedriges Geländer, um den Platz besser übersehen zu können und gleichzeitig die Screens im Auge zu behalten. Dort erschienen die Aufnahmen einer Drohne, die wohl weit über uns schwebte.
Studenten hatten die Ladeklappe des LKWs geöffnet, sprangen hinauf, griffen etwas und reichten es den anderen auf dem Platz. Sofort bildete sich eine Kette von vielleicht dreißig Studenten. Die Ladung ging jetzt von Hand zu Hand, bis der Transport stockte. Nichts geschah. Die Menschenmenge verstummte eine, vielleicht zwei Minuten lang.
Dann jedoch hörten wir eine helle Stimme über dem Opernplatz: Gegen Klassenkampf und Materialismus! Für Volksgemeinschaft und idealistische Lebensgestaltung!
Was sollte eine idealistische Lebensgestaltung sein, schoss es mir durch den Kopf. Waren damit erträumte Lebensziele gemeint? Ziele wie Gerechtigkeit und Freiheit? Frieden? Was verstanden sie darunter?
Wieder ertönte die Stimme und gab sofort eine Erklärung: Für Zucht und Sitte in Familie und Staat.
Und dann: Ich übergebe der Flamme die Schriften von Marx und Kautsky.
Der letzte Student in der langen Kette warf jetzt Bücher auf den Scheiterhaufen. Rotglühende Funken stoben auf. Schreie in der Menge. Applaus. Arme wurden hochgerissen. Neue Gesänge klangen an. Wieder wurden Fahnen geschwungen. Viele Kinder jetzt auf den Schultern ihrer Eltern. Überall blitzten Handys auf.
Dann: Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Gläser und Erich Kästner.
Laute Buh-Rufe. In hohem Bogen flogen die Bücher ins Feuer: Der Untertan, Professor Unrat, Jahrgang 1902. All diese Romane hatten Zucht und Sitte in Familie und Staat thematisiert und in Frage gestellt.
Emil und die Detektive? Pünktchen und Anton? Was hatten sie damit zu tun?
Undeutsch!, rief jemand aus der Menge.
Undeutsch!, riefen Tausende.
Was war undeutsch? Wer war undeutsch? Autoren mit einstmals jüdischer Herkunft? Warum sollten bedeutende deutsche Schriftsteller undeutsch sein? Wer entschied das überhaupt? Warum überhaupt Erich Kästner?
Es brannten die Bücher von
Friedrich Wilhelm Förster,
Sigmund Freud,
Emil Ludwig,
Werner Hegemann,
Theodor Wolff,
Georg Bernhard,
Erich Maria Remarque,
Alfred Kerr.
Und schließlich rief jemand: Gegen Frechheit und Anmaßung, für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist! Verschlinge, Flamme, auch die Schriften der Tucholsky und Ossietzky!
Vernunft, Pazifismus und Völkerverständigung, all diese idealistischen Lebensziele waren jetzt undeutsch, entsprachen nicht mehr einem deutschen Volksgeist, einem Geist der Unvernunft, der Gewalt und Überheblichkeit. Ein großer Anteil der deutschen Geistesgeschichte wurde vor meinen Augen verbrannt. Lebenserhaltende Ideale wurden symbolisch zerstört. Jeder hier musste doch verstehen, dass daraus eine unübersehbare Katastrophe folgen würde. Doch alle auf diesem Platz schienen dem zuzustimmen. Und vielleicht nicht nur sie.
Ich spürte, dass mir Tränen herabrollten. Verstohlen wischte ich sie mir ab. Wessen Bücher würden noch verbrannt werden? Wer würde noch alles zu einem undeutschen Schriftsteller erklärt werden?
August Bebel, Bert Brecht, Alfred Döblin, Kurt Eisner, Lion Feuchtwanger, Karl Grünberg, Walter Hasenclever, Heinrich Heine, Egon Erwin Kisch?
Aber auch Ferdinand Lassalle, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Klaus Mann, Thomas Mann, Franz Mehring, Ludwig Renn, Joachim Ringelnatz, Joseph Roth, Nelly Sachs, Artur Schnitzler, Anna Seghers. Und dann ganz bestimmt Bertha von Suttner, Ernst Toller, Frank Wedekind, Franz Werfel, Arnold Zweig, Stefan Zweig, Karl Zuckmayer und viele, viele andere. Zerstörerische Asphaltliteratur. Frech und anmaßend.
Aber mich erwähnte niemand.
Langsam stieg ich von dem Geländer herunter.
Natürlich konnte ich mich nicht mit all den anderen vergleichen. Nicht im Geringsten.
Vorsichtig bahnte ich mir einen Weg durch die Menge.
Ich war ein unbekannter randständiger Autor. Viele der andern hatten Werke geschrieben, deren Titel fast jeder schon gehört hatte: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Berlin Alexanderplatz, Jud Süß, Brennende Ruhr, Der Zauberberg, Aufstand der Fischer von St. Barbara, Frühlings Erwachen, Der Hauptmann von Köpenick.
Aber kaum jemand kannte meine Titel. Doch durfte man mich trotzdem so ohne weiteres übergehen? So, als wäre ich nicht auch undeutsch?
Ich drängelte mich weiter durch die Menge, bis ich fast schon vor der heißen Brandstelle stand. Immer noch warfen Studenten Bücher hinein. Jetzt konnte ich sie genauer ansehen. Ihre Gesichter glühten rot. Die vielen Brillen reflektierten das Feuer. Ausschließlich sehr junge, schwitzende Männer, die sich gegenseitig mit sich überschlagenden Stimmen anstachelten. Was wussten diese Verblendeten schon von dem oft mühsamen und Kräfte zehrenden Ringen der Autoren um Wahrhaftigkeit, aber auch um Stilgenauigkeit, um das treffende Wort, das treffende deutsche Wort. Wer von denen hatte wirklich Lassalle gelesen, Max Adler, Heinrich Heine, Joachim Ringelnatz? Wenn sie einmal davon gelesen haben sollten, dann hatten sie nichts verstanden.
Warum werden meine Bücher nicht verbrannt, rief ich ihnen wütend entgegen.
Nur wenige beachteten mich. Sie waren zu beschäftigt. Ich trat noch näher ans Feuer, so nahe, dass die Hitze schon im Gesicht schmerzte.
Ich schrie noch lauter: Auch meine Bücher müssen verbrannt werden!
Jetzt wurde einige auf mich aufmerksam. Ein, zwei unterbrachen ihre wichtige Aufgabe und sahen zu mir herüber
Hey, was haben wir? Und wer bist du denn überhaupt, du Komiker?
Sofort arbeiteten sie weiter.
Ich bin auch ein Autor.
Endlich unterbrach einer von ihnen seine unheilvolle Beschäftigung und stellte sich mir dicht gegenüber. Einen Kopf größer als ich. Hoch rasiertes Haar. Dünner blonder Flaum über der Lippe. Er war vielleicht zwanzig und hätte mein Sohn sein können. Er herrschte mich mit hoher Stimme an: Was bist du? Jude?
Nein. Aber ich habe auch Romane geschrieben, kurze Geschichten, Lieder, Gedichte … wie die anderen.
Dann gebe ich dir einen guten Rat, sagte er mit leiserer Stimme. Das hier ist kein Spaß. Es wird gerade im Fernsehen übertragen. Millionen Deutsche können es sehen. Viel mehr können es im Internet finden. Und nachher kommt noch der Minister. Also verdrück dich schleunigst, du Pfeife.
Er rückte seine Schirmmütze zurecht, schob eine Hand unter seine Koppel und stolzierte zurück zu seinen Kommilitonen, sprach kurz mit ihnen, zeigte dabei auf mich, ergriff neue Bücher und warf sie ins Feuer. Kurz zögerte ich, dann folgte ich ihm.
Entschuldigen Sie nochmals, begann ich ein neues Gespräch.
Nun stellten sich einige seiner Kameraden dazu.
Ich habe einen Roman geschrieben über die Entstehung des Nationalismus und die dann folgenden grausamen Auswirkungen,
Was will der Arsch?, fragte ein schmächtiger Student einen anderen.
Und ich habe einen Roman geschrieben über ein neues und ganz anderes Gesellschaftskonzept, erklärte ich ihm. Einen anderen darüber, dass man Menschen aus anderen Ländern bei uns aufnehmen sollte.
Jetzt traten Männer der Sturmabteilung hinzu und fragten, ob es Probleme gäbe. Und genau in diesem Moment konnte ich uns auch rundherum auf den Screens sehen.
Ich habe Lieder geschrieben gegen den Rassismus und ein Gedicht gegen das Wort Heimat, fuhr ich fort.
Was will der Kerl?, fragte ein dicklicher SA-Mann einen der Studenten. Doch er gab keine Antwort, sondern schaute betreten auf den Boden.
Ich habe undeutsche Literatur geschrieben, versuchte ich ihm eine Antwort zu geben.
In nem Verlag rausgekomm‘?, fragte er
Ich nickte: Ja, aber kein großer Verlag.
Irgendwas dabei?
Ich schüttelte den Kopf.
Immer mehr Studenten sammelten sich um uns. Die Arbeit stockte. In der Menschenmenge war ein überraschendes Schweigen eingetreten.
Dann finden wir das. Wir filzen die Buchhandlungen, Leihbüchereien und Bibliotheken. Und dann auch all die privaten Bücherregale.
Jetzt wurde er lauter, sprach mehr zu den Studenten und zu den Menschen auf dem Platz als zu mir.
Von allem, was gegen den deutschen Volksgeist verstößt, wird nichts mehr übrigbleiben. Wer den Geist verrät, verrät das Volk.
Dann zu mir: Und nun hauen Sie ab.
Das reichte mir nicht.
Aber auch meine Schriften müssen hier verbrannt werden, rief ich nun viel lauter als zuvor. Hier und heute. Nicht irgendwann. Nicht irgendwo heimlich. Ich möchte, dass es mit all dem hier zusammen verbrannt wird.
Sie sollen verschwinden, brüllte der SA-Mann mich nun an und hakte seinen Sturmriemen los.
Ich bewegte mich nicht. Auf dem Platz war es still. Doch plötzlich wurde die Menge um uns herum unruhig. Einige riefen etwas Unverständliches. Einige begannen zu pfeifen.
Sie haben Platzverweis, hörte ich den Mann von der SA.
Immer noch sah ich uns auf den Screens, doch ich rührte mich nicht. Einige Corpsstudenten näherten sich, ihre lächerlichen kleinen Mützen mit den kurzen Schirmen keck zur Seite geschoben. Einer begann mich zu schubsen, doch ich konnte mich auf den Beinen halten. Plötzlich holte der SA-Mann weit mit dem Sturmriemen aus. Die Studenten sprangen zu Seite. Das Leder traf mich auf der linken Wange. Doch bevor ich noch das Brennen dort spürte, erhob sich auf dem Platz ein jauchzendes Gebrüll.
Schlagt den Juden tot, schrie eine Frau und sofort erhob sich lautes Schreien von allen Seiten.
Blut lief mir am Hals hinunter. Fünf, sechs Studenten packten mich und trugen mich auf die Allee hinaus, schlugen mich, bis ich auf den nassen Boden stürzte, traten noch mehrfach zu und kehrten dann feixend zu ihrer Arbeit zurück, denn der Minister war angekommen. Von weitem hörte ich noch seine unangenehme Stimme: Der deutsche Mensch wird nicht ein Mensch des Buches, sondern ein Mensch des Charakters sein.

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© 2023 Achim Koch
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UNDEUTSCH ist im Rahmen eines Zyklus von 66 Geschichten aus elf deutschen Großstädten entstanden.

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